Neutra Nom. und Akk

Hallo,

Im Lateinischen ist mir zum ersten Mal aufgefallen, dass Neutra (aller Wortarten) im Nominativ und Akkusativ (Singular und Plural) stets gleich lauten. Nach kurzer Überlegung konnte ich diese Aussage auf Deutsch, Englisch, Altgriechisch und Altnordisch übertragen.
Daher die Frage:
Kennt irgendjemand eine Sprache, in der dies nicht der Fall ist?
Und - sollte es tatsächlich (fast) überall so sein:
Wie kam das zustande?

mfg,
Ché Netzer

Hallo,

eine indogermanische Sprache, in der das nicht so ist, kenne ich nicht. Die Herkunft ist eigentlich recht simpel. Im Urindogermanischen gab es - so die die allgemein akzeptierte Theorie - keine Unterscheidung in die grammatischen Geschlechter. Wichtig war das natürliche Geschlecht: Männlich bzw. weiblich für Lebewesen und (das deutsche Wort trifft den Nagel auf den Kopf:smile: sächlich für Sachen. Sachen waren ursprunglich nicht subjektfähig, denn sie können ja nicht handeln, deshalb gab es ursprünglich keinen Nominativ. Sie wurden dafür oft im Akkusativ gebraucht, nämlich als Objekt. Als Neutra subjektfähig wurden, v.a. infolge der Entwicklung des Passivs, wurde als Nominativ einfach der Akkusativ benutzt, weil diese Form halt häufig benutzt wurde und deshalb als gewissermaßen Grundform empfunden wurde. Und so sind Nominativ und Akkusativ bei Neutra halt formengleich, und zwar muss man richtig herum formulieren: der Nominativ ist gleich dem Akkusativ.

Das habe ich jedenfalls von einer Dozentin so gehört. Quelle kann ich keine angeben, aber das dürfte in Lehrbüchern zur Indogermanistik stehen, z.B.:

http://www.amazon.de/Indogermanische-Sprachwissensch…

Gruß

Marco

Aber manche „Sachen“ können durchaus auch handeln, z.B. das Heer (lat. exercitum, neutral).
Lässt das auf eine Ursprache schließen, in der es kein Passiv und keine kollektiven/sonstwie neutralen Subjekte gab?
Allerdings gibt es doch immer Verben, die auch zu Gegenständen passen ("… ist dort, fällt um, …").

mfg,
Ché Netzer

Hallo!
Kleine Ergänzung:

Im
Urindogermanischen gab es - so die die allgemein akzeptierte
Theorie - keine Unterscheidung in die grammatischen
Geschlechter. Wichtig war das natürliche Geschlecht: Männlich
bzw. weiblich für Lebewesen und (das deutsche Wort trifft den
Nagel auf den Kopf:smile: sächlich für Sachen.

Ich habe es seinerzeit in der Vorlesung zur Vergleichenden Sprachwissenschaft so gehört:
Es gab eine ursprüngliche Einteilung der Substantive in die Kategorien belebt/unbelegt. Das hat sich teilweise erhalten bei den Pronomina (wer/was, jemand/etwas usw.) und z. T. in der Deklination in slawischen Sprachen (z. B. Russisch).
Daneben entwickelte sich die Einteilung (von „belebt“) nach dem natürlichen Geschlecht, wobei dem Neutrum vor allem die Funktion eines Oberbegriffs für die beiden Geschlechter zukam (das dann eigentlich ein Utrumque wäre). Etwa eine Vorstellung eines „das Gott“ (lat. numen, agriech. to theion), das noch im Nhd als das Subjekt „es“ beim Wetter vorhanden sei.
Es wurde dabei aber Vieles als hypothetisch bezeichnet.
Zur Beantwortung der Frage nach der Formenidentität von Nom. und Akk. N. kann ich nichts sagen.
Schöne Grüße!
Hannes

Hallo.

Ja, das ist in allen indoeuropäischen Sprachen so und stammt von der indoeuropäischen Ursprache vor einigen tausend Jahrhunderten. Wie das zustande kam - da kann man nur vermuten, raten und Hypothesen machen. Solche Hypothesen haben schon andere hier eingestellt. Aber wie du auch erwähnst, stimmen diese Hypothesen nicht mehr für eine historische indoeuropäische Sprache wie Latein. Daher ist zu vermuten, dass der Sachverhalt auf eine frühere Epoche zurückgeht, und dass die Sprachen sich später diezbezüglich geändert haben.

