Unterscheidung Realität / Wirklichkeit

Hallo!

Wird da ein Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit gemacht?

Ich verstehe es so (persönliche Meinung/Verständnis):
Realität ist etwas, was man persönlich oder kollektiv wahr nimmt.
Wirklichkeit ist das was auch wirkt.

Beispiel für Realität:
„Für mich ist Gott nicht real.“

Könnte man auch so formulieren:
„Ich nehme Gott nicht wahr.“ (???)

Beispiel für Wirklichkeit:
„Die Schwerkraft ist eine Wirklichkeit.“

anders formuliert:
„Die Schwerkraft wirkt.“ (zieht den Apfel zum Erdmittelpunkt)

Wie seht ihr das?

ciao
catmad

Hallo,

Wird da ein Unterschied zwischen Realität und Wirklichkeit gemacht?

selten, aber man kann ihn schon sinnvoll machen:

„Realität“ kommt von „res“ (= „Sache“, „Ding“) und betont die „Dinghaftigkeit“, also den Substanzcharakter (Ding/Eigenschaft) der Wirklichkeit.

„Wirklichkeit“ kommt von „wirken“ und betont die „Prozesshaftigkeit“, also den Kausalcharakter (Ursache/Wirkung) der Realität.

Beide Begriffe bezeichnen also jeweils einen anderen Aspekt am Seienden, wobei die Begriffe schon höhere Reflexionsstufen bezeichnen:

res = Sach e ; realitas = Sach lichkeit
wirk en ; Wirk ung ; Wirk lichkeit

Die begriffliche Unterscheidung geht auf Meister Eckhart zurück, der mit dem Begriff „Wirklichkeit“ den lat. Begriff „actualitas“ übersetzte, was wiederum zurückgeht auf Thomas von Aquin, der mit dem Begriff „actualitas omnium actuum“ Gott bezeichnen wollte (als potenzielle „Wirklichkeit aller möglichen Dinge“, etwas vereinfacht ausgedrückt).

Literatur: William J. Hoye, Actualitas omnium actuum. Man’s Beatific Vision of God As Apprehended by St. Thomas Aquinas; Meisenheim am Glan 1975 (Diss. Münster/Westf. 1970) -> der Autor: http://fb02.uni-muenster.de/fb02/lehrer/hoye/

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Wirklichkeit - Entelechie
Hi Thomas

Die begriffliche Unterscheidung geht auf Meister Eckhart
zurück, der mit dem Begriff „Wirklichkeit“ den lat. Begriff
„actualitas“ übersetzte, was wiederum zurückgeht auf Thomas
von Aquin, der mit dem Begriff „actualitas omnium actuum“ Gott
bezeichnen wollte (als potenzielle „Wirklichkeit aller
möglichen Dinge“, etwas vereinfacht ausgedrückt).

Genau genommen übersetzt Meister Eckart mit wercelicheit die aristotelische entelécheia (alias enérgeia), das ja ebenso von Aristoteles als Kunstwort in das Attische eingeführt wurde wie Meister Eckart das seinige ins Deutsche. Aristoteles bestimmt die entelécheia im Gegensatz zu dynamis in seiner Physikvorlesung …

Dazu gibt es eine Publikation von mir:
„kínesis. Improvisationen zu einem Thema von Aristoteles“
in: „Festschrift für Ullrich Sonnemann“, Kasseler Philosophische Schriften. (Genauer kann ichs nicht sagen, denn das Buch ist bereits in irgendeiner von 200 Bücherkisten verschollen *gg*).

Im Lateinischen spielt res u.a. auch in der juristischen Sprache eine Rolle: von der „beweglichen Sache“ (mit der man z.B. umzieht wie ich gerade *g* es entspricht insofern einer der Bedeutungen des griech. ousia) bis zum „Verhandlungsgegenstand“. realitas kann in diesem Kontext soviel wie „Sachlage“ bedeuten.

Grüße

Metapher

2 Like

Hi, Thomas, ho, Metapher!

so irgendwie hätte ich es auch erklärt! :wink:

Aber eure beiden Erklärungen nebeneinander übertrifft alles, was ich hätte zusammen stupfeln können.

Das ist wieder ein feines Durchbürsten der Hirnwindungen! Jetzt liegen sie wieder ordentlich um den Hirnstamm rum!

Danke!

Fritz

Entelechie
Hallo Metapher,

Genau genommen übersetzt Meister Eckart mit wercelicheit die
aristotelische entelécheia (alias enérgeia), das ja ebenso von
Aristoteles als Kunstwort in das Attische eingeführt wurde wie Meister Eckart
das seinige ins Deutsche. Aristoteles bestimmt die entelécheia im
Gegensatz zu dynamis in seiner Physikvorlesung …

ich habe es so in Erinnerung, dass die Entelechie die mögliche Verwirklichung, die Energie aber die tatsächliche Verwirklichung ist. Energie wäre dann die prinzipielle Wirksamkeit, wohingegen die Entelechie (als dasjenige, was das Ziel schon in sich trägt) die Form ist, die der Energie gegeben wird, sich zu verwirklichen. Die Umdeutung der Entelechie als reale Energie ist meines Wissens eine neovitalistische Schöpfung (Driesch), die sich eben dadurch vom aristotelischen Begriff unterscheidet.

Dazu gibt es eine Publikation von mir: „kínesis. Improvisationen zu einem
Thema von Aristoteles“ in: „Festschrift für Ullrich Sonnemann“, Kasseler
Philosophische Schriften. (Genauer kann ichs nicht sagen, denn das Buch ist
bereits in irgendeiner von 200 Bücherkisten verschollen *gg*).

