Wie macht ihr das überhaupt?!

„Borderline,Depression,Neurose,Psychose,Schizophrenie…“

Also ich habe den Eindruck gewonnen, das diese Diagnosen alle irgendwie die gleichen ‚Indikatoren‘(ist das richtig?) haben und deswegen stelle ich mir die Frage wie da eine Differenzierung überhaupt möglich sein soll.

Ein paar an ICD(und die anderen) angelegte Tests habe ich auch schon gelesen. Nur wie soll damit eine Diagnose möglich sein, diese Fragen sind doch oft ziemlich ‚offen‘ in der Auslegung.
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Ich hätte da nämlich auch ein Beispiel wo es mir auch besonders aufgefallen ist.

Borderline:
…oft auch vorübergehendes Alleinsein als dauerhafte Isolation wahrnehmen.

Depression:
leiden oft unter sozialen Isolation.
=> das hängt doch vom Patient ab wie er sich selbst beurteilt.
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Weiterhin habe ich mir vorgestellt was wohl passiert, wenn ein Patient zum Psychiater(~logen) geht und dieser sich gar nicht zu artikulieren weiss (also der Patient :stuck_out_tongue:)??

mfg
der Interessierte
-Matze-

Hallo Matze,

also wir (Mediziner und Psychologen) werden in Diagnostik ausgebildet. Besonders wir (Psychologen) durchlaufen eine mindestens 2jährige Ausbildung in Diagnostik während unseres Studiums mit

a) Ausbildung in psychologischer Testtheorie (da bilde ich z.B. aus),
b) Ausbildung zu Fragebögen, Tests, Interviews, Beobachtungsverfahren, Verhaltensanalyse
c) Ausbildung im Schreiben von Gutachten (theoretisch, üben an Fallbeispielen)
d) Ausbildung im Schreiben von Gutachten (praktisch, Diagnostik am „echten“ Patienten).
e) Praktische Erfahrungen, z.B. aus Praktika in Psychiatrien, Suchtkliniken

Die klinisch tätigen Kolleginnen und Kollegen sammeln viele weitere Erfahrungen während ihrer Zusatzausbildung, in der sie z.B. eine Zeitlang in der Psychiatrie arbeiten.

Wir Psychologen lernen im Studium die psychischen Störungen nach dem Diagnostischen und Statistischen Manual Psychischer Störung (DSM-IV) kennen. Dieses Manual kategorisiert 395 Störungen mit über 1000 Kriterien und ist deutlich präziser als die ICD-10 (Klinisch-diagnostische Leitlinien) und in etwas so präzise wie ICD-10 (Forschungskriterien). Zusätzlich lernen wir viele Forschungsbefunde zu einzelnen Störungen und Symptomen.

Dadurch erfahren wir, wie jemand ist, der eine Depression hat, eine Borderline-Störung oder eine Schizophrenie, und worin sich Menschen mit diesen Störungen unterscheiden. Der Gesamteindruck macht es aus, nicht nur ein einzelnes Puzzleteil, weil einzelne Puzzleteile bei vielen Störungen vorkommen, bestimmte Kombinationen aber auf bestimmte Störungen hinweisen. Wir treffen unsere Diagnosen (hoffentlich) nicht nur auf einer Informationsquelle (z.B. Gespräche über Lebensgeschichte, Beruf, bisherige Krankheiten, Familiensituation u.v.m.), sondern auch aus der Beobachtung von Mimik, Gestik, Stimmlage usw., von psychologischen Testergebnissen (u.a. Intelligenztest, Persönlichkeitsfragebogen, klinische Fragebögen zu einzelnen Störungen) und kombinieren dies mit Informationen aus körperlich-medizinischen Untersuchungen. Auf dieser Grundlage treffen wir eine Diagnose, wobei wir wissen, daß diese Diagnosen immer mit mehr oder weniger Unsicherheit behaftet sind. Selbst den erfahrensten Psychiatern und Psychologen geschieht es, daß sie ihre Diagnosen ändern müssen. Deshalb haben viele Diagnosen einen vorläufigen Status.

Grüße,

Oliver Walter

Hi,

das sind sehr unterschiedliche Erkrankungen. Ich geb mal eine ANtwort „mit heißer Nadel gestrickt“.

