'sein' als internationales starkes Verb

Guten Tag,

wie kommt es eigentlich, dass das Verb „sein“ in fast allen (mir bekannten) Sprachen in solch hohem Maße unregelmäßig konjugiert wird - sogar so weit, dass häufig der Wortstamm ein anderer ist?

dt: sein - bin
eng: to be - am
frz: être - suis
gr: είμαι - είμαστε (statt „είμουμε“)

Doch dies scheint nicht nur charakteristisch für indogermanische Sprachen zu sein:

ung: lenni - vagyok

Hi,

man kann den Bogen noch weiter spannen. In den meisten Sprachen, die ich bis jetzt kenne, sind die am häufigsten benutzten Verben unregelmäßig. Nicht nur sein, sondern auch haben, machen, gehen und die Modalverben wie können, müssen usw. Meine persönliche Theorie ist, dass die am häufigsten benutzten Wörter sich am schnellsten verändern, weil sie häufiger im Munde sind und deshalb auch in höherem Maße der maßgeblichen Triebkraft für Sprachentwicklung, nämlich Maulfaulheit (manche sagen auch Sprachökonomie dazu), ausgesetzt sind.

Gruß

Marco

Hm, das hört sich interessant an, Marco. Also im Spanischen ist das sogar noch interessanter: da gibt es zwei Verben für sein, ser und estar, und die sind beide unregelmäßig. Außerdem gibt es zwei Wörter für „haben“ eines ist allerdings funktionalisiert, wird also nur noch zur Bildung von einigen Vergangenheitsformen und ganz selten in der 3. Person in der Bedeutung „es gibt“. Das ist wahnsinnig unregelmäßig. Und das andere hat auch Ungregelmäßigkeiten.
Aber das Deutsche fällt dann irgendwie ein bisschen raus. Gut, sein ist unregelmäßig. Haben und gehen aber nicht, und im Englischen ist ja „to have“ regelmäßig.
Weiß eigentlich jemand, ob die Konjugation von sein aus mehreren Verbstämmen zusammengefallen ist?

Moin,

ja, das ist schon eine seltsame Sache dass gerade die am häufigsten benutzten Verben unregelmäßig sind, wie Marco F. schon sagte.

Meine private Theorie dazu:
Die Verbformen, die heute im Verbreitungsgebiet einer bestimmten Sprache als hochsprachlich korrekt betrachtet werden, sind aus regionalen Formen entstanden. Bei den häufigen Verben gab es nun ziemlich viele verschiedene regionale Formen, aus denen so eine Art „Patchwork-Flexion“ entstanden ist, weil sich die Formen aus den verschiedenen Regionen unterschiedlich stark durchgesetzt haben:
… 1. Person Präsens aus Region A
… 2 Person Präsens aus Region B
… Stamm der Vergangenheit aus Region C
… und so weiter

Ein konkretes Beispiel dazu für das Verb „haben“:
"für die 1. sing. praes. ind. galt ahd. hapêm, geschwächt habên, woneben sich aber auch mit abwerfung des personalsuffixes und übertritt in eine andere conjugationsclasse die formen habu, habo, habe bei TATIAN, WILLERAM und NOTKER finden. in andern quellen hat sich, seltener, habên unter verlust des labials zu hân zusammengezogen. diese form überwiegt im mhd., ohne dasz habe ungebräuchlich erschiene.
(…)
und es begegnen denkmäler die hân und habe abwechselnd brauchen, und zwar hân in dem falle, wenn das pronomen ich unmittelbar darauf folgt, habe ohne diesen fall
(…)
Nach mitteldeutschem brauche sagt LUTHER nur ich hab oder habe, und diese form verdrängt im 16. jahrh. nach und nach das landschaftliche han"
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbu…

Im Grimm dürfte man für alle unregelmäßigen Verben solch unterschiedliche Formen finden; mit „sein“ habe ich es auch ausprobiert.

Meine „Privattheorie“ gilt wahrscheinlich nicht nur für Verbformen, sondern auch für das totale Chaos bei der Pluralbildung im Deutschen.

Grüße
Pit

Moin Sarah,

sein ist unregelmäßig. Haben und gehen aber nicht

Da irrst Du.
Ich konjugiere „haben“ mal regelmäßig:

  • ich habe, du habst, er habt

die regelmäßigen Stämme für „gehen“:

  • ich gehe - ich gehte - ich bin gegeht

im Englischen ist ja „to have“ regelmäßig.

Probier’s mal aus :wink:)

Weiß eigentlich jemand, ob die Konjugation von sein aus
mehreren Verbstämmen zusammengefallen ist?

Lektüretipp für’s Wochenende:
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbu…

Grüße
Pit

1 Like

Hallo!

Dann legen wir doch noch einen drauf.

