Frage zu Sartres Bewußtseinsphilosophie

Hallo

Es genügt, dass zwei Ameisen auf einer Insel leben, damit man die Insel belebt nennen kann.

Der Satz „Es genügt, dass es Bewusstsein gibt, damit es Sein gibt“, impliziert aber, dass es kein Sein, ohne Bewusstsein gibt …

Nein, wieso. Inwiefern impliziert er das?

  • Ich weiß, dass ich Bewusstsein habe. Was es sonst noch gibt, kann ich nicht wirklich wissen. Aber allein die Tatsache, dass ich Bewusstsein habe, beweist, dass es Sein gibt. -

Wenn es mich und mein Bewusstsein nicht gäbe, aber z. B. die Dinge, die ich sehen und fühlen kann, und von denen ich daher annehme, dass es sie gibt, tatsächlich gäbe, dann gäbe es natürlich auch Sein. - Das kann ich jedoch nicht wissen. Aber eben allein die Tatsache, dass ich ein Bewusstsein habe, genügt schon als Beweis, dass es Sein gibt (für mich; die anderen müssen mit ihrem eigenen Bewusstsein argumentieren).

Viele Grüße

Hallo,

dass Du diese Bemerkung nicht kapiert hast, ist nunmehr bekannt.

Und Du meine Antwort auf die Frage, ebenso nicht und auch dies ist nunmehr bekannt!

Hast Du auch was zur vorgelegten Frage zu sagen?

Ich hatte schon geantwortet!
Sie wohl aber noch nicht!

16BIT

Servus

Wenn es mich und mein Bewusstsein nicht gäbe, aber z. B. die
Dinge, die ich sehen und fühlen kann, und von denen ich daher
annehme, dass es sie gibt, tatsächlich gäbe, dann gäbe es
natürlich auch Sein.

Es gibt auch sein, wenn du oder ich nicht existieren.
Gruß,
Branden

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Ist das hi shi-ryo des Dogen eigentlich noch deckungsgleich
mit dem wu niàn (無念) des Hui Neng bzw. des Plattform-Sutra?
Immerhin liegen ja 600 Jahre dazwischen …

Hallo Metapher,
hier noch die versprochene Antwort nachgeliefert. Zunächst wäre dazu anzumerken, dass ein freier und undogmatischer (um nicht zu sagen unbekümmerter) Umgang mit schriftlichen Überlieferungen ein Grundzug insbesondere der frühen und der klassischen Chantradition sind. Auch, wenn die daran anknüpfende japanische Zentradition vergleichsweise epigonal ist, so ist doch gerade Dogen in dieser Hinsicht eine bemerkenswerte Ausnahme. Dieser freie und kreative Umgang bildet einen merkwürdigen Kontrast zur gleichzeitigen Fixierung auf eben diese Tradition, zur schon fast obligatorischen Bezugnahme auf die ‚Buddhas und Patriarchen‘ und die häufige Versicherung, mit diesen ‚Augenbraue an Augenbraue‘ zu stehen (d.h. in der Lehrdarlegung kein Jota von ihnen abzuweichen). Auch bei Dogen - so originell er in vielerlei Hinsicht ist - ist dies nicht anders.

Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs findet sich in der zentralen Aussage der Chantradition, dass die Doktrin des Chan / Zen (Dharma, Ho - nicht einfach nur eine Doktrin, sondern das ‚Weltgesetz‘ selbst) sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten weit übersteigt; „jenseits von Worten und Schriften“ ist, wie es in der klassischen Formel heisst. Jeder Ansatz, den Dharma (oder einen seiner Aspekte) zu kommunizieren (sei es durch Sprache oder Handlung), ist somit nur upaya (‚geschicktes Mittel‘), ist nur mittelbar. D.h. Ausdruck von Wahrheit nur im Sinne eines perlokutionären Aktes, der als Effekt eine unmittelbare Einsicht in das ‚Unsagbare‘ provozieren soll. ‚Modelle‘ solcher Akte sind natürlich die sog. Gongan / Koan, doch prinzipiell findet sich dies auch in anderen Formen der Lehrüberlieferung dieser Tradition, das Plattform-Sutra und insbesondere Dogens Schriften eingeschlossen. Daraus folgt, dass die schriftliche Lehrüberlieferung zum einen in hohem Maße individuell (d.h. von der Persönlichkeit des Lehrenden) und zum anderen situativ (von den Umständen und der Persönlichkeit des bzw. der zu Belehrenden) geprägt ist. Von daher ist es natürlich unvermeidlich, dass die Herangehensweise verschiedener Meister an bestimmte Aspekte des Dharma ganz erheblich differieren kann. Insofern hat auch Huinengs Auffassung von ‚wu nian‘ nicht den Status eines Dogmas, sie steht auch in der Chan-Tradition weder am Anfang der Behandlung dieses Dharma-Aspektes noch an seinem Ende, wie etwa D.T. Suzuki (in ‚Essays in Zen Buddhism, Third Series‘) schon 1953 gezeigt hat, wo er die Auffassungen von wu nian bzw. wu xin von Bodhidharma, Huineng, Shenhui und Huihai einer vergleichenden Untersuchung unterzieht.

