… bezeichnen darf, bleibt bei der richtigen Rechtschreibung und streicht die Neue Schlechtschreibung mal ganz schnell aus seinem Gehirn.
Donovan
DER SPIEGEL 14/2000
URL: http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,71448,00.html
Rechtschreibung
Freie Bahn dem „Alkoholissmuss“
Die mühsam eingeführte Reform-Orthografie bringt keine
Übersichtlichkeit, sondern Wirrwarr und Zweifel. Viele Zeitungen
folgen hausgemachten Regeln, und die meisten Literaten tun es der
Mehrheit der deutschen Schriftnutzer gleich: Sie üben sich in stummem
Boykott.
Der Fehler springt ins Auge. Dick und rot leuchtet vom weißen
Buchumschlag „Arnes Nachlaß“. Dabei müsste praktisch jeder
Sprachkundige, der den jüngsten Roman von Siegfried Lenz im
Schaufenster sieht, zusammenzucken. Nach den neuen Rechtschreibregeln
wäre nur ein „Nachlass“ zulässig.
Doch Schreck, lass nach: Altmeister Lenz, 74, der die Änderung der
Regeln stets als „kostspieligen Unsinn“ abgelehnt hat, ist in guter
Gesellschaft. Fast lückenlos boykottieren die Erzählbände, die jüngst
auf der Leipziger Buchmesse vorgestellt wurden, den Neuschrieb; sie
beharren auf „daß“ und „Kuß“ - von der trendigen „Generation Golf“ des
jungen Berliner Autobiografen Florian Illies bis zum neuesten Werk von
Botho Strauß, sinnig „Das Partikular“ genannt.
Wie versprengte Partikel, ja schwer behindert (oder gar - regelwidrig
- schwerbehindert?) fühlen sich dagegen jetzt viele, die seit
vergangenem August laut Beschluss der großen Agenturen reformiert
schreiben müssen. „Bis zur Sehnenerschlaffung“ habe er „Eszetts in
Doppelesse verwandeln müssen“, murrte jüngst ein Redakteur der „Welt“,
und nun ließen die Dichter ihn hängen.
Doch die Poeten handeln nur wie die schweigende Mehrheit der
Schriftnutzer auch. Und die hat, so „gräulich“ und „belämmert“ ihr die
Umstellung stets vorkam SPIEGEL 42/1996 und SPIEGEL 3/1998, inzwischen
mit dem Missstand leben gelernt, dass in Büchern anderes gilt als für
die Zeitung.
Kopfschüttelnd ertragen sie, dass in ihrem Lokalblatt Diebesgut
„sichergestellt“, Anträge „zurückgestellt“, aber Häuser „fertig
gestellt“ werden, als könne man sie auch unfertig stellen.
Achselzuckend registrieren sie, dass „hier zu Lande“ - vermutlich weil
es nicht dort auf See geschieht - „wohl durchdacht“ behauptet wird,
jemand sei „nicht wieder zu erkennen“.
Dabei müssen Vielleser sogar von Blatt zu Blatt andere Wortbilder
schlucken: Der konservative „Rheinische Merkur“ ließ „Delphin“ und
Kommata unangetastet, führte aber die „Geografie“ ein; die „Neue
Zürcher Zeitung“, weltoffen und sprachbewusst, blieb gar beim
„placieren“. Auch im SPIEGEL wurde notgedrungen ein eigenes, die
Lesegewohnheiten möglichst schonendes Regelwerk entwickelt, das
zumindest an der Zeichensetzung so gut wie nichts ändert. „Die Woche“
dagegen folgt den neuen Regeln total. All das nebeneinander ergibt
Chaos am Kiosk und im Leserhirn.
Welche Verwirrung inzwischen herrscht, kann der
Erziehungswissenschaftler Harald Marx von der Universität Leipzig
beweisen. Er testete Grundschüler neue Trennmöglichkeit: „Tee-nager“
, die seit 1996 die ss-Reformregel praktizieren. Ergebnis:
„Signifikant mehr Fehler“ als zuvor, unter anderem weil die Schüler
das scheinbar einfache Prinzip (nach Kurzvokal steht ss)
„übergeneralisieren“, also häufiger nutzen als erlaubt. Warum sollte
es etwa nicht „Alkoholissmuss“ heißen dürfen?
Das Dasein versüßt hat die Neuregelung immerhin ein paar
Legasthenikern. „Für Leute, die vorher Schwächen hatten, ist die
Reform ungeheuer entlastend“, erklärt Almut Schladebach von der
Hamburger Volkshochschule. „Denn sie sind jetzt nicht mehr die
Einzigen, die damit Schwierigkeiten haben.“
Allerdings. Die orthografische Hürde, für Umlernende vielfach höher
als für Schreibanfänger, demütigt Profis, kostet Zeit und Nerven. Doch
nach dem jahrelangen Hickhack um des „Keisers“ „Bot“ rettet sich die
Mehrzahl in Sarkasmus. „Wenn schon ,potenziell’, dann bitte auch
,nazional’!“, forderte ein Leser der „Süddeutschen Zeitung“. Auf
Werbebildschirmen in U-Bahnen verbreitet die Münchner Firma
„InfoScreen“ unterhaltende Orthografie-Spots Titel: „wortwahn“.
