Susan Sontag über Amerikas Selbstbetrug

„Unsere Stärke wird uns nicht helfen“ - Susan Sontag über Amerikas Selbstbetrug

Amerika unter Schock: Die falsche Einstimmigkeit der Kommentare / Von Susan Sontag

Als entsetzter und trauriger Amerikanerin und New Yorkerin scheint es mir, als sei Amerika niemals weiter von der Wirklichkeit entfernt gewesen als am letzten Dienstag, dem Tag, an dem ein Übermaß an Wirklichkeit auf uns einstürzte. Das Mißverhältnis zwischen den Ereignissen und der Art und Weise, wie sie aufgenommen und verarbeitet wurden, auf der einen Seite und dem selbstgerechten Blödsinn und den dreisten Täuschungen praktisch aller Politiker (mit Ausnahme von Bürgermeister Giuliani) und Fernsehkommentatoren (ausgenommen Peter Jennings) auf der anderen Seite, ist alarmierend und deprimierend. Die Stimmen, die zuständig sind, wenn es gilt, ein solches Ereignis zu kommentieren, schienen sich zu einer Kampagne verschworen zu haben. Ihr Ziel: die Öffentlichkeit noch mehr zu verdummen.

Wo ist das Eingeständnis, daß es sich nicht um einen „feigen“ Angriff auf die „Zivilisation“, die „Freiheit“, die „Menschlichkeit“ oder die „freie Welt“ gehandelt hat, sondern um einen Angriff auf die Vereinigten Staaten, die einzige selbsternannte Supermacht der Welt; um einen Angriff, der als Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der Vereinigten Staaten unternommen wurde? Wie vielen Amerikanern ist bewußt, daß die Amerikaner immer noch Bomben auf den Irak werfen? Und wenn man das Wort „feige“ in den Mund nimmt, dann sollte es besser auf jene angewandt werden, die Vergeltungsschläge aus dem Himmel ausführen, und nicht auf jene, die bereit sind, selbst zu sterben, um andere zu töten. Wenn wir von Mut sprechen, der einzigen moralisch neutralen Tugend, dann kann man den Attentätern - was immer sonst auch über sie zu sagen wäre - eines nicht vorwerfen: daß sie Feiglinge seien.

Unsere politische Führung redet uns entschlossen ein, alles sei in Ordnung. Amerika fürchtet sich nicht. Unser Geist ist ungebrochen. „Sie“ werden aufgespürt und bestraft werden (wer immer „sie“ sind). Wir haben einen Präsidenten, der uns wie ein Roboter immer wieder versichert, daß Amerika nach wie vor aufrecht steht. Von vielen Personen des öffentlichen Lebens, die die Außenpolitik der Regierung Bush noch vor kurzem heftig kritisiert haben, ist jetzt nur noch eines zu hören: daß sie, gemeinsam mit dem gesamten amerikanischen Volk, vereint und furchtlos hinter dem Präsidenten stehen. Die Kommentatoren berichten, daß man sich in psychologischen Zentren um die Trauernden kümmert. Natürlich werden uns keine gräßlichen Bilder davon gezeigt, was den Menschen zugestoßen ist, die im World Trade Center gearbeitet haben. Solche Bilder könnten uns ja entmutigen. Erst zwei Tage später, am Donnerstag (auch hier bildete Bürgermeister Guiliani wieder eine Ausnahme), wurden erste öffentliche Schätzungen über die Zahl der Opfer gewagt.

Es ist uns gesagt worden, daß alles in Ordnung ist oder zumindest wieder in Ordnung kommen wird, obwohl der Dienstag als Tag der Niedertracht in die Geschichte eingehen wird und Amerika sich nun im Krieg befindet. Nichts ist in Ordnung. Und nichts hat dieses Ereignis mit Pearl Harbor gemein. Es wird sehr gründlich nachgedacht werden müssen - und vielleicht hat man ja damit in Washington und anderswo schon begonnen - über das kolossale Versagen der amerikanischen Geheimdienste, die Zukunft der amerikanischen Politik besonders im Nahen Osten und über vernünftige militärische Verteidigungsprogramme für dieses Land. Es ist aber klar zu erkennen, daß unsere Führer - jene, die im Amt sind; jene, die ein Amt begehren; jene, die einmal im Amt waren - sich mit der willfährigen Unterstützung der Medien dazu entschlossen haben, der Öffentlichkeit nicht zuviel Wirklichkeit zuzumuten. Früher haben wir die einstimmig beklatschten und selbstgerechten Platitüden sowjetischer Parteitage verachtet. Die Einstimmigkeit der frömmlerischen, realitätsverzerrenden Rhetorik fast aller Politiker und Kommentatoren in den Medien in diesen letzten Tagen ist einer Demokratie unwürdig.