In diese ‚Tradition‘, die jedoch - wie soeben angedeutet - genauer besehen eine Tradition permanenter Neudefinition der Tradition um nicht zu sagen eine Tradition des Traditionsbruchs ist, stellt z.B. Carl Bielefeldt auch Dogen:

„Whether or not Dogen’s practice of fixed sitting inherits the true transmission of the Buddhas, his preference here for metaphysical mystery over mental mechanics succeeds to the orthodox tradition of the Patriarchs, at least from the Sixth Patriarch on. Indeed there seems little to choose between Wei-yen’s „nonthinking“ (fei-ssu-liang) and the Patriarch’s „no-thought“ (wu-nien). Here and elsewhere in the literature the term seems to operate much like its more famous cousin to express the inexpressible state of enlightened cognition. Where the Southern school texts like to define their „no-thought“ as nondiscriminatory thought of suchness, Wei-yen chooses to describe his „nonthinking“ as thinking of not thinking. Where Dogen identifies the „right thought“ of the nondeluded mind with nonthinking, a classical author like Hui-hai prefers to call it no-thought. To this extent the essential art of zazen seems to have become, in the vulgate Fukan zazen gi, nothing more (or less) than fixed sitting in sudden enlightenment.“
(Carl Bielefeldt, Dogen’s Manuals of Zen Meditation, University of California Press 1988, p.148)

Ich persönlich lege bei Dogens ‚hishiryo‘ mein Augenmerk jedoch nicht wie Bielefeldt in diesem Zitat auf die Kontinuität, sondern auf den Traditionsbruch, der sich mir schon in der Wahl des Begriffs zeigt. Dogen verwendet nicht Huinengs eingeführten; das ‚hishiryo‘ (chin. fei siliang) nimmt vielmehr (wenn auch nicht explizit) Bezug auf Jianzhi Sengcans Xinxinming, wo das ‚hishiryo‘ (mW erstmals) als Begriff eingeführt wird. Auch hier beruft sich der Traditionsbruch bezeichnenderweise unausgesprochen auf die Tradition, geht Sengcan als 3. Patriarch doch dem 6. Patriarchen Huineng voran … Überhaupt scheint Dogen das Plattformsutra nicht übermäßig geschätzt zu haben. Auch wenn er (vermutlich als Mitbringsel aus China) eine (heute noch erhaltene) Kopie des Werkes besaß, die entwicklungsgeschichtlich zwischen der frühen Dunhuang-Fassung und der mingzeitlichen Edition des Plattform-Sutras steht und für die Erforschung der Textgeschichte des Sutra von erheblicher Bedeutung ist, so hat er doch in seinen eigenen Schriften kaum Bezug darauf genommen.