Im Russischen ist das Verb „sein“ sogar so unregelmäßig, daß es im Präsens nichtmal mehr existiert (mit Ausnahme der 3. Pers. sgl., die in manchen speziellen Fällen verwendet wird). Dafür ist die restliche Konjugation eher unspektakulär. Gilt das jetzt als regelmäßig oder nicht? :wink:

Das Verb „haben“ existiert zwar, wird aber nur sehr selten verwendet. Zumeist wird dafür eine Umschreibung in der Richtung „Bei mir ist…“ oder „Bei mir gibt es…“ verwendet (also mit „sein“ als Hilfsverb). Das Verb selbst wird jedoch regelmäßig konjugiert. Außerdem ist es kein Hilfsverb.

Grüße
Steve

Hallo,

Die Verbformen, die heute im Verbreitungsgebiet einer bestimmten Sprache als hochsprachlich korrekt betrachtet werden, sind aus regionalen Formen entstanden. Bei den häufigen Verben gab es nun ziemlich viele verschiedene regionale Formen, aus denen so eine Art „Patchwork-Flexion“ entstanden ist,

Als Beispiel dazu noch die Entstehung der verschiedenen Formen von „to be“ im Englischen (also am, is are).

Diese sind tatsächlich eine Verschmelzung verschiedener Systeme aus Old Norse und Old English (das ist so um 1050 abgeschlossen). Die Wikinger kamen ja zuerst (ab ~800) nur „sporadisch“ nach England, ließen sich dann aber im „Danelaw“-Gebiet nieder - und brachten ihre Sprache mit. Z.B ein kurzer Auszug aus Wikipedia zur Form „are“:
„from Old English N. Dial. earun, earon (“‘are’”) and Old Norse er (displacing Old English sind)“ (http://en.wiktionary.org/wiki/are).

Aufgrund der vielen Wortübernahmen und der grammatikalischen Änderungen sprechen in dem Zusammenhang manche auch davon, dass Englisch eine Creole-Sprache sei…

Meine „Privattheorie“ gilt wahrscheinlich nicht nur für
Verbformen, sondern auch für das totale Chaos bei der
Pluralbildung im Deutschen.

… und im Englischen - ein extremes Beispiel ist „children“:
„child“ = Singular
„childr“ = Plural (Old Norse)
„children“ = heute standardsprachlich Plural - also eigentlich zwei Pluralendungen…
„childrens“ = heute (humorous or non-standard) Plural (und gern gemachter Fehler von Schülern) - also eigentlich drei Pluralendungen…

Moin,
also in den indogermanischen Sprachen liegt die Unregelmäßigkeit (genauer: Suppletivismus, d.h. Formen unterschiedlicher Stämme in einem Paradigma) in der indogermanischen Grundsprache begründet. Dort gab es (mindestens) 3 Verben, die von der Bedeutung her ‚sein‘ nahe kamen (*h1es- ‚sein‘, *bhuH- ‚werden, sein; wachsen‘, *h2wes- ‚leben, wohnen‘). Aus Formen dieser drei Verben haben sich in den meisten indogermanischen Sprachen die Paradigmata für ‚sein‘ zusammengesetzt. z.B. dt. ‚sein‘, ‚bis‘, ‚ist‘, ‚war‘, ‚gewesen‘, …, lat. ‚esse‘, ‚sum‘, ‚est‘, ‚fuit‘, …

Das es im Spanischen zwei Wörter für haben (und für sein) gibt, liegt im Lateinischen begründet, das eine (tengo etc.) kommt von lat. tenere ‚(fest)halten, besitzen‘, das andere von lat. habere ‚haben, halten‘. Daher gibt es im Spanischen auch eine Unterscheidung bei der Bedeutung der Verben im Sinne von ‚ich habe blonde Haare‘ und ‚ich habe ein Auto‘, je nachdem, ob etwas von sich aus zu mir gehört oder ob ich es nur zeitweilig besitze. Das zweite ‚sein‘-Verb des Spanischen kommt von lat. stare ‚stehen, bestehen‘.

Wie genau das in anderen Sprachfamilien aussieht, weiß ich nicht, aber ich kann mir gut vorstellen, daß Verben wie ‚sein‘, ‚haben‘ und Modalverben, die also eine eher abstrakte Bedeutung haben (im Gegensatz zu ‚halten‘, ‚stehen‘, ‚besitzen‘, ‚sehen‘ etc.), eher spät entstanden sind und v.a. durch Umschreibung mittels bereits vorhandener, konkreterer Verben ausgedrückt wurden. Daraus sind dann diese oft suppletiven Paradigmata entstanden.