Unsere politischen Häupter haben uns auch wissen lassen, daß sie ihre Aufgabe als Auftrag zur Manipulation begreifen: Vertrauensbildung und Management von Trauer und Leid. Politik, die Politik einer Demokratie - die Uneinigkeit und Widerspruch zur Folge hat und Offenheit fördert, ist durch Psychotherapie abgelöst worden. Laßt uns gemeinsam trauern. Aber laßt nicht zu, daß wir uns gemeinsam der Dummheit ergeben. Ein Körnchen historischen Bewußtseins könnte uns dabei helfen, das Geschehene und das Kommende zu verstehen. „Unser Land ist stark“, wird uns wieder und wieder gesagt. Ich finde dies nicht unbedingt tröstlich. Wer könnte bezweifeln, daß Amerika stark ist? Aber Stärke ist nicht alles, was Amerika jetzt zeigen muß.

Aus dem Amerikanischen von Julika Griem.

Die amerikanische Schriftstellerin Susan Sontag, Jahrgang 1933, wurde durch ihre Essaysammlung „Against Interpretation“ (1966) bekannt. Im letzten Jahr erschien ihr Roman „In America“. Sie gehört derzeit zu den Gästen der American Academy in Berlin, wo sie sich am 11. September aufhielt. Während sie auf die Möglichkeit, nach New York zurückzureisen, wartet, hat sie ihre Eindrücke zusammengefaßt.

Frankfurter Allgemeine Zeitung, 15.09.2001, Nr. 215 / Seite 45

wo sie recht hat, hat sie recht!o.T.
,

Hallo,

in einem Punkt kann ich Susan Sonntag nicht zustimmen. Sie schreibt:

Wo ist das Eingeständnis, daß es sich nicht um einen „feigen“
Angriff auf die „Zivilisation“, die „Freiheit“, die
„Menschlichkeit“ oder die „freie Welt“ gehandelt hat, sondern
um einen Angriff auf die Vereinigten Staaten, die einzige
selbsternannte Supermacht der Welt; um einen Angriff, der als
Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der
Vereinigten Staaten unternommen wurde.

Die Terrorangriffe waren meiner unmaßgeblichen Ansicht nach eben gerade mehr als ein Angriff auf die USA, sie waren wirklich ein Angriff auf die Zivilisation. Wenn tausende von unschuldigen Menschen ohne Vorwarnung und ohne die geringste Chance zur Gegenwehr oder zur Flucht so mir nichts dir nichts aus heiterem Himmel in den Tod geschickt werden, dann sind die primitivsten Grundregeln menschlichen Zusammenlebens in Frage gestellt. Das Gegenteil von Zivilisation ist Barbarei, und das war es was sich am 11. September abgespielt hat.

Dass dies von der amerikanischen Politik und Presse nun offenbar dazu umgedeutet wird, nahezu jeden möglichen Gegenschlag zu rechtfertigen und sei er noch so kontraproduktiv und möglicherweise gefährlich für den Weltfrieden, steht auf einem anderen Blatt.

Zivilisation?
Hallo,

Die Terrorangriffe waren meiner unmaßgeblichen Ansicht nach
eben gerade mehr als ein Angriff auf die USA, sie waren
wirklich ein Angriff auf die Zivilisation. Wenn tausende von
unschuldigen Menschen ohne Vorwarnung und ohne die geringste
Chance zur Gegenwehr oder zur Flucht so mir nichts dir nichts
aus heiterem Himmel in den Tod geschickt werden, dann sind die
primitivsten Grundregeln menschlichen Zusammenlebens in Frage
gestellt. Das Gegenteil von Zivilisation ist Barbarei, und das
war es was sich am 11. September abgespielt hat.

aber was ist Zivilisation? Amerika? Nur wir ? Zaehlt der Osten mit? Asien? Afrika? - das mit dem „angriff auf die Zivilisation“ hängt wohl auch mit Propaganda zusammen: Der Getroffene will, dass sich möglichst viele getroffen fühlen, und er auf viel Mitgefühl stoßen kann.

Gruss
wl

Hallo,

aber was ist Zivilisation?