Vor allem sollte man meiner Auffassung nach nicht außer Betracht lassen, dass Dogen den hier in Frage stehenden Dharmaaspekt nicht nur mit dem Begriff des ‚hishiryo‘ umreisst, sondern dass dieses ‚hishiryo‘ eng mit Dogens ‚shinjin datsuraku‘ korrespondiert, dem ‚Abfallen von Körper-und-Geist‘ und insbesondere mit Dogens ‚jijuyu zanmai‘. ‚Hishiryo‘ wird in Dogens Schriften in der bekanntesten ‚Fundstelle‘, dem Fukan Zazen Gi, nur fast beiläufig erwähnt. Tiefer gehende Hinweise findet man in Shobogenzo Zazen Shin - dort allerdings auf eine sehr hermetische Weise anhand eines klassischen Koan (mit dem oben von Bielefeldt genannten Yuehshan Weiyen) erörtert, das Dogen freilich wiederum auf sehr ‚unklassische‘ Art interpretiert und kommentiert. Verweise auf ‚shinjin datsuraku‘ (wenig ergiebige freilich) finden sich verstreut in Dogens Werk, meist unter Bezugnahme auf Dogens Meister Juching, dem er dies als zentrale Lehre zuschreibt (wofür sich allerdings keine Belege finden lassen). Den (zumindest aus meiner Sicht) aufschlussreichsten Zugang bildet jedoch ‚jijuyu zanmai‘ - auch dies ein Paradebeispiel für Dogens sehr eigenwilligen Umgang mit der Tradition. ‚Zanmai‘ ist die japanische Entsprechung von ‚Samadhi‘ (grob: geistiger Versenkung), während 'der Begriff ‚jijuyu‘ wiederum der Trikaya-Lehre entlehnt ist, die bei Dogen sonst kaum eine Rolle spielt, schon gar nicht in irgendeiner Weise systematisch ausgestaltet wird. ‚Jijuyu shin‘ bezeichnet den ausschließlich auf sich selbst bezogenen / sich selbst ‚genießenden‘ (in Sartre’scher Diktion: nicht-thetischen) Aspekt des Sambhogakaya Buddhas. Das - die Definition von Zenpraxis als das Samadhi des jijuyu shin - ist nun Dogen pur, ohne (außer in der Begriffswahl) Rekurs auf die Tradition und sie ist eben auch die zentrale Idee im Dogen’schen Denken: der Zusammenfall von Zenpraxis und (ursprünglichem) Erwachen bzw. Zenpraxis als Aktualisierung des Erwachens Buddhas. Es ist die zu Ende gedachte Konsequenz aus der Doktrin allumfassender Buddhanatur. Wenn man nun die Aussagen von Dogens Schriften Shobogenzo Zazen Shin und Shobogenzo Jijuyu Zanmai zueinander in Beziehung setzt, dann stellt sich das ‚hishiryo‘ als zentrales Merkmal des Jijuyu Zanmai dar. Wenn man das traditionelle Konzept wu nian / wu xin mit Dogens ‚hishiryo‘ identifiziert, wofür es zweifellos gute Gründe gibt, so steht es bei Dogen doch in einem neuen, sehr unkonventionellen Kontext.

Mit freundlichen Grüßen,
Ralf

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Hallo,

„hat“ eine „Existenzart“ - was immer das auch sein mag …

um zu wissen, was damit gemeint ist, würde es helfen, Sartre zu lesen.

Was ist „Erkenntnishaltung“ ??? :o)

dito

Das mag arrogant klingen, aber ich halte von dieser Art
Philosophie nicht all zu viel.

Das ist offensichtlich. Ebenso, dass das nicht auf einer näheren Kenntnis „dieser Art Philosophie“ beruht. Urteil hin, Vorurteil her - was Du davon hältst, ist natürlich Deine Angelegenheit. Nur warum Du Dich dann bemüßigt fühlst, bar jeder Sachkenntnis darüber zu diskutieren, erschließt sich mir nicht. Ist nur Zeitverschwendung, deswegen meinerseits EOD.

Freundliche Grüße,
Ralf

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Hallo Branden,

Es gibt auch sein, wenn du oder ich nicht existieren.

a) das beantwortet aber nicht die Frage, warum der Satz „Es genügt, dass es Bewusstsein gibt, damit es Sein gibt“ angeblich implizieren soll, dass es kein Sein, ohne Bewusstsein gibt.

Es handelt sich hier um einen sog. abduktiven Schluss, den Du ziehst - der bekanntlich ebenso wenig zwingend ist wie ein induktiver Schluss. D.h. die Aussage, dass es kein Sein ohne Bewusstsein gibt, wird durch die Aussage „Es genügt, dass es Bewusstsein gibt, damit es Sein gibt“ nicht ausgeschlossen (sie steht nicht im Widerspruch dazu), aber sie folgt nicht zwingend daraus. Übrigens steht auch Dein oben zitierter Satz

Es gibt auch sein, wenn du oder ich nicht existieren.

nicht im Widerspruch zu „Es genügt, dass es Bewusstsein gibt, damit es Sein gibt“. Beide Aussagen schliessen einander nicht aus.

