Ich glaube, die Sozialisation durch Bücher ist einem sich immer weiter
verästelnden Zweig zu vergleichen, dessen Biegungen und Wendungen nicht nur
durch
die Qualität des Buches selbst, sondern auch durch die persönliche Vita
geprägt werden. Ich nenne da nur mal ein paar persönliche Wegmarken, die auch
gar nicht unbedingt mit dem Charakter des ‚must‘ daherkommen, aber vielleicht
kann ich daran einiges exemplifizieren:
‚Alice im Wunderland‘ von L. Carroll. Habe ich mir mit etwa 9 Jahren selber vom
Taschengeld gekauft und war seither immunisiert gegen eine Vielzahl kalkulierter
Kinder- und Jugendbücher. Dieses Buch ist aus Liebe und Spontaneität geboren,
das merkt sogar ein Kind.
James Joyce: Ulysses. Viel zu früh zum ersten Mal versucht zu lesen (etwa mit
15), und daran gemerkt, daß ein Buch mit dem Leser wächst, nicht umgekehrt. Was
in einem Buch drinsteht, steht drin, wie auch immer es reingekommen sein mag,
durch Einsatz von Lethe, Liebe oder Leidenschaft, aber ein Leser versteht immer
nur soviel, wie er gerade selber mitbringt an Lebenserfahrung, philologischer
Kenntnis, Allgemeinbildung und so weiter. Deshalb nie ein Buch verdammen, wenn
es unverständlich daher kommt. Es kann trotzdem schlecht sein, muß es aber eben
nicht sein.
Arno Schmidt: Kühe in Halbtrauer. Ähnliches Phänomen wie bei Joyce: Zu
schwierig, weil zu früh. Zudem gibt Schmidt die goldene Regel vor, daß man wohl
immer die schlechtesten Werke eines Autors als erstes in die Finger bekommt -
und die Kühe in Halbtrauer sind ein Zwitterprodukt zwischen dem immer noch
konventionell kontrollierten Früh- und dem ausufernden Spätwerk. Trotzdem: ein
Satz wie: „Sie kraulten sich denkend am Damm“ konnte mich schon als
Pubertierenden ob seiner Doppeldeutigkeit begeistern.
Hubert Fichte: Versuch über die Pubertät. Das war nun wirklich der erste
Volltreffer ins Herz. Möglicherweise mag da eine gewisse geschlechtliche
Disposition eine Rolle gespielt haben, trotzdem würde ich auch heute naoch
behaupten, daß kaum ein mir bekannter deutscher Autor die Sprache bei aller
Verdichtung soweit zur Anschaulichkeit getrieben hat wie er. Empfindlichkeit,
das war sein Stichwort. Über ihn kam ich u.a. zu:
Hans Henny Jahnn: Perrudja, dessen unkontrollierte Energie mir in ihrer schweren
Erdigkeit bei aller berechtigten Kritik am formellen Gesamteindruck (jemand, ich
glaube mein Lehrer in der Buchhändlerakademie benutzte mal den Audruck von einer
'rosa getönten Blut- und Boden-Literatur) heute noch sehr nah am Herzen liegt.
Proust: Auf der Suche… Muß/kann man hierzu noch etwas sagen?
Ezra Pound: Cantos. Für ihn habe ich damals meine Buchhändlerlaufbahn aufgegeben
um Chinesisch zu studieren. Die letzte große ‚Schwärmerey‘, wie Wieland es
genannt hätte, in die ich mich stürzte, um danach irgendwann allem Geschriebenen
zu mißtrauen, ich hätte es denn selbst verbrochen und gutgeheißen, bis auf:
Peter Rühmkorf: Die Gedichte. „Und jetzt gehen wir doch noch über in einen
Bereich / wo die Kultur ihr Recht verloren hat / und keine Kritik mehr zuständig
ist.“ (‚Am grünen Hang entlang‘)