Beste Grüsse,
TR

Aber manche „Sachen“ können durchaus auch handeln, z.B. das
Heer (lat. exercitum, neutral).

Solche Nomen sind, denke ich, meist abgeleitet. Mein Latein ist dank Chinesisch und Thai stark eingerostet, daher kann ich hier nur vermuten, dass das Wort von einem Adjektiv o.ä. abgeleitet sein könnte.

Lässt das auf eine Ursprache schließen, in der es kein Passiv
und keine kollektiven/sonstwie neutralen Subjekte gab?
Allerdings gibt es doch immer Verben, die auch zu Gegenständen
passen ("… ist dort, fällt um, …").

Das wird/wurde in vielen Sprachen (und vllt. auch im PIE, Marco?) tatsächlich durch Konstruktionen ausgedrückt, in denen das sächliche Nomen wie ein Objekt erscheint, also den Akkusativ (oder einen anderen Kasus) trägt. Also etwa „Den Baum fällt’s um.“
Die Kopula „sein“ (ist) ist dann wieder was anderes, weil das nicht als richtiges Verb gilt, da es sich meist anders verhält.

Gruß aus Südostasien, wo mangels Genera sowas wie ein „Neutrum“ völlig unbekannt ist,

  • André

daher kann ich
hier nur vermuten, dass das Wort von einem Adjektiv o.ä.
abgeleitet sein könnte.

Ja, von einem verb, soweit ich weiß.

Das wird/wurde in vielen Sprachen (und vllt. auch im PIE,
Marco?) tatsächlich durch Konstruktionen ausgedrückt, in denen
das sächliche Nomen wie ein Objekt erscheint, also den
Akkusativ (oder einen anderen Kasus) trägt. Also etwa „Den
Baum fällt’s um.“

Hast du da zufällig irgendeine Sprache mit Beispiel parat?7
Und übrigens ist „es“ in deinem Satz das Subjekt :wink:

mfg,
Ché Netzer

Hi,

wie Tormod schon anmerkte, muss man den Sprachzustand, den ich in meiner Hypothese, die ich so von einer Dozentin gehört hatte, einige Tausend Jahre vor Beginn schriftlicher Aufzeichnungen ansiedeln. Deshalb bleiben solche Theorien immer nur Spekulationen. Und wie man im Urindogermanischen sagte „Die Vase fällt um“, wenn die Vase sächlich war und keinen Nominativ hatte, gehört zu den Fragen, auf die ich keine Antwort habe. Eine Möglichkeit wäre zu sagen „Jemand stößt die Vase um“, also die Benutzung eines intransitiven Verbs mit unbestimmtem Subjekt anstelle eines intransitiven Verbs. Am plausibelsten erscheint mir, dass es in dem Stadium, in dem Dinge keinen Nominativ hatten, noch keine intransitiven Verben gab, sondern dass diese erst später aus den transitiven Verben entstanden. Du kannst ja noch heute beobachten, dass intransitive und zugehörige transitive Verben (die dann Kausativa) heißen, vom selben Stamm abgeleitet werden: fällen - fallen. Was exercitum betrifft, wurde ja schon ergänzt, dass das Wort Tausende Jahre nach dem von mir erwähnten Sprachzustand entstand, zu dem Zeitpunkt gab es längst grammatische Geschlechter, und Neutra hatten einen Nominativ.