In der Psychologie mag Logik ja möglicherweise verzichtbar sein, in der Philosophie gilt das jedoch nicht.

b) ist das eine nette Überzeugung. So lange Du das aber nicht allgemein nachvollziehbar begründen (besser noch: beweisen) kannst, ist das keine philosophische, sondern lediglich eine Glaubensaussage. Nicht, dass ich diesen Glauben nicht teilen würde - aber ich weiss zumindest, dass es nicht mehr als ein Glaube ist.

Freundliche Grüße,
Ralf

Hallo Ralf,

Wer gezwungen ist, eine (kurze) Aussage durch lange Erläuterungen, Referate usw.
verständlich zu machen, hat sie nicht verstanden.
Und i. R. trifft dies auch zu, wenn man glaubt, in der „genauen“ Übersetzung solcher
Aussagen deren Bedeutung (oder die Intention des Autors) zu erfassen.

Gruß Viktor

PS.
Nun gut - die „Schriftgelehrten“ müssen ja ihre Eitelkeit irgendwie pflegen.

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Hallo,

Nur warum Du Dich dann bemüßigt fühlst, bar
jeder Sachkenntnis darüber zu diskutieren, erschließt sich mir
nicht. Ist nur Zeitverschwendung, deswegen meinerseits EOD.

Das mag ich Dir noch beantworten.
Das Zitat das Du gepostet hast besteht auf Sätzen mit bekannten Worten. Das Zitat lässt sich problemlos verstehen. Es sei denn, den bekannten, gebräuchlichen Worten wurden im Vorfeld neue, fremde Definitionen zugewiesen. Was aber wohl völlig unsinnig wäre.
Insofern sind meine Fragen „Was ist Erkenntnishaltung/Existenzart“ rhetorisch und sollten lediglich auf die künstliche Verkomplizierung hinweisen. Zumindest auf die „Existenzart“ bin ich ja auch näher eingegangen.
Das Schlimme ist also - man kann verstehen war er schreibt :o). Es ist viel Unsinn. Aber dort, wo selbst Du das zugegeben hast (das Ende des unendlichen Prozesses) suchst Du dann den Fehler nicht bei Satre sondern beim Übersetzter … Es kann halt nicht sein, was nicht sein darf. Und es sind halt super neue Kleider die der Kaiser trägt. Die ganze Menge jubelt ihm schließlich zu.

Doch es gibt ja mehrere Möglichkeiten denen so ein Text dient.
Die einen verdienen damit ihr Geld. Sei es das sie ihn schreiben, interpretieren, etwas über den Kontext erzählen etc.
Andere nutzen ihn als elaborierten Code um sich abzugrenzen und ihr Selbstwertgefühl aufzubauen.
Wieder andere suchen aber leider in solchen Texten Erkenntnis. Also das, „was die Welt im innersten zusammen hält“.
Und letztere werden von dieser Art Philosophie regelmäßig enttäuscht.

Deine Beweggründe kenne ich natürlich nicht.
Aber ich hatte ja auch mit dem Hinweis eingeleitet mit: „Auch wenn das jetzt nichts mehr mit Deinem Posting zu tun hat …“

Grüße
K.

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Hallo Ralf

b) ist das eine nette Überzeugung. So lange Du das aber nicht
allgemein nachvollziehbar begründen (besser noch: beweisen)
kannst, ist das keine philosophische, sondern lediglich eine
Glaubensaussage. Nicht, dass ich diesen Glauben nicht teilen
würde - aber ich weiss zumindest, dass es nicht mehr als ein
Glaube ist.

Das hat mit Glauben überhaupt nix zu tun - das ist reine Empirie. Einige Leute, die ich gut kannte, sind mittlerweile gestorben und die Welt - das Sein der Welt - war dadurch wenig beeinflusst. Nicht anders wird es sein, wenn du oder ich sterben.
Glauben wäre eher das Gegenteil anzunehmen - hier handelt es sich um eine wiederholte Erfahrung, die man getrost ebenfalls als eine Form der Logik bezeichnen darf.
Gruß,
Branden

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Der originale Text
Hi Ralf

hier der originale Text aus dem Vortrag:
Da ich gerade anderweitig involviert bin, erstmal „nur so“:

Quels sont les caractères de cette conscience? C’est qu’il suffit qu’il y ait conscience pour qu’il y ait être, à la différence de la connaissance. Car, il ne suffit pas qu’il y ait connaissance pour qu’il y ait être. Si vous connaissez une chose ou une vérite, vous êtes renvoyé, comme nous l’avons vu, à un procès infini, au bout duquel seulment vous saurez si l’objet était être, car d’un bout à l’autre ce pouvait être une erreur. Le fait d’être en attitude de connaissance, comme Newton vis-à-vis de la conception de l’émission dans la théorie de la lumière, n’implique nullement qu’il ait révélation d’un être. C’est un être seulement probable, et dont le type d’existence est probabilité.

