Hallo,
wie kam es denn nun dazu, dass jemand einen Grafentitel
erhielt?
grundsätzlich auf zwei Arten - durch Ernennung oder durch Geburt. Welche Art in Betracht kommt, hängt davon ab, von welcher Zeit wir reden. Ursprünglich - und das heisst hier unter den Merowingern und Karolingern - wurden Grafen als lokale Stellvertreter des Königs ernannt, sie hatten in einem bestimmten Territorium (Gau, später Grafschaft) die Wehrhoheit und die Gerichtsbarkeit.
Ernennen konnte man da nicht irgendeinen Beliebigen - der Graf musste sich in seinem Gau Respekt verschaffen und sich notfalls auch mit Gewalt durchsetzen können. Und zwar aus eigener Kraft, ohne den König damit zu behelligen. Also wählte man Leute aus dem Reichsadel (schließlich mussten sie vom örtlichen Adel akzeptiert werden), und zwar bevorzugt solche, die in ihrem Amtsbereich bereits entsprechend begütert waren und damit über eine ausreichende Machtbasis verfügten (und die örtlichen Verhältnisse kannten). Der Müllerbursche, der die Königstochter rettet und dafür zum Grafen gemacht wird, gehört ausschließlich in den Bereich der Märchen.
Aufgrund der genannten recht engen Voraussetzungen und der daraus folgenden faktischen Erblichkeit bildete sich im Hochmittelalter zunehmend auch rechtlich eine Erblichkeit des Grafentitels heraus. Damit wurde ‚Graf‘ von einer Amtsbezeichnung zur Bezeichnung eines Rechtsinhabers spezieller Hoheitsrechte in einem bestimmten Territorium. Diese Rechte (und damit auch der Titel) wurden wie privates Eigentum behandelt - d.h. sie konnten vererbt, aber auch verpfändet oder gar verkauft werden. ‚Ernennungen‘ wurden nun sehr selten - wenn z.B. ein Grafengeschlecht ausgestorben war und die Grafschaft an den König als Lehenshalter zurückfiel und neu als Lehen vergeben wurde.
Dem stand nämlich ein anderer Trend entgegen, der sich dann auch durchsetzte, nämlich die Mediatisierung. D.h. dass die unmittelbare Beziehung zwischen Grafen und König zunehmend durch eine mittelbare Graf-Fürst-König ersetzt wurde. Mit dieser Mediatisierung, die sich insbesondere im Spätmittelalter vollzog, gingen weitgehend auch die territorialen hoheitlichen Rechte der Grafen an die Fürsten verloren und ‚Graf‘ wurde in den meisten Fällen zu einem reinen Standestitel, der nur noch die Zugehörigkeit zum Hochadel kennzeichnete.
Von den Grafen deutlich zu trennen sind die vom Grafentitel abgeleiteten Fürsten titel Landgraf, Markgraf und Pfalzgraf. Die Grafengeschlechter, die den oben erwähnten Prozess der Mediatisierung unbeschadet überstanden und weiter reichsunmittelbar ein Territorium regierten, wurden in der Neuzeit i.d.R. ebenfalls gefürstet und trugen dann den Titel Reichsgraf. Als besondere Vergünstigung konnten allerdings auch reine ‚Titulargrafen‘ zum Reichsgraf erhoben werden. Hintergrund ist auch hier eine Ablösung des fürstlichen Titels von einem Herrschaftsterritorium und seine Wandlung in eine reine Standesbezeichnung.
Generell haben wir also beim ‚Graf‘ eine Entwicklungslinie Amtsbezeichnung - Bezeichnung eines Typs reichsunmittelbarer Territorialherren - Standesbezeichnung. Mit allen Zwischenstufen, Überlappungen, regionalen Besonderheiten usw.
Erhebungen (nicht ‚Ernennungen‘) in den Grafenstand gab es auch in der Neuzeit - damit wurde ein Angehöriger des niederen Adels in den Hochadel erhoben (‚Graf‘ ist der unterste Rang des hohen Adels). Bekanntestes Beispiel ist hier Bismarck, der dann später sogar in den Fürstenstand erhoben wurde. Bürgerliche wurden zwar auch in den Adelsstand erhoben, jedoch nicht unmittelbar in einen Rang des Hochadels. Diese sog. Nobilitierung von Nichtadligen gab es seit Kaiser Karl IV. (1316-1378). Auch da waren die Kandidaten weniger Müllerburschen als kaiserliche Beamte oder Kleriker - der älteste bekannte Fall von 1360 betraf Wyker Frosch, den Leiter der Stiftsschule St. Stephan in Mainz.
Abschließend sei noch angemerkt, dass das Thema sehr komplex ist und ich hier nur sehr grob die allgemeinen Entwicklungslinien angedeutet habe.
Freundliche Grüße,
Ralf