Nachrichtenqualität, Bsp. aus der FAZ

Hallöchen,

in den letzten zwei Tagen gab es wieder zwei (wenn nicht mehr) schöne Fälle, an denen man a) erkennen kann, daß Journalisten vielfach nicht mehr über das nachdenken, was sie schreiben, und b) daß man nicht kritiklos alles glauben sollte, was man so liest.

  1. Beispiel
    Artikel zu den diesjährigen Firmenübernahmen von heute, 28.12.2001

Rotkäppchen ist nach der Übernahme der Marken MM und Mumm der größte Sektproduzent Deutschlands. Bei einem Umsatz von DM 310 Mio. wurden 100 Mio. Flaschen abgesetzt.

Soweit die Meldung.

Klartext: Durchschnittsumsatz von DM 3,10 je Flasche. Obwohl Rotkäppchen nicht gerade ein hochpreisiger Abnehmer ist, ist das wohl ein bißchen wenig. Das unkommentiert zu lassen, ist fahrlässig. Stattdessen ist das wohl eher der Umsatz zwischen Rotkäppchen als Hersteller und den (evtl. konzerneigenen) Vertriebs- oder Großhandelsgesellschaften.

  1. Beispiel
    Artikel „Mit dem Euro gleichen sich die Preise noch lange nicht an“ vom 27.12.2001

Dort wird u.a. eine Tabelle aufgeführt, in denen europaweit erhältliche Produkte (Niveo Lotion, Coca Cola, Levis 501, Ferrero Kinderüberraschung und Big Mac) mit ihren Preisen (in Euro) in 7 Euro-Ländern aufgeführt werden. Von den daraus resultierenden 35 Tabellenfeldern sind 2 ohne Eintragung: 1. Ferrero in Italien (wird dort wohl nicht angeboten) und Big Mac in Deutschland. Fußnote zu letzterem Feld: „keine Angabe in Euro“.

Wie bitte? Da hat der Journalist also nicht nachgedacht. Er hätte das freie Feld sehen müssen und sich denken sollen „Wo bekomme ich die Angabe her, wenn sie das Unternehmen nicht rausrückt?“ Der logische Schritt wäre gewesen, die paar Meter vom Red-Gebäude zum nächsten MC zu machen und den Preis selber abzulesen und umzurechnen.

OK, eigentlich harmlose Beispiele. Worauf ich hinaus will: Zeitungen sind nur so gut, wie die Journalisten, die sie füllen sowie deren Bereitschaft und Willen, vernünftige Artikel zu schreiben. Wer einmal einen Artikel über ein Thema gelesen hat, bei dem er sich wirklich gut auskannte, wird vermutlich gemerkt haben, daß dort reichlich Fehler drin waren. Geht mir z.B. bei Artikeln über unser Haus immer (!) so.

Nette Lektüre zu diesem Thema:
Ketteler: Zwei Nullen sind keine Acht – Falsche Zahlen in der Tagespresse, Basel 1997

(Dort wird übrigens gerade die Qualität der Artikel des Wirtschaftsteils der FAZ gelobt. Sic!)

Gruß
Christian

Zusatz aus dem Spiegel
Der Text ist länger, aber wirklich witzig und erhellend, wie Nachrichten gemacht werden und sich verbreiten.

_Es ist Freitag, als Stefan Schmidt, Honorarkonsul der Republik Tuvalu, die Tär seines Büros schließt, die Treppe hinunter geht, sich in seinen Wagen setzt und ihn auf die Autobahn Richtung Hamburg lenkt. Vor ihm liegt eine halbstündige Fahrt und ein Abend mit Ringelnatz im Theater. Die Karte für die Vorstellung ist ein Geschenk von Schmidts Schwester. Es verspricht ein heiterer Abend zu werden, ohne Aufregungen. Ein Abend, wie Schmidt ihn liebt.

Auf der A1 klingelt Schmidts Handy das erste Mal. Am anderen Ende der Leitung spricht eine Mitarbeiterin der „Lübecker Nachrichten“. Sie fragt ihn, wie er zum bevorstehenden Untergang Tuvalus stehe und was er von der angekündigten Evakuierung der Südseerepublik halte.

Schmidt starrt in die Dunkelheit. Untergang? Evakuierung? Die Journalistin spricht von Presseagenturen, die das Evakuierung der Atolle für das kommende Jahr melden. Schmidt ist verwirrt.

Ein paar Tage vorher noch hatte er Kontakt mit der Regierung Tuvalus, und mit keiner Silbe wurde der Untergang oder die Evakuierung der Inseln erwähnt. Schmidt sagt der Journalistin, er wisse nichts von dieser Angelegenheit, er werde sich erkundigen.

Wenige Minuten später klingelt das Handy zum zweiten Mal, und wieder ist am anderen Ende der Leitung und Journalist, der fragt, wie Schmidt zu Untergang und Evakuierung stehe. Wieder antwortet Schmidt, er wissen nichts und werde sich erkundigen. Er beendet das Gespräch und blickt in die Nacht.

Schmidt, der Honorarkonsul, hält den Kontakt zu deutschen Reedern, die viele der 800 tuvaluischen Seeleute beschäftigen. Er repräsentiert Tuvalu, drittkleinstes Mitglied der Uno, im Pazifik gelegen, 11 000 Einwohner. Schmidt ist ein wichtiger Mann, nach tuvaluischen Maßstäben.

