Sozilogie: Autopoeisis, radikaler Konstruktivismus

Hallo,
ich stehe kurz vor der fachabschliessenden Prüfung in Soziologie. Leider konnte ich nirgendwo ein praktisches Beispiel für Autopoeisis finden. Die Erklärungen waren immer sehr theoretisch und abstrakt und daher schlecht zu fassen. Es wäre schön, wenn mir jemand ein Beispiel aus dem Alltag geben könnte und vielleicht eine etwas verständlichere theoretische Erklärung. Da ich aus dem pädagogischen Bereich komme, werde ich in der Prüfung eine Fallanalyse durchführen und an diesem Beispiel auch Autopoeisis deutlich machen müssen.
Kann mir außerdem jemand sagen, wo der Unterschied zwischen dem radikalen Konstruktivismus und dem sozialen Konstruktivismus ist?
Vielen, vielen DAnk schon mal im voraus,
viele Grüße, Stefanie

Hallo,

Autopoeisis finden.

Du meinst wohl autopoiesis?
Das kommt aus dem Griechischen und bedeutet „Selbstmachen“
Der chilenische Biologe Maturana hat den Begriff
eingeführt. Autopoietisch ist ein System, das darauf
ausgerichtet ist sich selbst zu erneuern,
z.B. eine biologische Zelle, die sich im Wechselspiel
von aufbauenden (anabolischen) und abbauenden
(katabolischen) Prozessen erneuert.
Im psychologischen Bereich spricht man von
selbstreferenziellen Systemen, also auf sich selbst bezogenen.
Der Gegensatz dazu wäre allopoietisch, auf Fremdfunktion
angewiesen.
Alle biologischen und viele gesellschaftliche oder gedankliche
Syteme sind autopoietisch,
während Maschinen allopoietisch sind.

Kann mir außerdem jemand sagen, wo der Unterschied zwischen
dem radikalen Konstruktivismus und dem sozialen
Konstruktivismus ist?

Konstruktivismus kenne ich als wissenschaftstheoretischen
Versuch einen begründetetn und zirkelfreien Aufbau der
Wissenschaften zu erstellen.
Meinst du das?

Gruß
Walden

Hallo,

Kann mir außerdem jemand sagen, wo der Unterschied zwischen
dem radikalen Konstruktivismus und dem sozialen
Konstruktivismus ist?

der soziale Konstruktivismus ist soziologischer Natur und betrifft die Autonomie einer Gesellschaft. Der radikale Konstruktivismus ist erkenntnistheoretisch und behauptet der Einzelne die Welt konstruiert.

http://de.wikipedia.org/wiki/Konstruktivismus_(Philo…

Gruß

Bona

Hallo Stefanie,

Walden und Bona haben ja schon gut vorgearbeitet, von mir noch mehr dazu:

ich stehe kurz vor der fachabschliessenden Prüfung in
Soziologie. Leider konnte ich nirgendwo ein praktisches
Beispiel für Autopoeisis finden.

schon mal Luhmann gelesen?

Die Erklärungen waren immer
sehr theoretisch und abstrakt und daher schlecht zu fassen. Es
wäre schön, wenn mir jemand ein Beispiel aus dem Alltag geben
könnte und vielleicht eine etwas verständlichere theoretische
Erklärung.

ich gebe Dir ein Zitat aus Luhmanns Hauptwerk, der „Gesellschaft der Gesellschaft“:

„… hat Humberto Maturana mit dem Begriff der Auopoiesis ein neues Moment eingeführt. Autopoietische Systeme sind Systeme, die nicht nur ihre Strukturen, sondern auch die Elemente, aus denen sie bestehen, im Netzwerk eben dieser Elemente selbst erzeugen“ (S. 65)

soweit die abstrakt Erklärung, nun der entscheidende Unterschied zur Systemtheorie Luhmanns vor seiner „autopoietischen Wende“ bzw. zu einer nicht-autopoietischen Systemtheorie:

„Es gibt weder Input noch Output von Elementen in das System oder aus dem System. Das System ist nicht nur auf struktureller, es ist auch auf operativer Ebene autonom. Das ist mit dem Begriff der Autopoiesis gesagt“ (S. 67)

Entscheidend ist der Term: „operative Ebene“!

Nun zur Verdeutlichung etwas anschaulichere, „praktische“ Zitate aus Luhmanns „Wirtschaft der Gesellschaft“:

Luhmann polemisiert hier gegen U.Beck, und allgemein gegen Versuche der politischen „Gesellschaftssteuerung“:

„Systemtheoretische Analysen, die … Vorstellungen wie Autopoiesis, Selbstorganisation, usw. verwenden, lenken den Blick zunächst auf die Selbststeuerung des Systems“ (325), hier der Ökonomie.

Während Beck, etc. glauben, die Ökonomie politisch steuern zu können, gilt für Luhmann: „Das politische System hat in dieser Hinsicht keine Ausnahmeposition; auch die Politik kann nur sich selbst steuern, und wenn ihre Steuerung sich auf ihre Umwelt bezieht, dann eben auf ihre Umwelt [d.h. die Umwelt der Politik]“ (334).

„Die Politik kann nur Bedingungen schaffen, die sich auf die Programme und damit auf die Selbststeuerung der Wirtschaft auswirken“ (346), aber eben nicht selbst die Wirtschaft steuern, weil „die Systemreferenzen [Eigenlogiken] Politik und Wirtschaft getrennt bleiben“ (345).