Aber manche „Sachen“ können durchaus auch handeln, z.B. das
Heer (lat. exercitum, neutral).
Lässt das auf eine Ursprache schließen, in der es kein Passiv
und keine kollektiven/sonstwie neutralen Subjekte gab?

nein. erstens siehe oben und die Ergänzungen der anderen Antworter. zweitens schließt man die Nichtexistenz des Passivs im Indogerm. aus anderen Beobachtungen, z.B. der Existenz von Deponentien in manchen alten Sprachen oder der völlig unterschiedlichen Bildung des Passivs in den einzelnen Sprachen, was bis zum Fehlen eines „richtigen“ Passivs in den slawischen Sprachen reicht. Und dein Gedankengang, wieso man aus der Existenz des Wortes exercitum auf das Fehlen eines Neutrums oder Kollektivums im Indogerm. schließen soll, ist mir auch nicht ganz klar. Ein Kollektivum (also man sollte es wohl am besten als einen weiteren Numerus neben Singular, Dual und Plural begreifen) scheint es im Indogerm. übrigens tatsächlich gegeben zu haben. Man vermutet hinter dem sächlichen Plural auf -a (wie man es aus dem Latein, Altgriechischen oder Russischen kennt) einen Kollektiv. Wichtigstes Indiz dafür ist die Tatsache, dass der sächliche Plural als Subjekt im Altgriechischen mit einem Verb im Singular verbunden wird. Aber auch das ist natürlich nur Spekulation.

Viele Grüße

Marco

Da war André etwas schneller als ich und hat dasselbe vermutet wie ich. Wissen tu ich’s aber auch nicht, allerdings wissen tut es letztlich niemand.

Übrigens kommt exercitum vom Verb exercere „üben, quälen“. exercitum ist das Partizip Perfekt Passiv Neutrum „das Gequälte“. Daraus kann man, wenn man will, gewisse Rückschlüsse auf die Art der militärischen Ausbildung bei den Römern ziehen. (Geübt heißt übrigens exercitatus).

Grüße

Marco

Eine Möglichkeit wäre zu sagen "Jemand

stößt die Vase um", also die Benutzung eines intransitiven
Verbs mit unbestimmtem Subjekt anstelle eines intransitiven
Verbs.

Ich vermute mal, das erste „intransitiv“ sollte „transitiv“ heißen.

Du kannst ja noch heute beobachten, dass intransitive und zugehörige transitive Verben (die dann Kausativa) heißen, vom selben Stamm abgeleitet werden: fällen - fallen.

Kann es sein, dass aus den intransitiven Varianten dann auch noch Substantive gebildet werden?

Und dein Gedankengang, wieso man
aus der Existenz des Wortes exercitum auf das Fehlen eines
Neutrums oder Kollektivums im Indogerm. schließen soll, ist
mir auch nicht ganz klar.

Naja, exercitum & Co. sind Wörter, die sozusagen eigenständig handeln können. Kollektiva meist auch, und die werden ja oft neutral gebildet.
Wenn Neutra aber nur im Akkusativ existieren, dürfte es solche Wörter doch nicht geben, da sie nicht handeln dürften. Ansonsten müssten sie im Nominativ stehen, der bei ihnen nicht existiert. Somit müssten alle Möglichkeiten mit neutralen Subjekten ausgeschlossen werden.

mfg,
Ché Netzer

Übrigens kommt exercitum vom Verb exercere „üben, quälen“.
exercitum ist das Partizip Perfekt Passiv Neutrum „das
Gequälte“. Daraus kann man, wenn man will, gewisse
Rückschlüsse auf die Art der militärischen Ausbildung bei den
Römern ziehen.

Exerzieren halt.

(Geübt heißt übrigens exercitatus).

Und das Heer heißt exercitus, us, gehört also zur u-Deklination.
Heer als exercitum, wie weiter oben vorgeschlagen, ist auf wenige exotische Vorkommen beschränkt.
Schönen Gruß
Hannes

Ich vermute mal, das erste „intransitiv“ sollte „transitiv“
heißen.

sollte es in der Tat.

Kann es sein, dass aus den intransitiven Varianten dann auch
noch Substantive gebildet werden?

ja: der Fall. wobei du streiten kannst, was wovon abgeleitet wird (ist eine typische Henne-Ei-Frage).

Und dein Gedankengang, wieso man
aus der Existenz des Wortes exercitum auf das Fehlen eines
Neutrums oder Kollektivums im Indogerm. schließen soll, ist
mir auch nicht ganz klar.