Die Borderlinestörung und die Neurose sind beides sogenannte Entwicklungsstörungen, d.h. im Verlauf der psychischen Entwicklung des Kindes treten Störungen auf. je nach dem, in welcher Phase die Störungen auftreten, spricht man von einer „Frühstörung“, z.B. Borderline, oder einer „reifen“ Neurose. Die Symptomatik ist sehr unterschiedlich, würde aber jetzt mein Zeitbudget überstrapazieren, das alles erschöpfend zu erklären.

Psychosen sind organische Erkrankungen bzw, Erkrankungen mit organischem Anteil. Ob die organischen/ neurobiologischen Anteile als Folge oder als Ursache auftreten ist teilweise noch unerforscht. Sowohl die Schizophrenie als auch die Depression gehören zu den Psychosen.

„Indikatoren“ ist ein unmedizinischer Begriff, vielmehr spricht man in der Medizin von „Symptomen“ oder „Syndromen“. Ein Symptom ist ein einzelnes Merkmal, ein Syndrom ist eine gemeinsam auftretende Gruppe von Symptomen.

Viele Symptome können mit verschiedenen Erkrankunken auftreten, dafür gibt es dann den Begriff der „Differentialdiagnostik“, wie untersccheidet man Erkrankungen die das selbe Symptom haben.

Z.B. Fieber ist ein Symptom das mit sehr vielen verschiedenen Krankheiten auftreten kann.

Kurz zu den genannten Erkrankungen:

Borderline-Persönlichkeitsstörung ist eine Frühstörung, folgendermaßen zu charakterisieren: unklares Selbstbild sowohl in bezug auf eigene Wünsche und Ziele als auch in bezug auf sexuelle Präferenzen, partnerschaftliche Vorstellung, Werte, Ideale. Unbeständige zwischenmenschliche Beziehungen in einem ständigen Wechesel von Idealisierung und Entwertung (eine Nähe-Distanz-Problem). Häufige Krisen, auch suizidale Krisen, selbstverletzendes Verhalten, häufig Selbstverletzung mit Schnittwunden. Teilweise Realitätsverkennung und Halluzinationen.

Depression: Affektive Psychose, folgende Symptomatik: gedrückte Stimmung, Freudlosigkeit, Antriebsminderung, Schlaflosigkeit, libidoverlust, Konzentratiionsschwäche, Fehlen von Gefühlen, Ermüdung, auch körperliche Symptomatik z.B. Verstopfung, Libidoverlust, Appetitlosigkeiut.

Neurose: psychische Erkrankung bei der anlagebedingte Faktoren und Umwelteinflüsse in der Kindeheit Zusammenwirken. Oh man. Das soll Branden oder Oliver erklären, ich laber mich sonst tot. Jedenfalls sehr vielfältig, Phobien, Angststörungen, Zwangsstörungen gehören z.B. dazu.

Schizophrenie ist ein Störung, die vor allem durch eine Veränderung des Denkens und der Wahrnehmung gekennzeichnet ist, daneben auch Affekt- und Antriebsstörung (also teilweise gleiche Symptome wie bei Depression), Ich-Störung sowie das, was wir gern „Verlust der sozialen Kompetenz“ nennen.

Kurz und knapp (verkürzt und unseriös knapp):

  • ein Depressiver hat keinen Antrieb
  • ein Schizophrener kann nicht mehr richtig denken
  • ein Borderliner hat ein Beziehungsproblem
  • ein Neurotiker geht dir auf die Nerven

Gruß

Yoyi

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]

Super erklärt!
Bewunderung!
Irene

Kurz und knapp
Hallo:-Matze-
als Ergänzung zu yogi hier ganz knapp:
Erfahrung. Genau wie in jedem anderen Fach. Du könntest ebenso einen Internisten fragen, wie er körperliche Erkrankungen diagnostiziert.
Gruss, Branden

Vielen Dank…
wie es auch im oberen Artikel beschrieben wird erhält man hier immer sehr aufschlussreiche Antworten… und in diesem Sinne, Danke für die Antworten und die Mühe!