Schönen Dank für den Hinweis. Davon müsste ich sogar noch irgendwo eine Kopie haben, aber es ist bei mir mit den Bücherkisten ähnlich :smile:.

Ich frage mich aber (du erlaubst den leisen Zweifel), ob deine Interpretation des Bewegungsbegriffes (kinesis) den physischen Aspekt nicht zu sehr in den Vordergrund stellt (und den metaphysischen Aspekt damit verkleinert)? Das wäre doch möglich, zumal du dich auf die Physik beziehst, wo der Begriff naturphilosophisch benutzt wird, wohingegen in der Metaphysik (IX, 6) der Unterschied zwischen Energie und Entelechie betont wird. Dort wird die Energeia als vollendet vom Prozess der Veränderung (kinesis) unterschieden. In der Physik hingeen ist die Kinesis zwar auch der Veränderungsvorgang, wird aber mit „Entelecheia“ bezeichnet.

Mir scheint (mit Vorbehalt) eine Unterscheidung zwischen „energeia“ und „entelecheia“ im metaphysischen Kontext geradezu genau umgekehrt zur Verwendung im physikalischen Kontext zu sein (das müsste man im Einzelnen natürlich prüfen). Bezüglich Meister Eckhart nun scheint mir der metaphysische Kontext näher zu liegen, wobei „dynamis“ als „potentia“ das Vermögen, die Möglichkeit, „energeia“ als „actus“ Verwirklichung, Wirklichkeit im Sinne von Tätigkeit bedeutete, „entelecheia“ hingegen die „vollendete Wirklichkeit“ meint.
Demnach wäre dann die bei Meister Eckhart eher die Realität die Entelechie und die Wirklichkeit die Energie, oder?

Im Lateinischen spielt res u.a. auch in der
juristischen Sprache eine Rolle: von der „beweglichen Sache“
(mit der man z.B. umzieht wie ich gerade *g* es entspricht
insofern einer der Bedeutungen des griech. ousia) bis
zum „Verhandlungsgegenstand“. realitas kann in diesem
Kontext soviel wie „Sachlage“ bedeuten.

Ich habe mich, meine ich, ein bisschen verfranst und komme nicht mehr genau hinter den Sinn - vielleicht aufgrund der Uhrzeit (ich musste das Schreiben mehrfach unterbrechen). Ich wollte wohl mokieren, dass die „res“ = „ousia“ bei Meister Eckhart mir näher an der Energeia als an der Entelecheia liegt, aber so genau weiß ich das jetzt nicht. Aber vielleicht verstehst du mich besser als ich mich selbst, deshalb poste ich schon jetzt, um mich morgen überrascht zu sehen, was ich wieder für einen Blödsinn gedacht habe. :smile:

Herzliche Grüße

Thomas

Zusatz für Fritz: Meine Haare liegen also immer noch kraus … *seufz*

Zwischen Realität und Wirklichkeit zu unterscheiden, halte ich schon allein deshalb für sinnvoll, weil bei es bei zwei verschiedenen Bezeichnungen nahe liegt, dass damit auch zweierlei bezeichnet wird. Unser Wortschatz ist bei weitem nicht groß genug, um alles zu unterscheiden, was es zu unterscheiden gibt. Deshalb gilt es, denke ich, jede Gelegenheit zum Unterscheiden zu nutzen, die uns die Sprache bietet. Und das Begriffspaar Realität und Wirklichkeit ist eine solche - und, wie ich meine, recht schöne - Gelegenheit.

Hier mein Ansatz: Als Gegenbegriff zu Realität ist mir Idealität geläufig und als Gegenbegriff zu Wirklichkeit: Möglichkeit. Jetzt wird der Unterschied doch schon etwas plausibler, nicht wahr?

Nach Descartes besteht ja die Realität aus lauter „ausgedehnten Sachen“ - mit einer Ausnahme: der „denkenden Sache“. Und die Idealität besteht dann in den Gedanken oder Ideen dieser denkenden Sache. Die Grenze des Idealen zum Realen liegt demzufolge im Ich des Denkenden; es ist die Grenze seiner Innen- zu seiner Außenwelt.

Mit Wirklichkeit und Möglichkeit verhält es sich anders. Das Mögliche kann nicht einfach mit dem Gedachten ineinsgesetzt werden. So ist es möglich, dass auf einen Zeugungsakt die Geburt eines Mädchens, eines Jungen, zweieiiger Zwillinge, eineiiger Zwillinge usw. folgt. Aber nur eine dieser Möglichkeiten wird verwirklicht. Aus den übrigen Möglichkeiten werden Unmöglichkeiten. Die Grenze des Möglichen zum Wirklichen ist durch einen Zufall markiert.

Indessen bringt es wohl der technische Fortschitt mehr und mehr mit sich, dass es nicht dem Zufall überlassen bleibt, welche Möglichkeiten verwirklicht werden, sondern dass das forschende und manipulierende Ich darüber entscheidet. Die sozusagen natürliche Selektion verwandelt sich in eine künstliche. Auf diese Weise scheinen nun allerdings Möglichkeit und Idealität einerseits, Wirklichkeit und Realität andererseits ihre Unterschiedlichkeit einzubüßen und nur noch das Verhältnis von Machbarkeit und Machwerk zu zählen.

Aber tatsächlich ist das ja ein neuer, dritter Zusammenhang, der von den beiden anderen durchaus nun wieder zu unterscheiden ist.