Um das schon mal vorab zu erwähnen: Es ist zu lexikalisch übersetzt. Es müßte stattdessen heißen: „… an dessen Ende Sie erst wissen werden …“ und zwar als façon de parler für „…Sie erst wissen würden“. Und ferner nicht „von einem Ende zum anderen …“, sondern „Von Anfang bis Ende …“

Daneben nochmal das Zitat der dt. Ausgabe.

„Es genügt, daß es Bewußtsein gibt, damit es Sein gibt, im Unterschied zur Erkenntnis. Denn es genügt nicht, daß es Erkenntnis gibt, damit es Sein gibt. Wenn Sie eine Sache oder Wahrheit erkennen, werden Sie, wie wir gesehen haben, auf einen unendlichen Prozeß verwiesen, an dessen Ende sie nur wissen werden, ob das Objekt Sein war, denn von einem Ende zum anderen konnte es ein Irrtum sein. In Erkenntnishaltung sein, wie Newton gegenüber der Konzeption der Ausstrahlung in der Theorie des Lichts, impliziert keineswegs die Enthüllung seines Seins. Es ist ein nur wahrscheinliches Sein, dessen Existenzart Wahrscheinlichkeit ist.“

Gruß
Metapher

fei si liang
Hallo Ralf,

zuerst einmal herzlichen Dank für die umfangreiche und detailreiche Antwort.

dass ein freier und undogmatischer (um nicht zu sagen unbekümmerter) Umgang mit schriftlichen Überlieferungen ein Grundzug insbesondere der frühen und der klassischen Chantradition sind.

Soweit war mir das schon aus dem Liu Zu Tan Jing und nicht zuletzt auch aus dem Bi Yan Lu bewußt.

Dieser freie und kreative Umgang bildet einen merkwürdigen Kontrast zur gleichzeitigen Fixierung auf eben diese Tradition, zur schon fast obligatorischen Bezugnahme auf die ‚Buddhas und Patriarchen‘ …

Die Auflösung dieses scheinbaren Widerspruchs findet sich in der zentralen Aussage der Chantradition, dass die Doktrin des Chan … sprachliche Ausdrucksmöglichkeiten weit übersteigt; „jenseits von Worten :und Schriften“ ist

So ist es. Und das hat sich, wie mir scheint, ja auch in der Entstehungslegende des Tan Jing niedergeschlagen: Der Wanderer (Hui Neng), der von nichts eine Ahnung hat, nicht einmal lesen, geschweige denn schreiben kann, sich als Reinigungskraft im Kloster verdingt - und dann den entscheidenden Schlüsselvers der Aufgabenstellung des 5. Chan-Patriarchen an die Wand schreiben läßt.

Insofern hat auch Huinengs Auffassung von ‚wu nian‘ nicht den Status eines Dogmas, sie steht auch in der Chan-Tradition weder am Anfang der Behandlung dieses Dharma-Aspektes noch an seinem Ende

Das ist mir schon klar. Ich sehe jedoch die Begriffsentwicklung des Chan zwischen dem 3. Patriarchen (Seng Can) und dem 6. (Hui Neng) im Gewebe mehrerer Strömung:

