Augustin - Philosoph oder Wahnsinniger?

Muß man die offizielle Philosophiegeschichte nachbeten? War Augustin ein bedeutender Philosoph? War Augustin, den ich hier als Hook für eine moralisierende Debatte über Philosophiegeschichte verwende (ist er überhaupt für etwas anderes nützlich?), überhaupt ein Philosoph? Er selbst sah das so und unterschied nie zwischen Philosophie und Religion.
War Augustin bedeutend? Relativ gesehen: ja, absolut gesehen: nein. Er machte Wirkung, große sogar, aber nach dem Prinzip der Ghostbusters: „Wir sind die Besten, und wir sind die Einzigen.“ Zu seiner Zeit konnte kaum jemand Griechisch, auch er nicht, und seine schreibenden Konkurrenten waren schlichtweg zweit- bis drittrangig. Die folgenden Jahrhunderte waren also auf Augustins Ergüsse nachgerade angewiesen und rezipierten diese dementsprechend intensiv. Was waren die Folgen?
Dazu zunächst ein Zitat des Philosophiehistorikeres Kurt Flasch: Augustin hat „eine weit über alles Theologische hinausgehende Weltverdüsterung ausgedrückt oder heraufbeschworen … Mit unserem Text (ein Brief an Augustins Freund Bischof Simpician) haben sich gewaltige Schatten über Europa gelegt: Er zerschlägt menschliche Wertmaßstäbe … Er (Augustin) rechtfertigt die Inquisition und modernere Formen der methodischen Gewaltanwendung zum Besten des Delinquenten … er bewirkt die Erregung radikaler Selbstentwertung und Verunsicherung …er schafft Stachel der Unsicherheit und der Gewaltverinnerlichung, die ihre Spuren hinterlassen haben in der Geschichte Europas und in der Biographie zahlloser Opfer, Spuren der Grausamkeit gegen sich und andere, aber auch der Wollust in dieser Vernichtung.“
An Augustins schreibenden Fingern klebte also das Blut zukünftiger, qualvoll geschundener Opfer. Deren Zahl geht in die Millionen.
Augustin entfaltet im Rahmen der Gnaden - und Prädestinationslehre die fatale Kunst, jedes - auch jedes machtpolitische - Ereignis als Element eines göttlichen Plans zu interpretieren. Diese Transformation geschichtlicher Kontingenz in teleologische Notwendigkeit kann natürlich nur jemanden überzeugen, der mit der christlichen Prämisse von der Undurchschaubarkeit des göttlichen Willens übereinstimmt. Der Augustinische Gott, der seinen Plan despotisch entfaltet und per definitionem gerecht und gütig ist, gleich wie grausam die Effekte seines Waltens dem gottlosen Zweifler auch erscheinen mögen, dieser Gott vermag natürlich auch die verworrensten und inhumansten abzusichern. Der christliche Bischof und Theologe Augustin trägt für die sadistischen Exzesse des Mittelalters die Mitverantwortung: er ist ihr Vordenker, soweit diese in irgendeiner Form aus theologischen Motiven abgeleitet wurde. Ohne Augustins Einfluß hätte das auf ihn folgende Jahrtausend wahrscheinlich humanere Züge getragen. Hätte Pelagius statt Augustin im Streit um die Gnadenfrage den Sieg davongetragen … nicht das Christentum, aber doch dessen negativstes Potential wäre Europa und der Welt erspart geblieben. Doch darüber möge spekulieren, wer will, es wird die Leiden der Opfer nicht ungeschehen machen.
Mit Adams und Evas Übertretung eines paradiesischen Verbotes - initiiert durch den rebellischen Engel Satan - wird der Mensch sündig; dieser Mangel pflanzt sich fortan als Erbsünde - eine Augustinische Innovation - auf jeden neugeborenen Menschen fort. Mit Kains Mord an seinem Bruder Abel kommt es zu einer Verschärfung des Gegensatzes von Menschen- und Gottesreich: Kain gründet, so Augustin, den ersten weltlichen Staat, den Prototyp der civitas terrena. All diese Abwendungen vom himmlischen Vater können diesen nicht überraschen, da sie ja, wie alles Geschehende, fixe Elemente seines Plans sind. Diese göttliche Festlegung aller geschichtlichen Ereignisse nennt Augustin Prädestination. Am Ende der Geschichte wird ‘Gott’ ein schreckliches Gericht halten und den weitaus geringeren Teil der irdischen Schar kraft Seiner Liebe und Gnade ins Paradies erheben, die große Masse der anderen aber, verseucht durch die auf sie gekommene Sündhaftigkeit der beiden ersten Menschen, auf ewig den Torturen der Hölle überlassen. Aufgrund der göttlichen Vorhersehung ist das jeweilige Schicksal der Individuen ohnehin determiniert, so daß der Begriff des ‘Gerichts’, wie so viele andere, bei Augustin eigentlich nur eine rhetorisch-psychologische Bedeutung hat, keine faktische: er soll den Hörern und Lesern Angst einflößen.