Aber vielleicht hat man vergessen, ihn zu benachrichtigen. Manchmal werden auf Tuvalu wichtige Dinge vergessen. Vielleicht ist eine E-Mail nicht angekommen. Vielleicht war kein Papier im Faxgerät. Vielleicht ist Tuvalu schon verschwunden. Vielleicht ist Schmidt gar kein Honorarkonsul mehr. Vielleicht sollte er doch umkehren und auf den Theaterabend in Hamburg verzichten.

Aber die Karten sind ein Geschenk seiner Schwester. Und falls Tuvalu gerade untergehen sollte, kann er auch nichts daran ändern.

Das Handy in Schmidts VW Passat klingelt zum dritten Mal. Schmidts Sohn ist am anderen Ende der Leitung und erzählt aufgeregt, dass im Fernsehen Bilder gezeigt werden von einem Orkan, der über Tuvalu hinwegziehe, und ein Sprecher gesagt habe, dass die Evakuierung schon laufe.

Spät in der Nacht kehrt Schmidt zurück nach Hause, schaltet seinen Computer ein und sucht auf den Internet-Seiten der meteorlogischen Dienste nach einem Unwetter über Tuvalu. Er findet kein Unwetter. Möglicherweise hat der Sender die Meldung mit Archivaufnahmen eines Sturms garniert, denkt sich Schmidt. Er schreibt eine E-Mail an Panapasi Nelesone, den Staatsekretär des Präsidenten. Mit einer Antwort rechnet er erst nach dem Wochenende. Samstags und sonntags ist Nelesone selten im Büro. Schmidt geht zu Bett. Er schläft unruhig. Am Montagmorgen findet Schmidt eine Antwort von Nelesone in seinem E-Mail-Briefkasten: „Ich wurde ebenfalls von Journalisten aus der ganzen Welt belästigt, die erfahren wollten, ob die Einwohner Tuvalus auswandern nach Neuseeland und Australien. Bitte sag allen Journalisten, dass diese Berichte unwahr sind.“ Schmidt ist erleichtert. Er ist noch Honorarkonsul. Eine Erklärung für die Falschmeldung hat er nicht.

In Deutschland wurde die Meldung vom Untergang des Südseestaates, dem ersten Land, das der Klimakatastrophe zum Opfer fallen würde, von der Deutschen Presse-Agentur verbreitet und unter anderem in der „tageszeitung“, der „Frankfurter Allgemeinen“, der „Frankfurter Rundschau“ und dem „Tagesspiegel“ gedruckt. Als Quelle nennt dpa das Earth Policy Institute in Washington D.C._

Hier zu im Spiegel abgedruckte Ausschnitt aus der FAZ:

_ Südsee-Inselstaat Tuvalu versinkt
WASHINGTÒN, 16. November (dpa). Die etwa 11 000 Einwohner des Insel-Staates Tuvalu in der Südsee müssen ihre vom steigenden Meeresspiegel bedrohte Heimat aufgeben. Neuseeland werde sie von kommenden Jahr an aufnehmen, teilte das „Earth Policy Institute“ am Freitag in Washington mit. Tuvalu ist nach Angaben der amerikanischen Umweltexperten das erste Land der Welt, aus dem alle Men-_

Zurück zum SPIEGEL-Artikel:

_Das Earth-Policy Institute wurde vor einem halben Jahr von Lester Brown gegründet, einem Mann, den die „Washington Post“ „einen der einflussreichsten Denker der Welt“ nennt. Brown schuf 1974 das renommierte Worldwatch-Institute, seit 1984 gibt er den „State of the World Report“ heraus, die Bibel der globalen Umweltschutzbewegung, und er sammelt, Ehrentitel wie andere Leute Briefmarken.

Reah Janise Kauffman, die Mitgründerin und Vizepräsidentin des Earth-Policy-Institutes, sagt, sie habe die Nachricht über das Ende von Tuvalu in der britischen Tageszeitung „Guardin“ gelesen. Man habe versucht, eine Bestätigung von der Regierung Tuvalus zu erhalten, aber man habe sie nie zurückgerufen. Sie klingt beleidigt.

Der Artikel im „Guardin“ stammt von Adrew Simms. In der Telefonzentrale des britischen Verlags kennt ihn niemand. Simms arbeitet für die „New Economics Foundation“, er schreibt gerade ein Buch über ökologische Folgen der Globalisierung, und er verfasst für den „Guardin“ einen Kommentar über die Folgen des Treibhauseffektes. Simms befindet sich zurzeit zu Forschungszwecken auf Tuvalu. Er nimmt den Telefonanruf in Tuvalus einzigem Hotel entgegen: „Ja, der Artikel ist von mir.“ Pause. „Na ja, an der Stellte mit der Auswanderung kann der Text schon ein wenig missverständlich sein. Wer die Quelle für die Informationen ist? Äh, es ist jemand hier auf der Insel. Nein, den Namen möchte ich Ihnen nicht sagen. Aber ich sorge dafür, das er Sie anruft.“ Simms erzählt noch etwas von Geheimverhandlungen zwischen Tuvalu und Neuseeland.

Eine Woche vergeht.

Niemand ruft an. Niemand schreibt eine E-Mail.

Anruf bei der New Economics Foundation. Eine Mitarbeiterin: „Andrew Simms? Oh, der ist im Urlaub. Für länger.“_

Das ärgerliche für mich dabei: Ich hatte in der Zeit einen Greenpeace-Vortrag zum Thema Klima und habe das Ende von Tuvalu natürlich (auch) als Tatsache verkauft.

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