Hallo Lisa,
dieses Brett heißt Religion und Ethik, nicht etwa „Beifallsbrett für Amtskirchen“. Es wäre ein starkes Stück, müßte man während einer sachlichen - auch kritischen- Diskussion Sorge haben, daß zum Thema passende Beiträge gelöscht werden. Wenn es dennoch passiert, muß das Konsequenzen haben, macht der für die Löschung Verantwortliche einen miserablen Job.
Die Frage nach dem Unterschied zwischen Religion und Sektierertum, zwischen Kirche und Sekte, auch das Anlegen von Bewertungsmaßstäben, geht weit über die jedem zugestandene Religionsfreiheit hinaus. Immerhin gibt es eine aktuell laufende Diskussion und vor höchsten Gerichten anhängige Verfahren, die sich zwar mit Einzelfragen, wie etwa der Anerkennung von Scientology als Kirche oder dem Religionsunterricht im Land Brandenburg beschäftigen, aber letztlich werden uralte Ansprüche der Amtskirchen und deren Wesen insgesamt in Frage gestellt. Wenn heute von „gesellschaftlich relevanten Gruppen“ die Rede ist, die zu bestimmten politischen Vorhaben gehört werden, dann sind damit Gewerkschaften, Arbeitgeber etc, aber auch die Kirchen gemeint. Es sind Gruppen gemeint, die ihre Interessen zu wahren haben, die Einfluß und Macht ausüben. Das ist der Punkt: Es geht nicht um Glaubensinhalte, es geht um Macht und Einfluß.
Um auf den Kern der Diskussion Religion/Sekte zu kommen, muß ich zur Verdeutlichung noch ein kleines Stück weiter ausholen:
Wenn eine neue politische Partei gegründet wird, spielt sich regelmäßig Vergleichbares ab. Die Vorgänge sind nur besser zu beobachten, weil von Beginn an öffentlich zugänglich. Es gibt in jeder Region eine spezifische Parteienarithmetik. Man kennt die prozentualen Anteile an Wählerstimmen, die Schwankungsbreite ist bekannt, der Anteil von Stammwählern, die komme was da wolle, immer das Kreuz an gleicher Stelle machen, ebenso. Jetzt gründet jemand eine neue Partei, sammelt Anhänger um sich, erzielt Anfangserfolge. Dann beginnt das immer gleiche Spiel: Die Etablierten sehen das bekannte Gefüge in Gefahr. Wenn überhaupt, setzt man sich mit Inhalten nur am Rande auseinander. Statt dessen wird die neue Größe nicht als Partei bezeichnet, es ist eine Splitterpartei, eine Gruppe, aber jedenfalls keine „richtige“ Partei. Dann werden die Gründungsmitglieder vom Kassenwart bis zum Vorsitzenden unter die Lupe genommen. Wer sucht, der findet auch. Einer hat eine zweifelhafte Pleite hingelegt, der nächste als Amtsrichter merkwürdige Urteile gefällt usw. Ein gefundenes Fressen für die Altparteien, die das genüßlich auswalzen. Die Umverteilung von Macht und Einfluß muß vermieden werden und es kommen anzulegende Maßstäbe auf den Tisch, um dem Volk die Augen zu öffnen. Außerdem demonstrieren die Altparteien Einigkeit, daß man mit den Neuen nie zusammen arbeiten wird. Es stört auch niemanden, daß in den eigenen Reihen etliche Richter ganz anderen fürchterlichen Kalibers saßen oder sitzen, neben etlichen Pleitiers, gegen die die Neugründer Weisenknaben sind. Das ist nicht das Thema, die selbstgeschnitzten Maßstäbe werden auf die Neuen angelegt und fertig.
Man erkennt die Parallelen. Es hat mit Glauben überhaupt nichts zu tun. Es ist ein sich immer wiederholendes Spiel, sobald es um die Neuverteilung von Macht, Einfluß und Geld geht. Dahinter stehen immer Menschen, keine Heiligen, keine Götter. Nicht anders bei den Kirchen. Von Menschen gemachte Organisationen, von Menschen verwaltet, einzelne Menschen, die in ihrem Beruf Karriere gemacht haben - keine Götter - stehen an der Spitze.
Und sie machen ihren Job. Sie sollen Einfluß und Macht ihrer Organisation halten und nach Möglichkeit ausbauen. Ihr vermarktetes Produkt ist Spiritualität, das in einer bestimmten Erlebniswelt an den Mann und die Frau zu bringen ist. Gegen Bares versteht sich. Wer auch nur in geringster Schattierung anderes behauptet, muß bitte vorher die gesamte Geschichtsschreibung unter Verschluß nehmen. Von Auswüchsen abgesehen, ist daran auch nichts Negatives. Spiritualität gehört offenkundig zu den menschlichen Bedürfnissen, die wie Essen und Trinken und das Dach über dem Kopf in unterschiedlicher individueller Ausprägung befriedigt werden müssen.
Wie in jedem anderen Marktsegment auch, gibt es Scharlatane, die ein untaugliches, zu teures oder gar mit gefährlichen Mängeln behaftetes Produkt anbieten oder die unfeine Methoden der Kundenbindung anwenden. Um das rechtzeitig zu erkennen, können Auswahlkriterien helfen. Aber nur bei den eindeutigen Fällen. Ansonsten wird man feststellen, daß zwangsläufig alle Anbieter von Spiritualität in ähnliche Nöte mit den Kriterien kommen. Zwangsläufig deshalb, weil sie auf unterschiedlichen Wegen die gleichen Ziele verfolgen: Macht, Einfluß, Geld - sie verdienen eben ihren Lebensunterhalt auf diese Weise.
Wenn nun ein etablierter Anbieter seinen Wettbewerber mit dem Wort „Sekte“ tituliert, ist das sein Stil, sich gegen den drohenden Verlust von Marktanteilen zu wehren. Wie bei den Anbietern von Schaumwein. Mit dem Produkt allein können sie keine Kunden gewinnen, Traubensaft ist alles, aber nur die Anbieter aus einer bestimmten Region liefern Champagner. Der Rest ist nur Sekt, der aber deshalb noch lange nicht von minderer Qualität oder schlechterem Geschmack sein muß.
Ich würde gründlich mißverstanden, wenn man annimmt, ich wollte mit den Parallelen zum üblichen Marktgeschehen etwas ins Lächerliche ziehen. Das Gegenteil ist der Fall. Es ist im Sinne der klaren Einschätzung des Geschehens hilfreich, die Dinge von Nebulösem und vom Göttlichen zu trennen. Was sich als Kirche, Sekte, man nenne es nach Belieben, was sich also anbietet, ist Menschenwerk. Von Menschen geleitete, verwaltete Organisationen, hierarchisch strukturiert wie jedes andere Unternehmen auch. Sie stehen im Wettbewerb, wobei sich einige wie bei ehemaligen Monopolisten üblich, mit der Vermarktung schwer tun.
Gruß
Wolfgang