    1. Einerseits die Ansätze von Bodhidharma selbst in der Linie von Nagarjuna und Yoga („chan“ ist ja die chin. Form von „dhyana“).
    1. Dann diejenige Chan-Tradition, die wesentlich auf der Säule des Lankavatara-Sutra ruht.
    1. Ferner die cittamatra Lehre, die ebenfalls das Lanka Sutra als Grundsubstanz hat, und die in China dann für 2 oder 3 Jahrhunderte in Form der Fa Xiang Schule (dem einzigen radikalen Idealismus, den es je weltweit gab) parallel, aber wohl nicht in Konkurrenz, zum Chan lebendig war.
      -4. Und dann vor allem natürlich der Daoismus, dessen Nähe zum Chan unverkennbar ist, und vielleicht als der Boden anzusehen ist, auf dem Chan so schnell in China wachsen konnte. Spätestens im auch von dir erwähnten Xin Xin Poem (egal ob es wirklich von Seng Can verfaßt wurde, es stammt jedenfalls aus dessen Zeit) kann man ja ein regelrechtes Amalgam von Chan und Daoismus erkennen. Vielleicht kann man sogar sagen, mit dem Xin Xin Ming ist spätestens dieses Dao-Chan-Amalgam manifest geworden.

Und gerade in dieser ideengeschichtlichen Verwandtschaft Fa Xiang / Daoismus / Chan sehe ich die Begriffe fei si liang (非思維) bzw wu nian (無念) als den verbindenden Kern an. Das ist auch die Epoche der chinesischen Ideengeschichte, die mich besonders interessiert, Dogen liegt derweil aktuell nicht auf meinem Weg. Deshalb mein Interesse an deiner Erwähnung eines seiner Kernbegriffe.

Und wenn du nun darauf hinweist, das jap. hi shiryo entspreche dem chin. fei si liang (dass es die Übersetzung ist, bedeutet ja noch nicht, dass die Begriffe identisch sind), dann kann ich den von dir pointierten Traditionsbruch nicht so recht erkennen. Denn du erwähnst ja selbst, dass Dogen auf das Xin Xin Ming verweist (Auch wenn 非思維 dort nicht wörtlich vorkommt).

Wenn man mal davon absieht, dass der Unterschied von 非思維 und dem 無念 des Hui Neng erst auf einer subtileren Interpretattionsebene zum Tragen kommt, dann ist Hui Neng natürlich durchaus konsistent mit dem, was bei ihm bereits Tradition ist. Und in der spielt der absolute Idealismus des cittamatra der Fa Xiang Schule sehr entscheidend hinein.

Das war der Hintergrund für meine Frage an dich. Denn das bedeutet, dass diese Kernsubstanz sich auch in der Überfahrt des Chan zum jap. Zen erhalten hat.

Nochmal herzlichen Dank und schönen Gruß
Metapher

Hallo Metapher,

vielen Dank für den Originaltext des Zitates, das ist in der Tat erhellend. Der ‚Stein des Anstoßes‘ reduziert sich damit für mich zunächst auf einen einzigen Buchstaben („sauriez“ statt „saurez“). Als ‚façon de parler‘ ist das ebenfalls nachvollziehbar (ebenso natürlich als Versehen bei der Redaktion des Textes), schließlich handelt es sich ja um das Protokoll eines mündlichen Vortrags. Wobei hier ein Konjunktiv - wie du andeutest - nicht einmal zwingend stehen müsste; entscheidend ist, dass sich das „seulment“ auf „bout“ bezieht und nicht „vous saurez“. Also in etwa: " erst (seulment) am Ende des unendlichen Prozesses werden (bzw. würden) sie wissen …" statt „am Ende des unendlichen Prozesses werden sie nur (seulment) wissen …“. Wobei das „bout“ per definitionem natürlich unrreichbar ist …

Damit ist auch das mit der von mir angesprochenen „Stilblüte“ erklärt, die erst im Deutschen richtig voll erblüht (Ende / unendlicher Prozess für bout / procès infini). Wobei dem, der sich die Unbequemlichkeit zugemutet hat, das Zitat in seinem Kontext zu prüfen, bevor er darüber schwadroniert, natürlich klar ist, dass der „unendliche Prozess“ kein „endloser Prozess“ ist, sondern vielmehr ein infiniter Regress … Aber was kümmern einen großen Geist solche Details …

Freundliche Grüße,
Ralf

Hello Metapher,

dazu noch zwei Anmerkungen.

    1. Ferner die cittamatra Lehre, die ebenfalls das Lanka
      Sutra als Grundsubstanz hat, und die in China dann für 2 oder
      3 Jahrhunderte in Form der Fa Xiang Schule (dem einzigen
      radikalen Idealismus, den es je weltweit gab) parallel, aber
      wohl nicht in Konkurrenz, zum Chan lebendig war.

