Liebe Sylvester,
vorab möchte ich sagen, dass es mir auch recht schwer fällt, mich aufgrund deiner Beschreibungen in eure Situation hineinzuversetzen. Aber so ein Hineinversetzen, halte ich für nötig, um hier ein paar Ratschläge geben zu können. So bleibt mir eigentlich nichts anderes übrig, als entweder gar nichts zu sagen, oder mir eine Situation auszumalen, wie sie vielleicht auf euch zutreffen könnte, auch auf die Gefahr hin, dass ich total daneben liege.
Ich möchte mal ganz vorsichtig vor allem auf das hier eingehen:
Aber ich habe es nicht verstanden, nur einen Rat zu erteilen
und die Angelegenheit dann aus der Hand zu geben. Mein Gefühl
war aber immer, dass es für meine Tochter und meine Nichte
sehr angenehm war. Immer wieder fragte an mich seit 1972 um
Rat und hat nie kritisiert, dass ich mich evtl. „zum Herrn des
Verfahrens“ - ungewollt - gemacht habe.
Leider, leider habe ich das auch nicht so gesehen. Dieses
könnte eine wesentliche Rolle spielen.
Ich finds fast ein wenig erstaunlich, wie schnell du hier deine „Schuld“ an der Situation einsiehst und dich ändern möchtest. Meist begegnet einem (grade hier im Forum) eher das Gegenteil und Fragende weisen jede Schuld von sich. In diesem Sinne finde ich es gut, dass du erkennst und dir eingestehst, dass dein Umgang mit Tochter und Nichte, wohl irgendwie ausschlaggebend für den Kontaktabbruch waren. Ich hoffe jetzt nur, dass du es mit der Schuldeinsicht nicht übertreibst und dich damit quälst.
Ich denke, bei solchen Problemen greifen immer ganz verschiedene Faktoren ineinander. Du schreibst ja, dass sowohl deine Tochter als auch deine Nichte erstmal deine Hilfe anscheinend gern und dankbar angenommen haben und den Kontakt dann wie aus heiterem Himmel komplett abbrachen. Ich könnte mir vorstellen, dass vielleicht beide nicht so ein zupackender oder lösungsorientierter Typ sind, wie du. Natürlich ist man da froh, wenn das jemand anders für einen übernimmt. Ich denke aber, dass man als Erwachsener damit auf Dauer unzufrieden ist. Das nagt am Selbstwertgefühl. „Warum krieg ich das nicht allein auf die Reihe?“ Noch schwerer, als dieses „allein auf die Reihe kriegen“, scheint es mir in so einer Situation zu sein, sich seine Selbstständigkeit peu a peu (gegen einen „zu“ zupackenden Helfer) zu erarbeiten. Man bräuchte in so einer Situation einen Helfer, der sich auch immer wieder und evtl. immer weiter zurückzieht, damit der andere gezwungen ist, auch mal was allein auf die Reihe zu kriegen. Der „Hilfsbedürftige“ spürt zwar evtl. (unterbewusst), dass es wichtig wäre, ein paar Sachen selbst anzupacken, kann das aber einfach nicht, wenn ihm jemand hilft. Es ist doch ungleich schwerer, etwas was einem schwerfällt allein anzupacken, wenn man jemanden hat, der das für einen erledigt, als wenn man gezwungen ist, es allein anzupacken. Ich kann mir sehr gut vorstellen, dass man da jahrelang drunter leidet. Dass man sich immer und immer wieder helfen lässt und dafür auch unglaublich dankbar ist, aber einen das immer weiter runter zieht. Die einzige Möglichkeit da rauszukommen, ist dann wohl tatsächlich ein fast vollständiger Kontaktabbruch. So kommt man nicht mehr in die Versuchung, Hilfe anzunehmen. Verständlicherweise leidet auch diejenige, die den Kontakt abgebrochen hat darunter, aber es ist die einzige Möglichkeit für sie, ein Leben zu führen, bei dem sie sich nicht immer unfähiger und dümmer und wertloser fühlt. Ansonsten ist es ihr wohl unmöglich, deine Hilfe nicht in Anspruch zu nehmen. Wie eingangs gesagt, sind das alles Spekulationen, ob du was davon wiedererkennst, musst du selber wissen.
Wie verändere ich mein Naturell? Persönlich stellt man das
fest, wenn es schon zu spät ist.
Hast Du eine Ahnung, ob und wo man das analysieren lassen
kann.
Dieser Teil meines Naturells wäre ja für mein weiteres Leben
sehr schlecht und wahrscheinlich würde ich immer wieder mir
liebgewonnene Menschen verlieren.
Ich kann nicht einschätzen, ob es nötig ist, zu einem Psychologen zu gehen. Es kann wahrscheinlich nicht schaden. Ich möchte an dieser Stelle noch ein paar Spekulationen loswerden.
Ich hab den Eindruck, dass dieses Gefühl, gebraucht zu werden, unglaublich wichtig für dich ist. Überleg dir mal ganz ehrlich, wie es dir gehen würde, wenn deine Tochter und Nichte, zwar noch regelmäßigen Kontakt zu dir hätten, aber deine Hilfe oder deinen Rat ganz und gar nicht mehr nötig hätten. Wenn sie nur vorbeikommen, oder dich einladen würden, um einfach einen schönen Tag zu verbringen. Ganz ohne, dass sie dir irgendwas von Problemen oder Nöten erzählen. Wäre das toll, oder spürst und ein ganz klein wenig, dass das schwierig wäre für dich?
Wenn ich damit richtig liege, könnte ein erster Schritt für dich vielleicht sein, dass du dir was anderes suchst, wo du dich engagieren kannst. Wichtig fände ich aber auch, dass du deinen Selbstwert nicht davon abhängig machst, was du für andere tun kannst. Wenn du dich jetzt einfach ganz viel z. B . ehrenamtlich engagierst, verlagerst du das Problem nur. Vielleicht können da eher „egoistische“ Hobbys hilfreich sein. Irgendwas, wo das was du dabei schaffst oder erreichst, nur für dich ist. Ich glaube nicht, dass du damit von heute auf morgen dein Naturell ändern kannst. Aber das soll (denke ich) auch nicht das Ziel sein. Aber es hilft vielleicht zu ein bisschen mehr Gelassenheit und Selbstzufriedenheit.
Liebe Grüße und alles Gute
M.