Der plagt offenbar selbst Spezialisten. So fand Theodor Ickler,
Linguist an der Universität Erlangen, bei Durchsicht des neuen
zehnbändigen „Duden-Wörterbuchs“ klammheimlichen Rückbau (neben der
Reform-Form „wieder sehen“ kehrt plötzlich „wiedersehen“ wieder), aber
auch dreiste Vereinnahmungen: Die sprachgeschichtlich unsinnige
Neuschöpfung „Zierrat“ wird Max Frisch unterschoben; Botho Strauß soll
„Fantast“ geschrieben haben; der SPIEGEL von 1966, heißt es, habe
einen „Tipp“ gegeben.
Verständlich, dass Autoren und Verlage sich da lieber aufs eigene
Gutdünken verlassen allerdings markttechnisch abgestuft. „Das Bild
ist komplex“, beschreibt Martin Spieles vom S. Fischer Verlag
diplomatisch, was insgesamt wie ein heilloses Kuddelmuddel wirkt.
Schon seit anderthalb Jahren wird bei S. Fischer und Rowohlt, die
beide zum Holtzbrinck-Konzern gehören, die neue Rechtschreibung im
Kinder- und Jugendbuch angewandt; schließlich müssen Kids auch in der
Schule die neuen Regeln lernen. Im übrigen literarischen Programm
dürfen die Autoren hingegen selber über die Schreibweise ihrer Werke
entscheiden. Viele von ihnen lehnen den Neuschrieb strikt ab.
Ihre Verlagsprospekte wollen Fischer und Rowohlt vom kommenden
Herbstprogramm an nach neuer Schreibung drucken. Bücher jedoch sind
zäher: „Wenn ältere Satzvorlagen existieren, steht zur Diskussion, ob
man das Geld für einen neuen Satz in neuer Rechtschreibung ausgeben
will“, meint Spieles. „Das muss dann von Fall zu Fall entschieden
werden.“
Bei Suhrkamp, einer weiteren literarischen Renommier-Adresse in
Frankfurt am Main, sind ausgerechnet für Kommentare zu toten Dichtern
im „Deutschen Klassiker Verlag“ die Neuerungen verbindlich. Das gilt
auch für Übersetzungen, die „gewissermaßen auch als Kommentierungen
des literarischen Originals zu betrachten sind“, so
Suhrkamp-Pressechefin Heide Grasnick. Übersetzerverträge weisen eigens
darauf hin. Zugleich aber bestehen rund zwei Drittel der
deutschsprachigen Autoren, die die legendäre „Suhrkamp-Kultur“
mitschufen, auf der von früher gewohnten Schreibung. Und noch ist der
Wille des Autors heilig.
Ähnlich buntscheckig ist das Bild in der schöngeistigen Abteilung des
Münchner Carl Hanser Verlags. Kinder- und Jugendbücher folgen dem
Neuschrieb, aber „Sachbuch und Literatur tun so, als ob sie von nichts
wüssten“, sagt Lektor Volker Matz. Nur auf Verlangen eines Autors
werden hier zur Zeit neue Schreibweisen verwendet. Zumindest ein Teil
der Reform-Regeln sei so unelegant oder widersinnig, meint Matz, dass
er bei vernünftigen Buchkäufern nicht durchzusetzen wäre.
„,Alleinstehend’ zum Beispiel soll jetzt in zwei Wörtern geschrieben
werden. Aber es ist etwas anderes, ob ich alleine stehen kann oder ob
ich Single bin. Da gehen doch wichtige Nuancen verloren.“ Die
Rechtschreibreform, vermutet er optimistisch, könnte sich nach und
nach von allein zurechtwachsen, weil „ein Teil der Sachen nicht
akzeptiert werden wird“.