Gestützt auf Paulus spricht Augustin dem Menschen die Möglichkeit ab, durch moralische Leistung sich Verdienste zu erwerben.
Die Entscheidung über Top oder Flop am Tage des Jüngsten Gerichts liegt gänzlich im Belieben des Gottes. So kann die christliche Erlösung nicht im geringsten durch das Verrichten verdienstvoller Taten erwirkt werden; entscheidend ist allein die Gunst des Weltherrn, und warum sie gewährt wird, liegt verborgen in den Abgründen der göttlichen raison. Diese Auffassung ist frappierend, hat aber ihren tieferen Sinn: sie treibt den Menschen endgültig und radikal in die Abhängigkeit von der Huld des Herrn, und genau das ist die Intention Augustins (und natürlich des Paulus).
Tja, und Augustins Einstellung zur Sklaverei?
Schon Paulus läßt im Neuen Testament keinen Zweifel daran, daß die antike Gesellschaftsstruktur, natürlich abgesehen von ihrem Mangel an Sättigung mit christlicher Moral, so, wie sie ist, eigentlich ganz in Ordnung ist; dies folgt ja schon aus der zuvor zitierten Passage des Römerbriefs. Im 1. Korintherbrief (7, 17 ff.) mahnt er, daß jeder in seinem (gesellschaftlichen) Stand bleiben möge. Das gilt selbstredend auch für Sklaven.
Auch Augustin sieht das so: die Weltordnung in toto ist gerecht, da sie ein Werk des Gottes ist, und weil die sozialen Schranken ein Faktum innerhalb dieser Ordnung sind, sind sie auch zu respektieren. Wer gegen sie anrennt, versündigt sich gegen den Frieden, gegen die Harmonie des ordo. Selbstredend hat Augustin, der Repräsentant der Religion der Liebe, nichts gegen die unmenschliche Strafpraxis einzuwenden, die aufsässigen Sklaven zuteil wird. Denn Strenge, so schmerzhaft sie auch sein mag, bedeutet wahre Liebe, da sie letztlich zu ‘Gott’ hinleitet, während Schonung eine gänzlich negativ zu bewertende Unterlassung darstellt, die das Seelenheil des Betroffenen, des Sündigen, gefährdet. Im Kontext der weiter unten zitierten Ausführungen zur hierarchischen Ordnung des Haushalts bemerkt Augustin: „Denn er [der gläubige Gerechte] befiehlt ja nicht aus Lust des Herrschens, sondern im Dienst des Helfens, nicht in der Hoffart des Vorrangs, sondern in erbarmender Sorge … Wenn indessen jemand im Hause durch Ungehorsam dem häuslichen Frieden widerstrebt, so wird er mit Worten oder durch Streiche oder auf sonst eine gerechte und erlaubte Weise bestraft, wie es eben Gesetz und Herkommen unter dem Menschen gestatten, und zwar zu seinem Besten, damit er sich dem Frieden wieder füge, von dem er abgewichen war.“
Was haben Gesetz und Herkommen nicht alles schon gestattet, auch und gerade zur Zeit Augustins, und das zum Besten des Menschen! Augustinische, christliche Logik. Aus verdrehten Prämissen folgen kinderleicht noch verdrehtere Konsequenzen. Nach solch perverser Logik verfahren dann später z.B. jene Kleriker, die es für eine gute, weil gottgefällige Tat halten, Frauen und Kinder tagelang, wochenlang, ja monatelang schwer zu foltern und anschließend bei lebendigem Leibe zu verbrennen, weil sie mit (dem klerikalen Phantasma) Satan im Bunde seien. Als exemplarisch für jene Perversionen sei hier die sadistische Praxis des bekannten Staatstheoretikers Jean Bodin aus dem 16. Jahrhundert geschildert, der auch ein Mitglied des Karmeliterordens war. „Er selbst, dieser hochangesehene Staatsdenker, folterte Frauen - und Kinder“, liest man bei Krämer-Badoni. „An einer Stelle sagt er, wenn man eine Zauberin und Hexe nicht zum Geständnis bringen könne, dann müsse man … ihr junges Töchterlein vornehmen, da könne man die Wahrheit erfahren, da ja die Hexenmütter ihre Töchter zu initiieren pflegten. Und dann folterte er eben die jungen Mädchen und bohrte glühende Eisenstangen in sie hinein. Zur Folter gehörte das vorherige Abrasieren aller Körperhaare, unter denen nämlich Hexenmittel und Hexenmale verborgen sein konnten, und auch das Nachforschen nach diesen Sächelchen in sämtlichen Körperöffnungen. Also forschte er, bevor er mit einer glühenden Stange kam.“
Was alles ohne Augustin nicht geschehen wäre.