Es gibt da einige Differenzen, die zu einer wechselseitigen Abgrenzung (auch in Japan zwischen Zen und Hosso) führten. insbesondere sind dies die Auffassungen der Beziehung zwischen ‚Soheit‘ (tathatā) und Merkmal (laksana) der dharmas und - soterologisch bedeutsamer - von der Universalität der Buddhanatur (verbunden mit der Frage der Icchantika). Im Chan (und entsprechend im koreanischen Son und japanischen Zen) wurde das cittamatra daher eher über das Mahyana Shraddotpada Shastra rezipiert, das cittamatra -Gedankengut mit Ideen zur Buddhanatur amalgamiert (und aller Wahrscheinlichkeit nach - obwohl Ashvagosha zugeschrieben - erst in China entstand).

Und wenn du nun darauf hinweist, das jap. hi shiryo entspreche
dem chin. fei si liang (dass es die Übersetzung ist, bedeutet
ja noch nicht, dass die Begriffe identisch sind)

Das ist zweifellos richtig.

dann kann
ich den von dir pointierten Traditionsbruch nicht so recht
erkennen. Denn du erwähnst ja selbst, dass Dogen auf das Xin
Xin Ming verweist (Auch wenn 非思維 dort nicht wörtlich
vorkommt).

Möglicherweise haben wir da ein Missverständnis. Dogen verweist nicht direkt auf Sengcan und das Xinxinming, sondern auf Yueshan Weiyan und damit implizit auf Sengcan. Das 非思 Yuehshans findet sich erstmals im Xinxinming - und genau diesen Begriff (nicht 非思維) verwendet auch Dogen.

„Traditionsbruch“ - vielleicht ein in diesem Zusammenhang etwas zu starker Begriff - ist der von mir angedeutete Kontext, in dem bei Dogen das 非思量 steht.

Freundliche Grüße,
Ralf

Hallo Branden,

Das hat mit Glauben überhaupt nix zu tun - das ist reine
Empirie.

um das tatsächlich empirisch zu prüfen, wirst Du schon selbst sterben müssen … Und selbst dann kannst Du diesen Glauben bestenfalls falsifizieren :wink: .

Einige Leute, die ich gut kannte, sind mittlerweile
gestorben und die Welt - das Sein der Welt - war dadurch wenig
beeinflusst.

Das einzige, was Du sagen kannst ist, dass das, was die Welt für Dich ist, dadurch wenig beeinflusst war. Was, wenn diese Leute nicht mehr waren als Projektionen Deines eigenen Geistes? Wie beweist Du Dir selbst, dass Du nicht halluzinierst? Z.B. dieses Posting hier?

Nicht anders wird es sein, wenn du oder ich
sterben.

Das ist eben keine Empirie, sondern eine Annahme. In der Form, in der Du das hier vorträgst: eine Prophezeiung.

Glauben wäre eher das Gegenteil anzunehmen

‚Glaube‘ ist beides. Der Solipsismus ist zwar ein wenig populärer Glaube, aber nicht per Beweis widerlegbar.

  • hier handelt es
    sich um eine wiederholte Erfahrung, die man getrost ebenfalls
    als eine Form der Logik bezeichnen darf.

Autsch!

Gruß,
Ralf

Servus

Das einzige, was Du sagen kannst ist, dass das, was die Welt
für Dich ist, dadurch wenig beeinflusst war. Was, wenn diese
Leute nicht mehr waren als Projektionen Deines eigenen
Geistes? Wie beweist Du Dir selbst, dass Du nicht
halluzinierst? Z.B. dieses Posting hier?

Mein derzeitiger Gesundheitszustand.
Wäre ich psychotisch, würde ich vielleicht wirklich die von dir dargestellten Annahmen übernehmen.
Gruß,
Branden

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Hallo

Wäre ich psychotisch, würde ich vielleicht wirklich die von dir dargestellten Annahmen übernehmen.

Hast du dich wirklich noch nie mit Philosophie beschäftigt? Nicht mal Descartes „Ich denke, also bin ich?“ Gar nichts dergleichen, nur ‚gesunder Menschenverstand‘?

Für mich kommt deutlich zum Ausdruck, dass du das nicht kennst (im Gegensatz zu ‚kennen, aber nicht für richtig halten‘).

Ich dachte, wenigstens Descartes und Kant kämen an allen höheren Schulen einmal vor.

Viele Grüße

Servus

Wäre ich psychotisch, würde ich vielleicht wirklich die von dir dargestellten Annahmen übernehmen.

