Selbstfindung
Liebe Micky,
Ich weiß nicht, ob dass das richtige Brett ist oder ob ich
mich mehr in der Philosophie bewege, aber ich versuche es mal
hier:
Du bist goldrichtig hier, denn deine Fragen sind zweifellos entwicklungspsychologischer Natur.
Der Begriff „Selbstfindung“ wird meist in Verbinung mit der
Pubertät gebraucht. Ist die Frage nach dem „Wer bin ich?“ aber
nicht viel mehr ein lebenslanger Prozess? Taucht die Frage
nicht in vielen „Sinnkrisen“ auf - unabhängig vom Alter einer
Person? Ist es nicht die Frage, die an wichtigen „Übergängen“
im Leben steht?
Was soll ich mehr tun als deine Fragen mit einem klaren Ja zu beantworten?
Aufs Herzlichste grüßt dich
dein
C.
Identité et la Condition Postmoderne
Du stößt eine sehr breite Diskussion in der Entwicklungs- und Sozialpsychologie an, die in der einen bestimmten Ausprägung, die ich skizzieren werde, in seiner theoretischen Ausrichtung negativ an das entwicklungspsychologische Paradigma des großen Entwicklungspsychologen Erik H. Erikson anschließt.
Auch bei Erikson ist die Frage der Identität nicht rein auf die Adoleszenz (Pubertät) beschränkt, weil einer gelungenen Identitätsbildung in der Adoleszenz der Erwerb wichtiger Kompetenzen in früheren Lebensaltern vorausgehen muss, aber im Kern ist seine These, dass es während der Zeit der Adoleszenzkrise ist, in der das Individuum durch Erwerb der Kompetenz zur Festlegung auf die Frage: „Wer bin ich?“ sich in die Gesellschaft „einfädelt“.
Eriksons Theorie entstand in den 40er und 50er Jahren des 20. Jahrhunderts - und man sieht es ihr auch an, sie klingt heute hoffnungslos nostalgisch.
Während man zu dieser Zeit möglicherweise (ich bin mir da aber weniger sicher als Erikson), die Gesellschaft noch als einigermaßen stabil und vorhersehbar konzipieren konnte, man sich also beispielsweise recht sicher sein konnte, den Beruf ein Leben lang auszuüben, den man sich im Adoleszenzalter aussuchte, haben sich heute die gesellschaftlichen Rahmenbedinungen enorm verändert, so dass all die Festlegungen, die man im Adoleszenzalter so trifft (Beruf, evtl. auch schon Partnerschaft), heute deutlich geringere Halbwertszeit haben:
die ganze sogenannte Normalbiographie (Schule-Lehre-50JahreArbeit-Rente) ist obsolet geworden, die einzelnen Stadien haben keinen so großen normativen Charakter mehr, sie bieten keine Sicherheiten mehr, sie lassen keine Einmalentscheidungen in der Adoleszenz mehr zu.
Man mag sich mit 15, 20 Jahren entscheiden, diesen und nicht jenen Beruf zu ergreifen, 10 Jahre später findet man damit keine Arbeit mehr, die Thematik Berufsentscheidung (also „Wer bin ich?“) kommt wieder auf.
Man mag mit 22 seine Familie gründen, mit 33 liegt sie in Trümmern - Wer bin ich? Vater? Ehemann? Ex-Ehemann? Vater der neuen Familie? alle-14-Tage-Vater? bloßer Unterhaltszahler? Unterhaltszahlungsverweigerer?
Diese Fragen stellen sich heute lebenslang und ständig neu, unabhängig davon, was mit 22 einmal (man beachte den Doppelsinn darin) entschieden worden war.
So etwas konnte Erikson in den 40er und 50er Jahren für die breite Masse der Bevölkerung nicht sehen - es mag auch an Erikson gelegen haben, denn sichtbar waren diese Tendenz allemal schon.
Noch zwei Punkte:
Eine Lektürempfehlung zur breiten Vertiefung des eben Gesagten:
Renate Höfer (Hrsg.) et. al., Identitätsarbeit heute, suhrkamp, 1997
darin speziell der Aufsatz:
Krappmann, Die Identitätsproblematik nach Erikson aus einer interaktionistischen Perspektive
Anmerkung: Diese meine Sicht war eine, in der gleichsam Entwicklungspsychologie in Sozialpsychologie übergegangen ist.
Es gibt aber durchaus noch Ansätze, die, orthodoxer entwicklungspsychologisch ausgerichtet, aller heutigen „postmodernen“ Pluralität und Zerrissenheit zum Trotz, am Konzept einer personalen Identität festhalten, die um das Zentralgestirn Adoleszenz entwickelt wird.
Vielleicht mag ja ein anderer an diesem Punkt anschließen, mir ist solcherlei individualistische Sicht nicht so sehr sympathisch.
_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð €
Es ist keine Kunst, ein Selbst zu finden, aber ein Glück, eines zu finden, das es wert war, gefunden worden zu sein._