Mr. Check:

Zi|vi|li|sa|ti|on, die; -, -en [frz. civilisation, engl. civilization]: 1. a) Gesamtheit der durch den technischen u. wissenschaftlichen Fortschritt geschaffenen u. verbesserten sozialen u. materiellen Lebensbedingungen:dieses Land hat eine hohe, niedrige Z.; b) Zivilisierung. 2. (selten) durch Erziehung, Bildung erworbene [verfeinerte] Lebensart;
Quelle: DUDEN - Deutsches Universalwörterbuch

Zivilisation die, der Zustand der modernen bürgerlichen Gesellschaft, ihrem Selbstverständnis nach gekennzeichnet durch einen hohen Stand gesellschaftlicher, wirtschaftlicher und technisch-wissenschaftlicher Entwicklungen sowie entsprechende Lebens- und Umgangsformen; Resultat eines historischen Prozesses.
Quelle: Der Brockhaus in einem Band

Es ist mir schon wichtig, dass ich die Attentatsserie nicht als Anschlag auf eine (wie auch immer zu definierende) „westliche Zivilisation“ ansehe, sondern auf die Zivilisation der Menschheit insgesamt, also auf die elementaren Grundlagen friedlichen menschlichen Zusammenlebens.

Gruß
Wolfgang

Hallo Wolfgang,

aber wäre es denn dann nicht einfacher gewesen,
in Westeuropa zuzuschlagen? Oder verteilt? Das waren ja gebildete Menschen (Akademiker teilweise). Die sollen nicht friedlich leben wollen und ausgerechnet dort angreifen? Die haben ja teilweise jahrelang in der westlichen Zivilisation gelebt, warum sollten sie diese bekämpfen wollen? Sogar mit Frau/Freundin. Nein. Wer hier lange lebt, kann nicht so verbohrt bleiben, da müßte er sich schon abschotten.

Wer das macht, muß einen Haß in sich tragen, der aus tiefer Rachsucht resultiert, nicht aus Eroberungsstreben.

Gruss
wl

Es ist mir schon wichtig, dass ich die Attentatsserie nicht
als Anschlag auf eine (wie auch immer zu definierende)
„westliche Zivilisation“ ansehe, sondern auf die Zivilisation
der Menschheit insgesamt, also auf die elementaren Grundlagen
friedlichen menschlichen Zusammenlebens.

Gruß
Wolfgang

Hallo winni,

ich habe das Gefühl, dass wir jetzt ziemlich aneinander vorbeireden. Ich versuche aber dennoch, auf deine Fragen einzugehen.

aber wäre es denn dann nicht einfacher gewesen,
in Westeuropa zuzuschlagen? Oder verteilt?

Vermutlich, aber wir können nicht beurteilen, was in den Köpfen dieser Leute vor sich ging. Und jetzt, da sie tot sind, werden wir es auch nicht mehr rausbekommen.
Ich halte aber die These nicht für so abwegig, dass sich die Attentäter eine sichere Basis gesucht haben um unauffällig zu leben, und dies als Ausgangspunkt für Terrorakte in anderen Ländern nahmen.
Und übrigens: niemand kann uns garantieren, dass nicht noch Terrorakte in Westeuropa nachkommen.

Das waren ja gebildete Menschen (Akademiker teilweise).

Genau das macht die Angelegenheit ja so erschreckend.

Die sollen nicht
friedlich leben wollen und ausgerechnet dort angreifen? Die
haben ja teilweise jahrelang in der westlichen Zivilisation
gelebt, warum sollten sie diese bekämpfen wollen? Sogar mit
Frau/Freundin.

Die große Mehrheit der Muslime will ja unbestritten friedlich leben, egal ob hier bei uns im Westen oder sonstwo auf der Welt. Nichtsdestotrotz gibt es eine gewalttätige Minderheit, deren Hass auf die USA und auf den Westen groß genug ist, solche Attentate zu verüben. Und denen ist es dann schlichtweg egal, wo sie leben und von wo aus sie operieren.

Nein. Wer hier lange lebt, kann nicht so
verbohrt bleiben, da müßte er sich schon abschotten.

Das zu glauben ist naiv.
Gegenthese: wer schon völlig verbohrt ist bevor er hier zu leben beginnt, wird auch Mittel und Wege finden sich entsprechend abzuschotten.

Wer das macht, muß einen Haß in sich tragen, der aus tiefer
Rachsucht resultiert, nicht aus Eroberungsstreben.

So ist es.
Ich habe auch nie etwas von Eroberungsstreben behauptet; in diesem Punkt hast du mich vermutlich missverstanden.

Grüße
Wolfgang

Hi allerseits,

Wo ist das Eingeständnis, daß es sich nicht um einen „feigen“
Angriff auf die „Zivilisation“, die „Freiheit“, die
„Menschlichkeit“ oder die „freie Welt“ gehandelt hat, sondern
um einen Angriff auf die Vereinigten Staaten, die einzige
selbsternannte Supermacht der Welt; um einen Angriff, der als
Konsequenz der Politik, Interessen und Handlungen der
Vereinigten Staaten unternommen wurde?

in genau dem Punkt wie Wolfgang kann ich Susan Sonntag ebenfalls nicht zustimmen, denn bei einem Angriff „nur“ auf die Vereinigten Staaten, hätten die Terroristen sicher das Capitol zerstört und vielleicht noch das Weiße Haus, aber nicht unbedingt das WORLD TRADE Center.

