Nochmal Etymologie: 'Urteil'

Hallo,

ich habe vor kurzem einen Text noch einmal gelesen, in dem die Etymologie des Wortes „Urteil“ als „Ur-Teil“ als falsch dargestellt wurde. Da ich gerade kein entsprechendes Lexikon zur Hand habe, stelle ich die Frage hier, angeregt durch das vorhergehende Posting.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hi Thomas,

ich habe vor kurzem einen Text noch einmal gelesen, in dem die
Etymologie des Wortes „Urteil“ als „Ur-Teil“ als falsch
dargestellt wurde. Da ich gerade kein entsprechendes Lexikon
zur Hand habe, stelle ich die Frage hier, angeregt durch das
vorhergehende Posting.

mein Duden meint, es sei eine Bildung zum Präfixverben Teil (hier gemeint: erteilen) und bedeutete ursprünglich „das, was man erteilt“. Diese allgemeine Bedeutung wurde früh eingeengt auf „Wahrspruch, den der Richter erteilt“; richterliche Entscheidung in einem Rechtsstreit".

Gruß

Sancho

‚Urteil‘ und ‚Urlaub‘
Hallo, Thomas,

Sancho hat Recht.
Betrachte auch „Urlaub“ = „Erlaubnis (sich zu entfernen)“.

Und Kluge:

_ Urteil

Substantiv Neutrum Standardwortschatz (8. Jh.), mhd. urteil(e) n., ahd. urteil m./f./n., as. urdEli Stammwort.
Alte Nominalbildung zu erteilen, spezialisiert aus ahd. tuome irteilen, as. dOmos AdElian „Urteil erteilen“.
Wie das Substantiv kann auch das Verb (ahd. irteilen) speziell „ein Urteil sprechen“ bedeuten.
Freudenthal, K. F.: Arnulfingisch-karolingische Rechtswörter (Göteborg 1949), 71, 200;
Mezger, F. GS Kretschmer (1956/57), 62-68;
Röhrich 3 (1992), 1663f. deutsch s. ur-, s. Teil_

Gruß Fritz

Danke. Nachfrage
Hallo Sancho und Fritz,

schönen Dank für eure Postings. Ich bin mir noch nicht ganz sicher, ob nicht das er-teilen genauso von einer Ur-Teilung, nämlich des Sprechens über ein Zweites oder des Gebens an einen Zweiten, ableitbar ist. Ich füge hier deshalb den Passus aus der Literatur, auf den sich meine Frage bezog, noch einmal ein. Vielleicht hat ja jemand (von euch) noch eine Idee, warum man diese Auffassung zwingend als „irrig“ ansehen muss:

Der Passus lautet: Hölderlin „interpretiert … in Anlehnung an eine verbreitete, freilich irrige Etymologie, den Ausdruck ‚Urteil‘ als Anzeige einer Ur-teilung.“

Und die Anmerkung dazu lautet: „Die falsche Etymologie von ‚Ur-teil‘ ist auch bei Sinclair und Hegel belegt. In seiner populären Vorlesung … betont Fichte neben dem verbindenden besonders auch den trennenden Charakter des Urteils: ‚Urteilen heißt: ein Verhältnis zwischen verschiedenen Begriffen setzen. (…) Dieses wird durch Gegensatz deutlich‘.“ Ferner: „Im Akte des Urteilens werden die Begriffe aneinander gehalten; in dem ursprünglichen Akte, worauf sich dieses bezieht, können sie entweder an einander gehalten oder getrennt gewesen sein.“ Fichte spricht von der „Einteilung“ als „fundamentum divisionis“.

Leider ist die daraufhin genannte Sekundärliteratur hierzu mir nicht zugänglich, weil es sich um eine Münchener Magisterarbeit handelt. Solche Arbeiten werden bekanntlich nicht von der Fernleihe erfasst. Es findet sich nur der Satz (aus einem weiteren Aufsatz) zitiert: „Urtheilen, ursprünglich theilen; (…) es liegt ein ursprüngliches Theilen ihm zum Grunde“.

Könnte man nicht aus den von euch vorgetragenen Erklärungen doch unter gewissen Annahmen oder Analogien zu dieser Etymologie kommen, oder ist das nachweisbar völlig abwegig?

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Heinz Erhardt:

Ich geh im Urwald für mich hin…
Wie schön, dass ich im Urwald bin:
Man kann hier noch so lange wandern,
ein Urbaum steht neben dem andern.
Und an den Bäumen, Blatt für Blatt,
hängt Urlaub.
Schön, dass man ihn hat!

Wünsche euch allen, einen schönen noch vor sich oder bereits gehabt zu haben!
Helene

Es findet sich nur der Satz

(aus einem weiteren Aufsatz) zitiert: „Urtheilen, ursprünglich
theilen; (…) es liegt ein ursprüngliches Theilen ihm zum
Grunde“.

