Wo komme/stamme ich denn nun her?

Hallo allemiteinander.
Ich bin jetzt 17 Jahre alt und, so schlimm es auch klingt, ich kann nicht 100prozentig sagen ob ich nun deutsche, russin, kassachin, Ukrainin oder eine Mischung bin. Meine Eltern sagen mir immer ich wäre normale Deutsche. Ich fang einfach mal an zu erzählen:

Mein Opa zog im Krieg aus Krim (Ukraine) als Sohn eines deutschen Arbeiters als Kriegsflüchtling nach Taldy-Kurgan (heutiges Kazachstan) dort lernte er meine Oma kennen & sie verliebten sich, heirateten, bekamen 3 Kinder. Damals war gehörte es bekanntlich alles zur UDSSR (Sowjetunion), im Jahre 1992/3 ging es denen dort nicht gut, so dass alle beschlossen nach Deutschland auszuwandern. 1994 kam ich in Deutschland zur Welt. Mein Bruder wurde 1989 in Taldy-Kurgan geboren. Meine Mutter sagt, unsere Vorfahren (Ihr Opa, oder Uropa, ich weiß nicht mehr genau) wären aus Deutschland als ‚Arbeiter‘ ausgewandert, das müsste zur Zeit von Zarin Katharina gewesen sein. 1991 wurde die UDSSR aufgelöst, somit lebten meine Eltern zum Schluss in Kazachstan. Jetzt wohnen wir seit 1993 hier, haben alle einen deutschen Pass & ich selbst sehe Deutsch als meine Muttersprache, weil meine Eltern versucht haben nur deutsch mit mir zu reden. Meine Eltern jedoch reden wie viele anderen Immigranten zwar gut Deutsch, man merkt ihnen aber ihre russische Abstammung sehr an. Mein Opa & meine Oma können wirklich sehr gut deutsch, man merkt es nur noch am Akzent dass sie ausgewandert sind. Somit erübrigt sich für mich folgende Frage: Was bin ich denn jetzt? Deutsche? Russin? Halbrussin? Und wo komme ich her? Taldy-Kurgan oder dem kleinen, deutschen Engelskirchen, meinem Geburtsort?

Wir besitzen alle recht deutsche Namen, meine Mama heisst Helene, Meine Großeltern heißen Andreas, Adolf, Emma & Frieda. Nachnamen sind auch mit ‚Franz‘ und ‚Schönfisch‘ sehr deutsch, teils sogar ‚Dubs‘ welches auch nicht russisch klingt. Wir wissen aufjedenfall dass wir von Deutschland oder der Schweiz nach Russland ausgewandert sind & dass wir dort in Kazachstan gelebt haben. Dann sind wir zurückgekommen & besitzen alle DEUTSCHE Pässe & ich wurde HIER geboren (Kurze Wiederholung :wink:)
Und nun wüsste ich gerne als was ich mich bezeichnen kann. Ich möchte auch endlich sagen können ich komme aus ‚XX‘. Meine Eltern haben mir jede 4 Jahre was anderes aufgetischt.

Ich bedanke mich jetzt schonmal für eure Antworten, ihr würdet mir wirklich eine Frage die mir sehr sehr wichtig ist, beantworten.

Hallo Kristina,

die Frage nach seiner Identität hat sich sicher schon jeder einmal (meist aber mehrfach) gestellt. Sie ist auch nicht einfach zu beantworten, da wir je nach Situation in unterschiedliche Rollen schlüpfen. Das geschieht häufig unbemerkt, manchmal aber auch sehr bewußt. Die Herkunft ist dabei nur eines der Merkmale die Identität ausmachen.

Um das mit den Rollen ein bißchen anschaulich zu machen: als 17jährige Frau schlüpfst Du zuhause sicherlich häufig noch in die Rolle des „Kindes Deiner Eltern“, wenn Du in die Schule gehst bist Du „Schülerin“, am Nachmittag mit Freunden dann vielleicht die „coole Frau“ mit der alle abhängen wollen.

Diese Rollen kann man sich manchmal aussuchen, viel häufiger werden sie einem von Anderen aber auch aufgedrückt, quasi als Etikett. Der Staat, z.B. weist Dir in der Situation von 8 bis 13 Uhr wochentags die Rolle der „Schülerin“ zu, wenn Du ein bestimmtes Alter hast. Wenn Du ins Ausland reisen möchtest, dann weist Dir der Staat aber auch die Rolle oder Identität als „Deutsche“ zu: wenn Deine Eltern einen deutschen Pass haben, dann gibt Dir der Staat auch einen deutschen Pass. Und wenn Du einen deutschen Pass hast, hast Du die deutsche Staatsangehörigkeit und der Staat sagt dann verkürzt: „Du bist Deutsche“.