Hoffe, das hat geholfen.
LG

Moin Sarah,

sein ist unregelmäßig. Haben und gehen aber nicht

Da irrst Du.
Ich konjugiere „haben“ mal regelmäßig:

  • ich habe, du habst, er habt

ähm… *plonk* Ich war wohl verwirrt.

die regelmäßigen Stämme für „gehen“:

  • ich gehe - ich gehte - ich bin gegeht

Jaaaa… ich hätte vielleicht auch an die Vergangenheitsformen denken sollen :smiley:.

im Englischen ist ja „to have“ regelmäßig.

Probier’s mal aus :wink:)

I have, you have, he/she/it has, we have, you have, they have. Hm. Kam mir irgendwie regelmäßig vor, und die Vergangenheit ist mit Dentalsuffix. Man müsste halt jetzt feststellen, ob das „v“ zum Stamm gehört. Aber wahrscheinlich schon. Und dann hatte ich selbstverständlich unrecht.

Weiß eigentlich jemand, ob die Konjugation von sein aus
mehreren Verbstämmen zusammengefallen ist?

Lektüretipp für’s Wochenende:
http://germazope.uni-trier.de/Projects/WBB/woerterbu…

Danke, werd ich mir anschauen.
Lg, Sarah

Grüße
Pit

Hallo,

Die Verbformen, die heute im Verbreitungsgebiet einer bestimmten Sprache als hochsprachlich korrekt betrachtet werden, sind aus regionalen Formen entstanden. Bei den häufigen Verben gab es nun ziemlich viele verschiedene regionale Formen, aus denen so eine Art „Patchwork-Flexion“ entstanden ist,

Als Beispiel dazu noch die Entstehung der verschiedenen Formen
von „to be“ im Englischen (also am, is are).

Diese sind tatsächlich eine Verschmelzung verschiedener
Systeme aus Old Norse und Old English (das ist so um 1050
abgeschlossen). Die Wikinger kamen ja zuerst (ab ~800) nur
„sporadisch“ nach England, ließen sich dann aber im
„Danelaw“-Gebiet nieder - und brachten ihre Sprache mit. Z.B
ein kurzer Auszug aus Wikipedia zur Form „are“:
„from Old English N. Dial. earun, earon (“‘are’”) and Old
Norse er (displacing Old English sind)“
(http://en.wiktionary.org/wiki/are).

Aufgrund der vielen Wortübernahmen und der grammatikalischen
Änderungen sprechen in dem Zusammenhang manche auch davon,
dass Englisch eine Creole-Sprache sei…

Ja, das klingt nicht unlogisch. Aber ich glaube, ein bisschen zu weit geht das schon. Schließlich sind viele frühe Übernahmen germanisch, ich würde eher sagen, es ist eine romanische Sprache, wegen der vielen Wortschatzübernahmen und viel Grammatik kommt ja auch aus dem Französischen.

Meine „Privattheorie“ gilt wahrscheinlich nicht nur für
Verbformen, sondern auch für das totale Chaos bei der
Pluralbildung im Deutschen.

… und im Englischen - ein extremes Beispiel ist „children“:
„child“ = Singular
„childr“ = Plural (Old Norse)
„children“ = heute standardsprachlich Plural - also eigentlich
zwei Pluralendungen…
„childrens“ = heute (humorous or non-standard) Plural (und
gern gemachter Fehler von Schülern) - also eigentlich drei
Pluralendungen…

Na ja, aber im Englischen betrifft das ja nur einige wenige Substantive. Im Deutschen haben wir immerhin fünf regelmäßige Möglichkeiten, den Plural zu bilden, wenn ich mich recht erinnere, und im Englischen ist nur eine regelmäßig, alles andere sind Ausnahmen.

Moin,

I have, you have, he/she/it has, we have, you have, they have.
Hm. Kam mir irgendwie regelmäßig vor, und die Vergangenheit
ist mit Dentalsuffix. Man müsste halt jetzt feststellen, ob
das „v“ zum Stamm gehört. Aber wahrscheinlich schon. Und dann
hatte ich selbstverständlich unrecht.

Ja, das ‚v‘ gehört zum Stamm. Ist genau das, was bei uns das ‚b‘ in ‚haben‘ ist. Dass es im Englischen im present zu ‚v‘ wurde und im past vor dem Dentalsuffix weggefallen ist, liegt an der Lautgeschichte des Englischen.

LG

Moin,

Hallo!

I have, you have, he/she/it has, we have, you have, they have.
Hm. Kam mir irgendwie regelmäßig vor, und die Vergangenheit
ist mit Dentalsuffix. Man müsste halt jetzt feststellen, ob
das „v“ zum Stamm gehört. Aber wahrscheinlich schon. Und dann
hatte ich selbstverständlich unrecht.

