'Wir haben den Vorplatz observiert gehabt'

Hallo Sprachexperten!
Mich interessiert nicht, wie schrecklich ihr diese Wendung findet, sondern warum manche Menschen dieses unselige, unsinnige „gehabt“ anhängen! Welchen kommunikativen (psychologischen) Zweck verfolgen sie damit?
Heute in der Gerichtsverhandlung trat ein junger Polizist als Zeuge auf:
„Wir haben den Vorplatz oberserviert gehabt“, meldete er. Und ein wenig später, diensteifrig: „Ich hab´ es aufgeschreiben gehabt!“
Soll das formaler, bedeutsamer klingen?
Was meint ihr?
Christian

Süddeutsches Plusquamperfekt

„Wir haben den Vorplatz oberserviert gehabt“, meldete er. Und
ein wenig später, diensteifrig: „Ich hab´ es aufgeschreiben
gehabt!“
Soll das formaler, bedeutsamer klingen?

Nein! Das, lieber Christian, ist ein ganz korrekt gebildetes süddeutsches Plusquamperfekt.

Zustande kommt es so:

In manchen süddeutschen Dialekten wird das Präteritum einfach nicht benutzt.

Ich schlief = ich habe geschlafen,
ich sah = ich habe gesehen etc.

Und man geht soweit, dass nicht einmal die Hilfs- und Modalverben, die sonst fast nur im Präteritum gebraucht werden, dieser Perfektierung entgehen.

Ich hatte = ich habe gehabt,
ich war = ich bin gewesen,

So ist es diesen Leuten nicht möglich zu sagen:

Wir hatten observiert. oder Ich hatte es aufgeschrieben.

Statt der Form „ich hatte …“ wird also „ich habe … gehabt“ gesagt.

Wir hatten observiert => Wir haben observiert gehabt.
Ich hatte es aufgeschrieben. => Ich habe es aufgeschrieben gehabt.

Lass dir das mal im Konjunktiv II der Vergangenheit ausrechnen. :wink:

Gruß Fritz

Hallo Sprachexperten!
ein wenig später, diensteifrig: „Ich hab´ es aufgeschreiben
gehabt!“

Er hat es aufgeschreibt gehabt.

Soll das formaler, bedeutsamer klingen?
Was meint ihr?
Christian

Da der junge Polizist wahrscheinlich zum ersten Mal vor Gericht stand, war er etwas aufgeregt und hatte Worte lieber wiederholt.

Servus Fritz,

vielen Dank dafür!

Und noch einen besonders schönen, nämlich den riedhessischen, in dem das 2. Hilfsverb sogar noch in eine Art Akkusativ dekliniert wird: „Ich honn ihm gegebb gehadde!“ - Klingt in schriftdeutscher Umschrift „Ich habe ihm gegeben gehabten“ schon recht bedeutsam.

  • Die Gravität des Riedochsen wird vom gestandenen Filsbächer allerdings eher trocken quittiert: „Dir wer ich geh gehadde…“

Sey gegrüszt!

MM

war gewesen
Hallo Christian,

bei meiner hessischen Schwägerin „war“ nie etwas, immer heißt es bei ihr „war
gesesen“. Ich finde dies besonders erwähnenswert, da ich als Schwabe zwar nie ein
Imperfekt verwende, sondern immer das Perfekt (auch kein Plusquamperfekt) – doch
„war“ gibt es schon bei uns, neben „ist gewesen“ – im Gegensatz zu hatte, das ist
uns wieder fremd, da gibt’s nur ein „habe gehabt“.

Ciao
Bolo2L

Hallo Christian,
ich kann nur vermuten. Nach Beobachtung der Meister des Plusquamperfektes glaube ich, es könnte sich dabei um eine Menschengruppe handeln, die etwas beschlossen, besiegelt, beendet, abgehakt, fix und fertig wissen will.Dies sprachlich zu erledigen, erleichtert und befreit von der endgültigen, erfolgreichen Umsetzung in der Realität. Hier und an dieser Stelle möchte ich auf andere sprachliche Wendungen hinweisen, die in Mode kommen, ohne inhaltlich notwendig zu sein. Eine Zeitlang fand sich in jeder Politikerrede ein „in der Tat“. Das geschah - wann ? Zu Zeiten größter Stagnation. Im Abklingen begriffen ist das „wir haben dasunddas Problem in trockenen Tüchern“ - als in der Politik das Wasser zum Halse trat und Ratlosigkeit um sich griff. Ich vermute also, daß viele eigentlich nicht erhellende Sprachgebräuche einem inneren Bedürfnis entsprechen - kommen sie in Mode, dann entspricht es dem Bedürfnis ganzer (oft eigentlich hilf-und ratloser)Gruppen.
Nicht gültig ist diese Betrachtungsweise für den süddeutschen Sprachbenutzer; den möchte ich bitte implizit wie explizit ausgenommen wissen. Man sollte dort in der Tat einmal die Muttermilch untersuchen. Aber vielleicht hat man das schon getan gehabt. M.fr.Gr. I.R.

Meine Güte!

Nicht gültig ist diese Betrachtungsweise für den süddeutschen
Sprachbenutzer; den möchte ich bitte implizit wie explizit
ausgenommen wissen. Man sollte dort in der Tat einmal die
Muttermilch untersuchen. Aber vielleicht hat man das schon
getan gehabt.

Kommentar s. o.
Fritz

1 Like

Hallo,
eine sehr interessante Frage, wie ich finde. Vor allem der Hinweis in deinem ersten Satz. Denn diese ganzen Beschwerden über die neue Rechtschreibung hängen zumindest mir echt zum Hals raus. :smile:

Eine Freundin von mir hat in DaF erst kürzlich ihre 80-seitige Magisterarbeitarbeit geschrieben (gehabt). Sie trug den Titel: „Das hab ich nicht so gesagt gehabt!“. :smile: Sie hat darin untersucht, warum die Menschen (und auch welche) diese Form (‚Doppelperfekt‘; es gibt auch ‚Doppelplusquamperfekt‘) benutzen. Dazu hat sie Wochenlang bis zum Erbrechen Talkshows geguckt und aufgenommen und dann die Sätze in ihren jeweiligen Kontexten analysiert.
Vielleicht stellt sie ihre Arbeit ja mal irgendwann ins Netz, wäre zumindest sehr interessant.

Einer der Gründe ist wohl, dass einem, während man einen Satz artikuliert, einfällt (natürlich nur un(ter)bewusst), dass hier die Vorvergangenheit passender wäre bzw. man plötzlich findet, dass er noch nicht vergangen genug ist… so wird dann einfach an die Partizipform noch ein weiterer Partizip angehängt.
Aber ich finde die 1. Erklärung weiter unten schon sehr plausibel, dass es in einigen Regionen praktisch kein Präteritum und damit auch kein richtiges Plusquamperfekt gibt.

Gruß,

  • André