Psychologische und psychiatrische „Diagnostik“ beruht letzten Endes nicht auf irgendwelchen höheren Wahrheiten, sie ist nicht objektiv (wie könnte sie es auch sein?), sondern letztendlich immer von subjektiven Faktoren abhängig (der Diagnostiker unterliegt selbst psychologischen Faktoren) wie Sympathie, weltanschaulichen Differenzen, dem Gesprächsverlauf selbst (Reaktion und Gegenreaktion)…

Dabei werden halt bestimmte vorgefertige Denkkategorien zugrundegelegt, in die komplexe Realitäten hineinbogen werden.

Unterschiedliche Leute werden oft unabhängig voneinander zu komplett unterschiedlichen Urteilen kommen (ich kann da ein Lied davon singen aus der eigenen Erfahrung - ernst nehmen kann man das beim besten Willen nicht mehr als intelligenter Mensch). So wie das halt auch im alltäglichen Leben oft der Fall ist.

Hallo,

die von Dir genannten Kritiken an der psychologischen und psychiatrischen Diagnostik werden häufiger vorgetragen und waren in der Vergangenheit sicherlich ein Stück weit berechtigt. Mal zwei Punkte herausgegriffen, um zu verdeutlichen, wie die Sachlage heute ist:

Kritik 1: „Diagnosen stellen Vergröberungen dar, die der Individualität nicht gerecht werden. Dazu ist anzumerken, daß Forschung immer allgemeine Aussagen beinhaltet, die auf eine konkrete Person abgestimmt werden müßen. Die phänomenologische Kritik ist daher nur nur bei fehlender Abstimmung zutreffend; der Prozeß der Umsetzung von allgemeinen Aussagen auf die konkrete Person ist insbesondere in der Verhaltenstherapie breit thematisiert worden, während er sonst oft vernachläßigt wird.“

Kritik 2: „Diagnosen sind zu wenig reliabel und daher wenig brauchbar. Wie die neuere Forschung zeigt, sind die [Fehlerquellen] durch die operationale Diagnostik und die standardisierten und strukturierten Untersuchungsverfahren deutlich reduziert worden. Die mangelnde Reliabilität der Diagnosen kann heute nicht mehr als Gegenargument gegen die ICD- und DSM-Systeme verwandt werden.“
(nach Baumann & Stieglitz, Klassifikation, in Baumann & Perrez).

Meine theoretischen Kenntnisse und praktischen Erfahrungen bestätigen diese Einschätzung.

Beste Grüße,

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Hallo zurück,

wundert mich ja, daß Sie darauf überhaupt noch geantwortet haben; es war auch mehr ein Ausdruck eines persönlichen Ärgernisses als eine konstruktive Kritik an der Branche - ich weiß auch nicht, was oder wie man das besser machen könnte. Wenn da jemand bemüht und fair ist, dann ist es vielleicht das Maximum, was man erwarten kann.

Vielleicht noch ganz kurz der persönliche Hintergrund: bei mir reichte das von antisozial bis zwanghaft, unabhängig voneinander natürlich, jedoch ohne eine offizielle Diagnose. Wobei ich im ersten Fall entsprechend dogmatisch argumentiert und aggressiv reagiert habe. Innerhalb von einem Monat wandelte sich das dann immerhin über narzißtisch bis Borderline, wo auch jeder einzelne Punkt so hingedreht wurde, bis es paßte (ich kenne mich nicht wirklich aus, aber ich kann es mir so grob vorstellen, und was ich danach las, bestätigte das auch). Dann hatte ich natürlich noch, passend zum Krankheitsbild eine Minipsychose, weil man mir nicht folgen konnte, etc. Da wurde nicht nur eine Diagnose, sondern alles komplett auf den Kopf gestellt. Nur die vorliegende Depression (Eigeneinschätzung) wurde heruntergespielt.

Das sind so meine praktischen Erfahrungen. Angesichts der resultierenden Konsequenzen für mein Leben staut sich da schon eine Wut auf über diese selbstherrliche und anmaßende Branche…
Aber das sind halt vielleicht auch die Probleme von Hochintelligenten, wenn ich das mal so unbescheiden schreiben darf.

was ich noch vergessen hatte als PS:

das Schlimme ist ja, daß es das alles tatsächlich wohl auch noch gibt. Aber widerlegen oder beweisen läßt sich in diesem Gebiet ohnehin kaum was - da fällt mir wieder der gute, alte Gert Postel ein.

