Veränderung des romantischen Liedes

Wie hat sich von Schubert über Schumann bis hin zu Brahms das romantische Lied weiterentwickelt?

Archaisches ins Gedächtnis rufen
Hallo corlin,

ich versuch’s mal mit einem bestimmten Aspekt - gewiss gibt es weitere; aber ich finde sie schwierig, da man in der Romantik generell von „Personalstil“ sprechen kann und nicht unbedingt lineare Entwicklungen erwartet.

Das archaische Element (Reminiszenz an vorklassische Klauseln) ist bei Schubert noch in recht kleinen Dosierungen und relativ unverbindlich neben andern Elementen vorhanden, bei Schumann wird es bereits als Eindeutigkeit bzw. Akzentuierung eingesetzt und bei Brahms ist es allgegenwärtig und verschlingt zeitweilig viel anderes. Darin lässt sich eine Entwicklung durch das Jahrhundert erblicken.

Um 1800 ist die Musik noch spontan. Es wird erwartet, dass der Klang unmittelbar wirkt. (Das war bereits zur frühen Renaissance- und späten Barockzeit deutlich anders gewesen, etwa wenn beim Renaissancechor Gregorianik eingeflochten ist oder in der Barockkirchenmusik Leerklänge eingesetzt und alte Choräle zitiert werden; dann nämlich arbeitet die Musik mit einer Meta-Ebene, d. h. rechnet mit einer gewissen musikalischen Vorbeingenommenheit des Hörers, die erinnert oder kontrastiert werden kann.)

Zur Zeit Schuberts ist der spontane Gefühlsausdruck durch eine gefestigte handwerkliche Gestalt hindurch die Regel, Schubert allerdings fängt im Sinne Beethovens an, lautmalerisch zu wirken, dass auch das Erinnern erfasst ist. Z. B. ahmt er mit dem Klavier hörbar Dinge nach wie etwa eine Laute, ein Jagdhorn, ein Posthorn oder Naturereignisse. Dabei kann es dann auch vorkommen, dass dies (je nach Motiv) archaisch wirkt, insbesondere durch die Allgegenwart von Volksliedern zum Teil hohen Alters.

Schumann bringt bisweilen den Akzent, die Kulmination oder die Pointe eines Liedes auf besonders Altes, namentlich auf Leerklänge (und im Text ist dann oft etwa von einer alten Burg und ihren treuen Bewohnern die Rede) und auf einzelne modale Wendungen (berühmt: Im Rhein im heiligen Strome da spiegelt sich in den Well’n mit seinem grossen Dome das grosse heilige Cöln - wobei die Melodie bei den letzten beiden Wörtern unverkennbar eine phrygische Wendung nimmt, indem sie auf einem Halbtonschritt nach unten, also gewissermassen mit einem Leitton von oben abschliesst, das ist ein Modus aus kirchlichen Melodien).

Brahms schliesslich macht die Modalität zu einem fast dauernden Begleiter seiner Musik und besonders seiner Lieder, und sie wird umso deutlicher, je intensiver das ganze Stück wird. Nach gut 150 Jahren Dur-Moll-Theorie wirkt das eindeutig archaisch und tritt recht ungeschminkt hervor (was bei Schubert und Schumann noch eher verklausuliert war). Dass dabei Urgewalten betont werden und dass ein erotischer Hauch allgegenwärtig ist, liegt wohl wieder eher an der Person von Brahms. Vielleicht ist die Hemmungslosigkeit aber auch erst in dieser Zeit vollauf salonfähig.

Gruss,
Mike

Hausaufgaben?
Hei,

das hört sich doch schwer nach einer HA-Frage an - warum wird darauf geantwortet?

Grüße
Natascha

Hallo Natatza,

weil die Antwort von Mike derart großartig, fundiert und anspruchsvoll ist, dass der Fragesteller, träfe deine Vermutung zu, die noch nicht einmal ansatzweise überhaupt flüssig vom Blatt zu lesen imstande wäre.

Ich sehe ihn schon vergnügt vor mir: „Ähhh…äähhh…äähh…watt???“

Aber mindestens ich habe hier wieder mal ordentlich was gelernt.

Gruß

Annie

2 Like