Hallo Horst,

Dass Augustinus ein wichtiger Theologe war (die Trennung von Philosophie und Theologie war dem Denken seiner Zeit ziemlich fremd) und bedeutende, teilweise bis heute nachwirkende, Beiträge, zum abendländischen Denken geliefert hat dürfte unbestreitbar sein.
Er hat übrigens versucht etwas „rationales Denken“ und Logik in die Theologie einzuführen - natürlich blieb er aber ein Mensch der Antike und konnte sich vom Denken seiner Zeit nicht vollständig lösen.

Inquisition und Hexenverfolgung waren deutlich später und sie allein auf die Theologie des Augustinus und seiner Anhänger zurückzuführen dürfte weit übertrieben sein. Für die Philosophie und Theologie des Mittelalters war Augustinus übrigens m.E. von weit geringerer Bedeutung als dann später für die Reformatoren und die protestantischen Theologen.

Und wohin sich die abendländische Kultur ohne die „Moral des Christentums“ entwicklet hätte kann Dir heute keiner sagen. Vielleicht wäre ja alles noch schlimmer gekommen. Was-wäre-geschehen-wenn-Fragen sind völlig ahistorisch und führen grundsätzlich zu nichts.

So what? Deine Thesen zur Wirkungsgeschichte des Augustinus sind nicht beweisbar. Was wolltest Du gleich sonst noch fragen?

Gruß
Werner

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Hi, Werner.

Meine Kernfrage war ´gleich sonst noch´, ob Augstin ein Philosoph oder ein Wahnsinniger war. Irgendwie war diese wohl leicht überlesbar.

Natürlich klingt diese Frage provokativ, weil sie dem in unseren Tagen weitverbreiteten Relativismus zuwiderläuft. Andere Zeiten, andere Sitten, heißt es schnell, X oder Y war eben ein Kind seiner Zeit und hat damit den Freibrief, ungestraft Dinge zu sagen und der Nachwelt zu vermachen, die, heute ausgesprochen, als psychopathisch eingestuft würden. Ungetauft gestorbenen Kindern wünschte Augustin ewigen Aufenthalt in der Hölle. Ich weiß ebenso wenig wie dieser heiliggesprochene Kinderfreund, was Zeit ist, wenn ich darüber nachdenke, und ignoriere sie deshalb, wenn´s ums Einstufen geht. Ich sage daher, Augustin war ein Wahnsinniger. Und die Schreie jener Frauen und kleinen Mädchen, denen der dezidierte Augustin-Fan Jean Bodin im 16. Jhd. glühende Eisenstangen in die Vagina stieß, hallen mir ungeachtet der vergangenen Zeit in den Ohren. Hätte mich halt interessiert, ob´s andere im Forum auch so sehen - und hören.