Gruß
Pat

in genau dem Punkt wie Wolfgang kann ich Susan Sonntag
ebenfalls nicht zustimmen, denn bei einem Angriff „nur“ auf
die Vereinigten Staaten, hätten die Terroristen sicher das
Capitol zerstört und vielleicht noch das Weiße Haus, aber
nicht unbedingt das WORLD TRADE Center.

So zynisch das klingt, aber die beste Möglichkeit um möglichst viele Amerikaner zu töten ist das World Trade Center. Wenn es ein Angriff gegen die Westliche Welt war, warum wurde dann nicht das Haus der Vereinten Nationen, die Weltbank, der Weltwährungsfonds, die EU, das Nato-Hauptquartiert zerstört ?. Nein, dieser Angriff war ein Angriff von Menschen, die die Vereinigten Staaten von Amerika aus ganzem Herzen hassen. Und deshalb war dieser Anschlag nur gegen die USA gerichtet und nicht gegen die „freie Welt“.

Hier werden zwei verschiedene Begriffe von Zivilisation durcheinander gebracht.

Und deshalb war dieser Anschlag nur gegen die USA gerichtet
und nicht gegen die „freie Welt“.

Der Angriff ging nicht gegen die „freie Welt“ (was immer das ist).
Er richtete sich gezielt gegen die USA.
Getroffen wurde dabei aber auch die grundsätzliche Möglichkeit des friedlichen Zusammenlebens von Menschen überhaupt.

Das hätte ich doch klar artikuliert.

Und dann fliege ich nicht in ein WELT-Handels-Zentrum.

Das hätte ich doch klar artikuliert.

Und dann fliege ich nicht in ein WELT-Handels-Zentrum.

Wenn ich möglichst viele Menschen töten will fliege ich in das Gebäude in dem die meisten Menschen arbeiten und das ist nun mal das WTC. Das könnte genauso gut die Zentrale von Microsoft, der Deutschen Bank oder Goldman Sachs sein. Es ging hier darum die meisten AMERIKANER zu töten, dass die in einem Hochhaus mit dem Namen Welthandelszentrum sitzen ist halt zufall, dass Ding hätte ja auch One, Morgan Stanley Plaza heißen können (MSDW war der größte Mieter)

Gruß

Bernd

Wenn ich möglichst viele Amerikaner treffen wollte, fliege ich gewiss nicht in das WTC. Denn gerade dort sitzen vergleichsweise viele internationale Unternehmen. Die deutsche Allianz und die Deutsche Bank sind Beispiele. Auch Bertelsmann hatte dort noch 1 oder 2 Etagen. Allein in dieser unvollständigen Aufzählung haben wir drei deutsche Unternehmen. Jetzt rechne das mal hoch.

In diesem Gebäude traf man Unternehmen aus der ganzen westlichen Welt und nicht nur der Vereinigten Staaten.

Die Mieterliste des WTC findest Du hier. Schau Dir die Mal an:

http://www.spiegel.de/wirtschaft/0,1518,156931,00.html

Hallo Wolfgang,

ich habe das Gefühl, dass wir jetzt ziemlich aneinander
vorbeireden. Ich versuche aber dennoch, auf deine Fragen
einzugehen.

warum denn auch nicht?

Wer das macht, muß einen Haß in sich tragen, der aus tiefer
Rachsucht resultiert, nicht aus Eroberungsstreben.

So ist es.
Ich habe auch nie etwas von Eroberungsstreben behauptet; in
diesem Punkt hast du mich vermutlich missverstanden.

No, mir fehlt dann das Motiv. Nur die Werte der westlichen Welt? - Sehr unwahrscheinlich, dass jemand hier studiert und diese vollkommen negiert, ja bekämpft. Der kann auch kein Superstudium hinlegen (angeblich mit „1“ der in Hamburg), wenn er alle Prinzipien, nach denen die Leute, mit denen er zwangsweise zu tun hat (Mitstudenten, Assitenten, Professoren) haßt. Da muss er auch die Leute hassen. Und deren Werte, nach denen er in einer Studienordnung studieren muss. Nein, nicht ausgeschlossen, aber wäre für mich nicht mehr rational nachvollziehbar. Hab dich verstanden, aber glaub ich nicht.

gruss
wl