Naja, exercitum & Co. sind Wörter, die sozusagen eigenständig
handeln können. Kollektiva meist auch, und die werden ja oft
neutral gebildet.
Wenn Neutra aber nur im Akkusativ existieren, dürfte es solche
Wörter doch nicht geben, da sie nicht handeln dürften.
Ansonsten müssten sie im Nominativ stehen, der bei ihnen nicht
existiert. Somit müssten alle Möglichkeiten mit neutralen
Subjekten ausgeschlossen werden.

ich verstehe. Dein Hauptdenkfehler ist die Annahme, dass es ein sächliches Wort „Heer“ in dem von mir erwähnten uralten indogerm. Sprachzustand gegeben hat. Ich würde mit deinem Argument eher schlussfolgern, dass das indogerm. Wort für Heer nicht sächlich gewesen sein kann. Abgesehen davon, dass „das Heer“ in „ordentlichem“ Latein maskulin ist, wie Hannes richtigstellte. Und als ich erwähnte, dass es im PIE vielleicht einen Kollektiv als Numerus gab, sind darunter nicht Kollektiva im heutigen linguistischen Sinn zu verstehen (also Wörter wie Polizei, Familie u. dgl.), sondern - ich sagte ja, dass man hinter dem sächlichen Plural auf -a diesen Kollektiv vermutet - die Zusammenfassung von mehreren Objekten (also Neutra) zu einer Menge, die man dann als Einheit sieht. Und die kann man ja super als z.B. Akkusativobjekt benutzen. Ich sagte übrigens nicht, dass Neutra nur im Akk. existieren, sondern ich sagte, dass sie in einem frühen Zustand des PIE keinen Nom. besitzen, die anderen Fälle wie Instrumental oder Lokativ hat es aber wohl durchaus gegeben.

Grüße

Marco

Kann es sein, dass aus den intransitiven Varianten dann auch
noch Substantive gebildet werden?

ja: der Fall. wobei du streiten kannst, was wovon abgeleitet
wird (ist eine typische Henne-Ei-Frage).

Stimmt auch wieder.
Aber wenn man eine Art Ableitungsverbindung herstellt, dann zwischen den Verben und dem intransitiven Verb und dem Substantiv.

Naja, exercitum & Co. sind Wörter, die sozusagen eigenständig
handeln können. Kollektiva meist auch, und die werden ja oft
neutral gebildet.
Wenn Neutra aber nur im Akkusativ existieren, dürfte es solche
Wörter doch nicht geben, da sie nicht handeln dürften.
Ansonsten müssten sie im Nominativ stehen, der bei ihnen nicht
existiert. Somit müssten alle Möglichkeiten mit neutralen
Subjekten ausgeschlossen werden.

ich verstehe. Dein Hauptdenkfehler ist die Annahme, dass es
ein sächliches Wort „Heer“ in dem von mir erwähnten uralten
indogerm. Sprachzustand gegeben hat. Ich würde mit deinem
Argument eher schlussfolgern, dass das indogerm. Wort für Heer
nicht sächlich gewesen sein kann.

Das meinte ich doch, dass es keine neutralen Subjekte geben konnte…

Abgesehen davon, dass „das
Heer“ in „ordentlichem“ Latein maskulin ist, wie Hannes
richtigstellte.

Jaja, das Beispiel war etwas schlecht gewählt :smile:

Und als ich erwähnte, dass es im PIE
vielleicht einen Kollektiv als Numerus gab, sind darunter
nicht Kollektiva im heutigen linguistischen Sinn zu verstehen
(also Wörter wie Polizei, Familie u. dgl.)

Das meinte ich auch nicht. Eher das “Neutrum-Plural-Kollektivum“, wenn ich nichts verwechsle.

, sondern - ich
sagte ja, dass man hinter dem sächlichen Plural auf -a diesen
Kollektiv vermutet - die Zusammenfassung von mehreren Objekten
(also Neutra) zu einer Menge, die man dann als Einheit sieht.

Genau das.

Und die kann man ja super als z.B. Akkusativobjekt benutzen.

Aber auch als Subjekt.

Ich sagte übrigens nicht, dass Neutra nur im Akk. existieren,
sondern ich sagte, dass sie in einem frühen Zustand des PIE
keinen Nom. besitzen, die anderen Fälle wie Instrumental oder
Lokativ hat es aber wohl durchaus gegeben.

Da habe ich ja auch nichts anderes behauptet…

mfg,
Ché Netzer