Hast du dich wirklich noch nie mit Philosophie beschäftigt?

Ich beschäftige mich seit 1970 mit Philosophie, meine Gute.

Nicht mal Descartes „Ich denke, also bin ich?“ Gar nichts
dergleichen, nur ‚gesunder Menschenverstand‘?

Ganz im Gegenteil. Mit dem üblichen „gesunden Menschenverstand“ habe ich nicht viel am Hut.

Für mich kommt deutlich zum Ausdruck, dass du das nicht kennst
(im Gegensatz zu ‚kennen, aber nicht für richtig halten‘).

Da liegst du halt falsch.

Ich dachte, wenigstens Descartes und Kant kämen an allen
höheren Schulen einmal vor.

Ich kenne selbstredend das Zeug. Und ich schätze so einige Philosophen sehr.
Trotzdem denke ich selbständig und lasse mir nicht von Subjektivisten das Gehirn waschen. Und ich übernehme schon gar nicht irgendwelche blassen Theorien, die mich nicht überzeugen.
Gruß,
Branden

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Hallo

Nicht mal Descartes „Ich denke, also bin ich?“ …
Für mich kommt deutlich zum Ausdruck, dass du das nicht kennst (im Gegensatz zu ‚kennen, aber nicht für richtig halten‘).

Da liegst du halt falsch.

Also, nur zur Erinnerung:
Es geht lediglich um diesen einen Satz: „Es genügt, daß es Bewußtsein gibt, damit es Sein gibt“, von dem du den Eindruck machst, ihn nicht verstanden zu haben, indem du geschrieben hast, es würde in ihm behauptet, dass es kein Sein ohne Bewusstsein geben könne.

Es geht um keine Theorien, sondern lediglich um das Verständnis dieses Satzes.

Trotzdem denke ich selbständig und lasse mir nicht von Subjektivisten das Gehirn waschen. Und ich übernehme schon gar nicht irgendwelche blassen Theorien, die mich nicht überzeugen.

Viele Grüße

Hi

Also, nur zur Erinnerung:
Es geht lediglich um diesen einen Satz: „Es genügt, daß es
Bewußtsein gibt, damit es Sein gibt“

Du brauchst mich nicht zu erinnern - wir werden uns über den Sinngehalt dieses Satzes wohl nicht einig werden.
Gruß,
Branden

consciousness-only und no-thought
Hallo Ralf,

    1. Ferner die cittamatra Lehre, die ebenfalls das Lanka Sutra als Grundsubstanz hat, und die in China dann für 2 oder 3 Jahrhunderte in Form der Fa Xiang Schule (dem einzigen radikalen Idealismus, den es je weltweit gab) parallel, aber wohl nicht in Konkurrenz, zum Chan lebendig war.

Es gibt da einige Differenzen, die zu einer wechselseitigen
Abgrenzung (auch in Japan zwischen Zen und Hosso) führten.

Soweit schon klar.

insbesondere sind dies die Auffassungen der Beziehung zwischen ‚Soheit‘ (tathatā) und Merkmal (laksana) der dharmas … Im Chan … wurde das cittamatra daher eher über das Mahyana Shraddotpada Shastra rezipiert

Auch klar, das ist ja eines Hauptthemen des Mahayana Shraddhotpada Shastra. Ich dachte jedoch - neben dem Daoismus - an einen weiteren Einfluß auf die Chan-Entwicklung durch die Vijñānavāda-Tradierung nach China und die darauf aufbauende Fa Xiang Schule. Und zwar wegen des begrifflichen Zusammenhangs zwischen vijñapti-mātra / citta-matra (唯識, consciousness-only) und wu nian / fa si liang (no-thought, non-thinking). Die Abgrenzung dürfte schon deshalb erfolgt sein, weil Fa Xiang mehr oder weniger eine explizite Erkenntnistheorie war (dem europäischen Solipsismus ähnlich, aber der kam hier ja nirgendwo über den Status eines Gedankenexperimentes hinaus).

dass Dogen auf das Xin Xin Ming verweist (Auch wenn 非思維 dort nicht wörtlich vorkommt).

Das 非思 Yuehshans findet sich erstmals im Xinxinming - (nicht 非思維)

Oups. mein Fehler. Danke für den Hinweis.

Schönen Gruß
Metapher