Die Systemreferenz bzw. Eigenlogik bzw. Code ist das binäre Schema, entlang dem sich ein System autpoietisch strukturiert;
z.B. ist der Code der Ökonomie „(Be)Zahlen/Nicht-(Be)Zahlen“, dehalb kann die Politik mit ihrem Code „überlegene/unterlegene Macht“ nur die Umwelt des Wirtschaftssystems verändern, unmöglich aber das Funktionieren des Wirtschaftssystems selbst …

„Begreift man die Wirtschaft als Autopoiesis des Zahlens, dann ist klar, dass es bei aller wirtschaftlichen Steuerung immer um Geldmengendifferenz geht“ (343), und eben nicht um Machtdifferenz (Politik) oder um Wahrheitsdifferenz (wahr/falsch; Wissenschaft)…

Ich habe mein bestes getan, die Autopoiesis ist eigentlich gut verständlich, aber in wenigen Sätzen kaum erklärbar;

Lektüretipp: Kneer/Nassehi: Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme

(eine Art trivialisierende Einführung mit einer Erklärung der Auopoiesis)

Da ich aus dem pädagogischen Bereich komme, werde
ich in der Prüfung eine Fallanalyse durchführen und an diesem
Beispiel auch Autopoeisis deutlich machen müssen.

Versuch doch mal nach dem bisher Gesagten selbst eine solche Fallanalyse, und poste sie; dann kann ich Dir gerne Feedback geben …

Kann mir außerdem jemand sagen, wo der Unterschied zwischen
dem radikalen Konstruktivismus und dem sozialen
Konstruktivismus ist?

Auch da müsste ich wieder weit ausholen:

der soziale Konstruktivismus kommt philosophisch aus der Phänomenologie Husserls, soziologisch von den Arbeiten Alfred Schütz’ her (20er Jahre; „Der soziale Aufbau der Welt“);

das zentrale und ihn eigentlich begründende Werk ist: Berger/Luckmann „Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit“, das den Ansatz von Schütz weiterführt, und stärker als „Soziologie“ konzipiert, und etwas Mead, bzw. Symbolischen Interaktionismus, und etwas Karl Mannheim hinzutut …

der radikale Konstruktivismus kommt philosophisch aus einer ganz anderen Richtung, z.B. von Goodman, den man als kritische Weiterführung Carnaps begreifen kann (gegen den sich übrigens Schütz damals gewendet hat …);

außerdem kommen die Einflüsse aus der biologischen Forschung der Chilenen Maturana und Varela, der Anti-Psychiatrie von Bateson und Watzlawick, etc., allgemein aus allen Sozial- und Naturwissenschaften.

Man könnte vielleicht zur Abgrenzung sagen, dass der Sozialkonstruktivismus davon ausgeht, dass die Dinge der Welt sind wie sie sind, dass aber die Gesellschaft bestimmt, wie wir ihnen Bedetung zuschreiben bzw. was sie für uns bedeuten, und wie wir ihnen gegenüber handeln.

Der Radikale Konstruktivismus dagegen begreift bereits diese Dinge als konstruiert, es gibt nichts unterhalb der Konstrukte, welche durch alltägliche und wissenschaftliche Erkenntnisprozesse geschaffen werden, nur ein „Rauschen“, „noise“.

In der Soziologie wird dies selten trennscharf abgegrenzt, die meisten bekannten Konstruktivisten, wie z.B. Karin Knorr-Cetina bewegen sich relativ zwangslos zwischen diesen Konstruktivismus-Versionen (auch Luhmann zu einem gewissen Teil, auch wenn er in seinen methodologischen Aussagen klar am Radikalen Konstruktivismus sich orientiert)

auch hier ein Lektüretipp:
Ian Hacking „Was heißt ‚soziale Konstruktion‘?“

(er zeigt was „Konstruktivismus“ heißt, und grenzt die Konstruktivismen voeinander ab)

Wikipedia zeigt auch Unterschiede:
http://de.wikipedia.org/wiki/Radikaler_Konstruktivismus
http://de.wikipedia.org/wiki/Sozialkonstruktivismus

wobei gerade die Seite zum Sozialkonstruktivismus meines Erachtens sehr problematisch/falsch ist.

Viele Grüße
Franz

Hallo,
das hat mir alles auf jeden Fall schon mal weiter geholfen. Vielen Dank für eure Hilfe. Bin mit der FAllanalyse noch nicht so weit, dass ich Autopoiesis darauf anwenden kann, aber wenn ich so weit bin werd ich das hier vielleicht noch mal posten.
Viele Grüße, Stefanie

Moin, moin,

inhaltlich ist ja kaum noch etwas hinzuzufügen. Vielleicht noch ein kleiner Lektüretipp:

Da ich aus dem pädagogischen Bereich komme

Luhmann: Das Erziehungssystem der Gesellschaft.

Man mag davon halten, was man will, aber Luhmann bietet nochmal eine kleine Einführung in die Grundbegriffe seiner späten Systemtheorie.

Luhmanns These ist, dass Bildung im Personwerden besteht, d.h. eine Person ist für die essentielle Operation des Gesellschaftssystems (nämlich Kommunikation) anschlussfähig, wofür möglichst das Problem der doppelten Kontingenz vermieden wird.

Bildung wird damit zur Ausbildung!

Gruß Eddie.