Ja, das ‚v‘ gehört zum Stamm. Ist genau das, was bei uns das
‚b‘ in ‚haben‘ ist. Dass es im Englischen im present zu ‚v‘
wurde und im past vor dem Dentalsuffix weggefallen ist, liegt
an der Lautgeschichte des Englischen.

Warum ist es denn in der 3. Person Sg. auch rausgefallen, weißt du das? Und was für ein Lautwandel ist das denn? Wenn meine Mittelenglischkenntnisse mich nicht trügen, dürfte es ja kein Great Vowel Shift sein…
LG, Sarah

LG

Moin,
in der 3.Sg. (present) kommt danach das -s. Und davor ist der Labial (ob bereits -v- oder noch -b- weiß ich auf die Schnelle nicht) weggefallen, wie im Deutschen in der 2.Sg. ‚hast‘ statt ‚habst‘ und in der 3.Sg. sogar vor Dental ‚hat‘ statt ‚habt‘.
Nein, great vowel shift ist das nicht, denn wie der Name schon sagt, geht es dabei um Vokale.
Kann Dir aus’m Kopf nicht genau sagen, wann dieser Lautwandel explizit stattgefunden hat. Bin Indogermanistin und müßte mich erst wieder in die Spezialliteratur mit den genauen Daten des Englischen einlesen.
Soweit ich weiß gibt es aber in älteren Englischen Sprachstufen auch ‚thou hast‘ ebenfall bereits ohne den Labial. Überlege gerade, ob der ggf. bereits Westgermanisch weggefallen sein könnte.
LG

Moin,
in der 3.Sg. (present) kommt danach das -s. Und davor ist der
Labial (ob bereits -v- oder noch -b- weiß ich auf die Schnelle
nicht) weggefallen, wie im Deutschen in der 2.Sg. ‚hast‘ statt
‚habst‘ und in der 3.Sg. sogar vor Dental ‚hat‘ statt ‚habt‘.
Nein, great vowel shift ist das nicht, denn wie der Name schon
sagt, geht es dabei um Vokale.

Ja, logisch, irgendwie bin ich heute durcheinander.

Kann Dir aus’m Kopf nicht genau sagen, wann dieser Lautwandel
explizit stattgefunden hat. Bin Indogermanistin und müßte mich
erst wieder in die Spezialliteratur mit den genauen Daten des
Englischen einlesen.

Indogermanistin… wow. Ist bestimmt voll interessant.

Soweit ich weiß gibt es aber in älteren Englischen
Sprachstufen auch ‚thou hast‘ ebenfall bereits ohne den
Labial. Überlege gerade, ob der ggf. bereits Westgermanisch
weggefallen sein könnte.

Ja, das gibt es im Frühneuenglischen, findet man, soweit ich mich erinnern kann, bei Shakespeare. Naja, vielleicht finde ich es irgendwie raus.

LG

Hallo

Also ich habe folgendes gelernt (für germanische Sprachen)(von einem absoluten Germanistik Crack, ich verneige mich zutiefst!)

Sämtliche starken Verben sind seehr seehr alte Wörter, die wichtige, grundlegende Bedürfnisse ausdrücken. (schlafen, essen, gehen…)
Um auch über größere Entfernungen verstanden zu werden, wurde zur Unterscheidung der Zeiten der Stammvokal geändert. So war eindeutig erkennbar, ob ich in der Vergangenheit rede etc… (Stichwort dynamischer bzw. musikalischer Akzent)
Später hinzugekommene Verben wurden dann schwach, wegen der Verschiebung vom musikalischen zum Dynamischen Akzent.
Wir sehen auch, dass das im Englischen und deutschen fast die gleichen Wörter sind.
Nun, je häufiger ein Wort benutzt wird, desto mehr behält (!) es seine originale, starke Form. (Modalverben, sein, haben). Wird es seltener benutzt, verschwindet die starke Form langsam (vergleiche backen - buk vs backte)

liebe Grüße
Maria

Hallo Steve!

Im Russischen ist das Verb „sein“ sogar so unregelmäßig, daß
es im Präsens nichtmal mehr existiert (mit Ausnahme der 3.
Pers. sgl., die in manchen speziellen Fällen verwendet wird).
Dafür ist die restliche Konjugation eher unspektakulär. Gilt
das jetzt als regelmäßig oder nicht? :wink:

Die Formen „я есмь, ты еси, мы есмы, вы есте, они суть“ habe ich tatsächlich noch nie gesehen, geschweige denn gehört; jedoch scheinen sie zu existieren und sind durchaus unregelmäßig.
Aber bereits ohne diese Formen müsste man быть regelmäßig wie andere Verben auf ыть (z.B. мыть, рыть) deklinieren, und es ergäbe sich fürs Futur (ist ja ein vollendetes Verb): бою, боешь usw. - ist aber nicht so, also unregelmäßig.

Liebe Grüße
Immo