Hier einige Zitate zum Thema:

„Die Gründung der Inquisition als Behörde erfolgte im 13. Jahrhundert. Man bezog sich dabei auf Bibelstellen und Kirchenväter in mittelalterlicher Interpretation, insbesondere auf Augustinus von Hippo, einen der einflussreichsten Theologen und Philosophen der christlichen Spätantike.“ (aus: Wikipedia)

„Die Inquisition griff insbesondere zwei Argumente von Augustinus heraus: Einem Abtrünnigen den rechten Weg zu zeigen, wenn er diesen nicht gehen wolle, auch unter Zwang, sei ein Akt christlicher Nächstenliebe … Folter sei legitim, da sie nur das sündige Fleisch, nicht aber die Seele schädige. In der Konsequenz sei es besser, die Häretiker zu verbrennen, als „in den Verirrungen zu erstarren“. Die Häretiker „töten die Seelen der Menschen, während die Obrigkeit nur ihre Leiber der Folter unterwirft; sie rufen ewigen Tod hervor, aber beklagen sich dann, wenn die Behörden sie dem zeitlichen Tod überantworten“.“ (aus: Wikipedia)

„Durch ein Jahrtausend ermordete die christliche Kirche Hexen … Die Grundlage bildete ein grotesker Teufels- und Dämonenglaube, den die berühmtesten Kirchenväter wie Augustinus und Thomas von Aquin ausdrücklich vertraten: psychologisch gesehen nicht zuletzt Folge einer umfassenden Frauenverachtung.“ (Karlheinz Deschner in Edgar Dahl (Hg.): Die Lehre des Unheils, 186)

„Ausschlaggebend für die Durchsetzung des legitimen Mordens aber wurde jener hl. Augustinus, der auch die schlimmsten sozialen Gegensätze gerechtfertigt hat … ´Was hat man denn gegen den Krieg, etwa, daß Menschen, die doch einmal sterben müssen, dabei umkommen?´, fragt Augustin. Der heilige Mann, der … die Folter erlaubte, sie sogar ´leicht´ im Vergleich zur ewigen Höllenstrafe nannte, eine förmliche ´Kur´ für den Menschen …“ (Deschner/Herrmann, Der Anti-Katechismus, 154/55)

Und wohin sich die abendländische Kultur ohne die „Moral des
Christentums“ entwicklet hätte kann Dir heute keiner sagen.
Vielleicht wäre ja alles noch schlimmer gekommen.

Ich bitte dich. NOCH schlimmer? Verharmlost du damit nicht all die Greuel, die in der Zugluft Augustinischer Geistesblähungen ausgeübt wurden? Sei mir nicht bös, aber dahinter argwöhne ich jene Verkopftheit der Philosophie, die ich in meinem vorausgehenden Posting thematisiert hatte. Lass es mich wissen, wenn ich dir Unrecht tue.

Meine Bilanz fällt klar gegen Augustin aus: Rote Karte und Platzverweis. Das, was er an Konstruktivem zur Geistesgeschichte beisteuerte, also gewisse psychologische Reflexionen, kann seine destruktive Wirkung nicht mal zu einem Milliardstel aufwiegen. Es wäre besser gewesen, Augustin hätte aufs Schreiben und Lehren verzichtet. Hätte ich eine auffrisierte Seven-Days-Zeitmaschine zur Verfügung, ich würde das Ereignis ´Augustin´ ungeschehen machen - irgendwie.

Gruß