Vielleicht hast Du aber auch eine starke Bindung an Deinen Heimatort. Wenn Du Dich mit Freunden aus Lindlar, Overrath oder Wiehl triffst, sagst Du vielleicht in einer Diskussion, wer den schönsten Ortskern hat: „Ich bin Engelskirchnerin“. Dass der Staat Dich gleichzeitig als Deutsche betrachtet schließt sich dabei nicht aus. Aber in der Situation ist es eben wichtiger zu sagen, dass Du Engelskirchnerin bist als Deutsche oder als dass Du eigentlich Schülerin bist. In diesem Sinne schließt es sich auch nicht aus, wenn Du sagen würdest, dass Du Russin und Deutsche zugleich bist: wenn Du über die Bräuche sprichst, die Ihr zuhause vielleicht praktiziert oder wenn es ums Essen geht, dann könnte es sein, dass Du Dich „russisch fühlst“, obwohl Du doch einen deutschen Pass hast.

Nun werden Identitätsmerkmale, egal ob geographische Herkunft, Staatsangehörigkeit, Status, Einkommen, Geschlecht, und viele andere mehr, häufig dazu verwendet sich abzugrenzen. Eigentlich ist es sogar so, dass man häufig nur herausfinden kann wer man ist (also seine Identität), indem man herausfindet, wer man nicht ist.

Das nutzen wiederum viele Menschen um sich in Gruppen abzugrenzen. Und hier wird häufig die Herkunft (die Wissenschaftler sagen Ethnizität) benutzt, um sich abzugrenzen. Das kann von der Gruppe selbst ausgehen, um gemeinsame Interessen zu verfolgen oder durchzusetzen. Das kann aber auch von anderen ausgehen.

Ein Beispiel für Selbstabgrenzung könnte eine „russische Jugendgruppe“ in einem Ort sein; nehmen wir an, alle Mitglieder der Gruppe haben die deutsche Staatsangehörigkeit, aber ihre Eltern sind jeweils in Russland oder der Türkei geboren. Weil die Jugendlichen mit russischen Eltern seit jeher in einem Viertel groß geworden sind und viel miteinander unternommen haben, und die anderen Jugendlichen aus irgendeinem Grund sie nicht in ihre Gruppen mit aufgenommen hatten, haben diese Jugendlichen für sich entschieden, selbst als Gruppe aufzutreten, als „russische Jugendgruppe“. Das gibt inneren Zusammenhalt und man kann seine Interessen nach außen vertreten. Natürlich hätten sich auch alle Mädchen eines Ortes ohne auf die Herkunft zu schauen, als „Mädchengruppe“ zusammenschließen können. Aber Herkunft ist für viele Menschen ein starkes Identitätsmerkmal, weil man daran so vieles dranhängen kann: Sprache oder Akzent, Bräuche, Symbole, Essen- oder Lebensgewohnheiten, etc. Daher kommt es, dass viele Menschen dieses Merkmal nutzen, um sich abzugrenzen bzw. zu bestimmen, wer sie eigentlich sind.

Ein Beispiel für die Fremdabgrenzung ist etwas, was Du vermutlich bereits häufig erfahren hast in Bezug auf Deine Eltern. Die Tatsache nämlich, dass viele Menschen in Deutschland Deine Eltern zu allererst als „Russlanddeutsche“ betrachten - und auch behandeln, und nicht als „Arbeiter“, „Nachbarin“, „Busbenutzer“ oder „Einkäuferin im Supermarkt“. In diesen Fällen fühlt man sich dann ausgegrenzt, da einem die Identität von anderen sozusagen aufgedrängt wird, häufig in Situationen, die nichts mit Herkunft oder Staatsangehörigkeit zu tun haben. Wieso z.B. sollte es eine Rolle beim Busfahren spielen, dass Du oder Deine Eltern aus Russland kommen?

Das wiederum führt uns zu dem Punkt den ich oben bereits angesprochen habe: meistens findet man nur heraus, wer man ist, wenn man sagt, wer man nicht ist. Viele Menschen versichern sich also, dass sie „Deutsche“ sind, indem sie sagen, wir sind keine „Russlanddeutschen“, „Türken“, etc. Das sind die anderen. Und da Herkunft so ein starkes Identitätsmerkmal ist, definieren sich viele dann auch über diese Herkunft.

Daher kommt vermutlich auch Deine Frage hier. Aber sei mal ehrlich: ist es nicht viel spannender sich zu überlegen, ob die anderen mich als „ehrlicher Mensch“, „coole Frau“, „erfolgreiche Sportlerin“ oder „begabte Töpferin“ wahrnehmen, denn als „Russin“, „Halbrussin“ oder „Deutsche“?

Ich hoffe, mein Text hier kann Dir ein bißchen helfen, die schwierigen Fragen zu Deinem Selbst- und Fremdbild, d.h. Deiner Identität, zu klären.

Alles Gute Dir!

Gruß,

Tim