Besonders heikel ist es mit den Klassikertexten. Bisher wurden sie
meist behutsam den Veränderungen der Schriftsprache angepasst: Aus dem
„Seyn“, wie es der Philosoph Schopenhauer schätzte, wurde das Sein,
aus dem Thee von anno Tobak der Tee von heute. Aber eine Erzählung des
biedermeierlichen Adalbert Stifter, sagt Matz, sei doch unmöglich „in
der letzten Schreibweise des 21. Jahrhunderts“ zu präsentieren. So sei
das Paradox entstanden, „dass man Klassiker wieder schreibt wie vor
200 Jahren“.
Nächstes Jahr wird bei S. Fischer eine große Thomas-Mann-Edition zu
erscheinen beginnen, textlich treu den Erstausgaben, als Reliquie
sozusagen. Hanser-Mann Matz: „Auf bürokratischem Weg sollte eine
einheitliche Schreibweise hergestellt werden, die theoretisch aus
irgendwelchen Begründungen abgeleitet wurde. Aber am Ende werden wir
drei Schreibweisen nebeneinander haben: Die reformierte, die moderat
alte und die historische. Die Verbindlichkeit löst sich auf.“
Schon jetzt gibt es auf dem Buchmarkt eine unscheinbare
Zwei-Klassen-Gesellschaft: Während Verlage mit schöngeistigem Programm
ihre deutschsprachigen Autoren selber entscheiden lassen, kommen
Gebrauchswerke überwiegend in der neuen Schreibweise auf den Markt.
Bei mehreren Programmlinien unter einem Dach geht die Trennung oft
mitten durch den Verlag: Die juristische Abteilung des C. H. Beck
Verlags fordert, anders als die belletristisch-historische,
Manuskripte gleich in neuer Rechtschreibung an. Zitate aus älteren
Texten indessen, bei Juristen alltäglich, müssen in authentischer
Originalschreibweise erscheinen.
Lektor Matz beobachtet an sich als „üble Folge“ des Tohuwabohus eine
wachsende Gleichgültigkeit. Wenn er in der „Frankfurter Allgemeinen“
über eine sonderbare Schreibweise stolpere, überlege er: „Ist das ein
Druckfehler oder die Rechtschreibreform? Irgendwas wird es schon sein,
sagt man sich, das ist sowieso alles kurios und liest weiter. Es
gibt jetzt eine Grauzone.“
Die hatten Fachleute seit langem vorhergesagt. Doch nun sind alle
Zwangsmitglieder im orthografischen Chaos-Club Deutschland. Und wo
Präzision ohnehin futsch ist, schwindet die Furcht vor dem Rotstift.
Kurse für Unsichere, wie Volkshochschulen sie anbieten, sind kaum
einmal ausgebucht. Auch in Amtsstuben erregt sich niemand. „Es geht ja
selten um Delfine“, witzelt Rainer Schwing von der Frankfurter
Stadtverwaltung.
Bestätigt fühlen kann sich die große Zahl verstockter
Privat-Orthografen vom extrem niedrigen Rechtschreibstandard in den
Datennetzen. Der Buchversender „Amazon.de“ prüft die
Amateur-Rezensionen, zu denen er seine Kunden ermuntert, gar nicht
erst auf Schreibfehler. Bei flinken E-Mails werden fast regelmäßig die
Möglichkeiten elektronischer Prüfung übergangen. In den winzigen
Text-Botschaften von Handy zu Handy geht es sowieso anarchisch knapp
zu.
„Meine Rechtschreibung ist nicht mehr so propper wie früher, weil
alles per Mail so schnell geht“, gesteht Nicholas Negroponte,
Medien-Guru vom Massachusetts Institute of Technology. „Aber ich
glaube, das ist heute auch nicht mehr so wichtig.“
Gründlichere hoffen auf Suchmaschinen, die Begriffe in neuer und alter
Schreibung aufspüren. Angekündigt sind solche
„schreibweisentoleranten“ Helfer längst, doch quer durchs weltweit
wuchernde Netz der Dokumente lotst noch keiner.
Nur einige CD-Roms für Zeitungsjahrgänge und andere feste
Datenbestände bieten bislang die Möglichkeit, Crêpes auch in der
reformierten Form als „Krepps“ im Text zu finden. Doch trotz der
ringsum wachsenden Datenflut macht das höchstens ein paar
weitblickenden (vielleicht gar weit blickenden) Bibliothekaren Sorgen.
Alle Übrigen handeln nach dem Prinzip: „Sehe jeder, wo er bleibe, und
wer steht, daß er nicht falle“. Das riet immerhin schon der
orthografisch tolerante Geheimrat Goethe seinen Zeitgenossen, und
Kollege Gottfried Keller gab noch 1860 zu: „Ich verfahre immer nach
augenblicklicher Eingebung.“
Behaglich war es beiden Dichtern dabei allerdings nicht und genauso
geht es auch heute wieder vielen Schreibenden. Wie tief das
irreversible Durcheinander sie verunsichert und wohl oft auch
frustriert, zeigt drastisch eine einzige Zahl: Der Rechtschreib-Duden,
so wenig er im Schreib-Wildwuchs noch unanfechtbares „Standardwerk“
(Verlagswerbung) ist, wird seit über drei Jahren besser verkauft als
jedes andere Nachschlagewerk.
JOHANNES SALTZWEDEL, RAINER TRAUB
© DER SPIEGEL 14/2000
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Zum Thema:
Kontext:
Titel: Murks mit Majonäse
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,71474,00.html
Rechtschreibung: Reformkorrektur stiftet neues Chaos
http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,3252,00.html