Hallo,

wundert mich ja, daß Sie darauf überhaupt noch geantwortet
haben;

ich hoffe, kein Vertreter dieser „selbstherrlichen und anmaßenden
Branche“ zu sein, von der Sie sprachen.

es war auch mehr ein Ausdruck eines persönlichen
Ärgernisses als eine konstruktive Kritik an der Branche - ich
weiß auch nicht, was oder wie man das besser machen könnte.

Das habe ich aus Ihrem Posting herausgelesen und Ihnen trotzdem geantwortet, weil ich die Möglichkeit zu einem offenen Austausch eröffnen wollte. Deshalb freut es mich, daß Sie so offen geantwortet haben. :smile:

Wenn da jemand bemüht und fair ist, dann ist es vielleicht das
Maximum, was man erwarten kann.

Ja, und hoffentlich ist der Diagnostiker kompetent und gründlich dazu.

Vielleicht noch ganz kurz der persönliche Hintergrund: […]

Ich kann natürlich nicht wirklich etwas dazu sagen, weil ich die Umstände nicht kenne und nicht dabei war. Aber so wie Sie es beschreiben, hört es sich nicht nach einer professionellen Arbeit an. Es hört sich eher wie Herumwerfen mit psychopathologischen Begriffen an, ohne daß jemand wirklich gründlich untersucht hätte, welcher Begriff passen könnte. Daß es so etwas gibt, was Sie beschreiben, bestreite ich nicht. Was ich bestreite, ist, daß das diagnostische Regelwerk der Hauptgrund für solche Dinge ist. Der Hauptgrund für so etwas ist meiner Meinung nach Unprofessionalität.

Angesichts der resultierenden Konsequenzen für mein Leben staut sich
da schon eine Wut

Ja, die Wut kann ich sehr gut nachvollziehen.

das Schlimme ist ja, daß es das alles tatsächlich wohl auch noch
gibt. Aber widerlegen oder beweisen läßt sich in diesem Gebiet
ohnehin kaum was

Widerlegen ließe sich schon etwas. Inzwischen gibt es nämlich vom Bundesgerichtshof ein Urteil, in dem bestimmte Standards für psychologische / psychiatrische Gutachten gesetzt worden sind. Wenn die nicht erfüllt sind (also z.B. die Verwendung von Uralttests bei der Begutachtung), dann kann man ein Gutachten prinzipiell kippen lassen.

Beste Grüße,

Oliver Walter

3 Like

Nein, ich bleibe dabei: es gibt keinen objektiven Zugang zur menschlichen Psyche, das ist immer fehlerbehaftet und gibt mehr die Einstellung (und das Menschenbild und die Werthaltung) dessen wieder, der da „diagnostiziert“. Insbesondere, wenn man sich vor Augen hält, wie blöde doch die Beurteilungsschemata sind und daß auch die Patienten das durchschauen: dann hat man Metasymptome, dann kann man Manipulations- und Kontrollversuche unterstellen usw. Insbesondere kann man Reaktionen in so einer Situation unmöglich verallgemeinern, auch das ist ja so ein Dogma: menschliche Verhaltensweisen seien konstant; folglich kann man die Umstände vernachlässigen. Wie sollte man als Patient dann aber bestimmte Sachverhalte darstellen, ohne „ins Messer zu laufen“?

Es handelt sich ja immer nur um Interpretationen einer Realität (eigentliche Motive, Lebensläufe), zu denen man keinen direkten Zugang hat und von denen man eigentlich nichts weiß. Und wie etwas dann letztendlich interpretiert wird, hängt hauptsächlich von situativen Gegebenheiten ab: wer kann denn beurteilen, ob etwas eine unübliche Reaktion auf eine Kleinigkeit ist, wo sich jemand von anderen unterscheidet, oder ob andere da genauso reagieren würden, wenn man die zugrundeliegende Situation überhaupt nicht kennt?

Es gibt keinen Ausweg aus diesem Problem, noch nicht mal so, daß man wenigstens zu ungefähren Lösungen kommen könnte.