Ergänzung
Hallo Sarah,
ich möchte noch eine Ergänzung anbringen - und zwar aus der Sicht, wie sich das Problem vielleicht für eure Tochter darstellen könnte.
Sie meldet sich nicht viel. Wenn sie etwas im Unterricht sagen soll, denkt sie sofort: Stimmt es auch? Was denken die anderen, wenn ich das jetzt sage? Es ist für sie schwer, aus sich herauszugehen (wenn sie sich nicht - wie im Freundes- und Familienkreis ihrer Anerkennung sicher ist). Sie sieht überdeutlich ihre eigenen Schwächen. Es ist vielleicht kein Zufall, dass gerade intelligente Menschen oft dieses Verhalten zeigen. Sie denken mehr über sich nach. Sie sehen sich selbst kritischer. Sie bedenken die Folgen von jeder Handlung, jedem Wort (Was könnten die anderen jetzt denken?).
Wenn dann solche Aussprüche kommen wie:
- die kriegt den Mund nicht auf
- lauter Einsen, aber kein Wort rausbringen
dann sind das Messerstiche in eine solche Seele. Und das Verhängnisvolle ist - Sie kommen zu der Erkenntnis: Man erwartet etwas von mir, was ich nicht kann (nämlich aus mir herauszugehen). Ich erfülle die Erwartungen nicht. Sie finden mich blöd. Ich wirke komisch. Ich bin nichts wert.
Und gerade das, was aus diesem Verhalten heraushelfen könnten - nämlich Selbstbewusstsein, Selbstsicherheit, das Gefühl, als Person akzeptiert zu werden - wird damit im Keim erstickt.
Wie soll es jemand, der sowieso schon Schwierigkeiten hat, über diese Barriere zu kommen, über diesen, somit noch weiter angewachsenen, Berg schaffen?
Es gibt so viele verschiedene Menschen. Jeder hat Stärken, und jeder hat Schwächen. Es gibt Menschen, die kommen in einen Raum und ziehen sofort die Aufmerksamkeit auf sich (und genießen das auch!). Und es gibt Menschen, die es nie zum Alleinunterhalter bringen werden, wie es eben auch Menschen gibt,
- die nie aus dem Stegreif ein Musikstück hinlegen werden
- die nie in einer Nacht einen Roman herunterschreiben werden
- die nie eine Goldmedaille im Skispringen holen werden
Macht eurer Tochter klar, dass sie - trotzdem - ein wertvoller Mensch ist.
Sie sagt, sie meldet sich ja.
Es wäre viel hilfreicher und ermutigender für sie, wenn ihre - zugegebenermaßen kleinen - Erfolge, die sie schon hat, nämlich sich ab und zu zu melden, auch anerkannt würden! Anstatt die Messlatte so hoch zu halten, dass sie keinerlei Chance hat, sie jemals zu erreichen.
Wenn jemand Schwierigkeiten mit Mathe hat, erwartet man ja auch nicht, dass er gleich Differentialgleichungen löst, sondern lobt ihn für jeden kleinen Erfolg.
Für sie ist das, was sie bisher tut, ein riesiger Schritt! Und was ist die Reaktion von Seiten der Lehrer? Die Mitarbeit lässt zu wünschen übrig. Ja - was soll ich denn noch tun! Ich habe mich doch schon so bemüht! Und es ist immer noch nicht genug! Ich werde es nie schaffen. Ich bin sowieso nichts wert. Am besten wäre es, ich würde gleich im Erdboden versinken. Also wieder ab ins Mauseloch.
So wird das Ganze zu einem Teufelskreis. Und dieser muss behutsam durchbrochen werden.
Ich wünsche euch viel Glück dabei. Ihr werdet es bestimmt schaffen.
Klio