Der Grimm
http://germa83.uni-trier.de/DWB/welcome.htm
gibt umfangreiche Auskünfte dazu, hier nur ein kleiner Teil daraus:
"URTHEIL, m., ursprünglicher, einfacher, zu grunde liegender bestandtheil, urbestandtheil (ur- C 4 c). vgl. grundtheil. das präfix hat keine verkürzung erfahren wie bei 2urtheil, auch ist keine entwertung der stammsilbe wie bei urtel, urtl eingetreten: bei solchen körpern (schiefer) sind die urtheile klein, dicht und schwarz GÖTHE II 3, 33 W.; Carus, urtheile des knochen- und schaalengerüstes im allgemeinen betrachtet III 11, 228; gespräche 4, 93 B.; A. V. HUMBOLDT kosmos 1, 48; immer strebte der menschliche geist die mannigfaltigen formen der schöpfung auf einfache urtheile zurückzuführen SÖMMERRING bau des menschl. körpers 6, 127. für element CATEL bei CAMPE verd. wb. (1813) 282b. – "

Gruß
Helene

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Danke, sehr interessant, aber …
Hallo,

jetzt bleibt die Frage, wie denn der Autor des von mir zitierten Textes (Manfred Frank) darauf kommt, dass diese Etymologie falsch sei; darüber scheint ja in der Fachwelt durchaus ein Konsenz zu existieren.
Nun ist Grimm ja auch nicht gerade neueren Datums, möglicherweise hat Grimm bzw. Humboldt seine Definition sogar von Hölderlin genommen. Könnte es vielleicht daran liegen, dass man inzwischen Hinweise gefunden hat, die diese Etymologie verbieten?

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Möglicher Weg
Hey, Thomas!

Der Passus lautet: Hölderlin „interpretiert … in Anlehnung
an eine verbreitete, freilich irrige Etymologie, den Ausdruck
‚Urteil‘ als Anzeige einer Ur-teilung.“

Da bist du also. Hat mich auch schon beschäftig; ich bin damals aber nicht daran hängen geblieben. :wink: Vermutlich weil ich naiver gestrickt bin.

Ich würde nun beim Grimm nach „ur-“ schauen. Ich ein langer Atikel, darum schicke ich ihn dir per Mail.

Vielleicht nützt es!

Gruß Fritz

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Hallo Fritz,

Da bist du also.

entschuldige, das hätte ich vielleicht mitteilen sollen, aber das Buch war zum Zeitpunkt des Postings nicht greifbar … *UnordnungmeaculpaUnordnungmeaculpa*

Hat mich auch schon beschäftig;

Das ist erfreulich, dann bin ich wenigstens nicht der einzige, der da ein Problem sieht.

ich bin damals aber nicht daran hängen geblieben. :wink: Vermutlich weil
ich naiver gestrickt bin.

Nein, sondern weil du nicht zur Lektüre gezwungen warst. Ich hatte den Band in den Urlaub mitgenommen und gerade keine andere Lektüre zur Hand, so dass ich mir Gedanken darüber machen musste. :smile:

Ich würde nun beim Grimm nach „ur-“ schauen. Ich ein langer
Atikel, darum schicke ich ihn dir per Mail.
Vielleicht nützt es!

Boah, ist der lang … Vielen Dank, ich schau mir das heute Abend einmal an.

Herzliche Grüße

Thomas

Urtheil und Seyn
Hi Thomas

leider sehe ich dieses Posting erst jetzt.

Ich nehme an, das Ganze bezieht sich auf die auf Rück- und Vorderseite des Titelblatts eines Buchens geschriebene Notiz von Hölderlin „Urtheil und Seyn“:

Urtheil. ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellectualen Anschauung innigst vereinigten Objects und Subjects, diejenige Trennung, wodurch erst Object und Subject möglich wird, die Ur-Theilung … „Ich bin Ich“ ist das passendste Beispiel zu diesem Begriff der Urtheilung …

Tatsächlich findet sich diese falsche Etymologie auch bei Hegel, und zwar u.a. im Urteil-Kapitel der „Wissenschaft der Logik“.

Daß sie falsch ist, konnte man damals allerdings noch nicht erkennen, weil die indogermanischen Sprachzusammenhänge noch nicht erkannt waren.

Diese weisen eindeutig (nachzulesen bei Walde-Pokorny) auf ein Präfix bzw. eine Präposition *ud „hinauf, empor, hinaus“. Sie findet sich in lat. us-que, got. ut, ahd. uz (ahd. uzar „außer“) und unter anderem als Präp. ahd. ur, ar, ir, er mit der Bedeutung „aus, von“.

Die „Er“-Klärung, wie es zu dieser falschen Etymologie kommt, sehe ich darin, daß man, wie hier bei Hölderlin deutlich zu erkennen, das „Ur-“ des Urteils, analog zu „Urzeit“, „Urwelt“, sekundär wiederum aus Wörtern wie „Ursprung“, ableitete, so, daß sie als Prototyp eines „Ur-“ verstanden wurden („gesprungen aus einem Ur“).

Die begriffslogische Bestimmung als „fundamentale“ Teilung Subjekt - Objekt, die später bei Hegel in der Form „Subjekt - Prädikat“ als „das Einzelne ist Allgemeines“ usw. dialektisch genauer bestimmt wurde, ist ja von der falschen Etymologie unberührt.

Gruß

Metapher

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Hallo Metapher,

leider sehe ich dieses Posting erst jetzt.

macht nix, eilt ja nicht. :smile:

Ich nehme an, das Ganze bezieht sich auf …
„Urtheil und Seyn“:

So ist es.

Diese weisen eindeutig (nachzulesen bei Walde-Pokorny) auf ein
Präfix bzw. eine Präposition *ud „hinauf, empor,
hinaus“. Sie findet sich in lat. us-que, got.
ut, ahd. uz (ahd. uzar „außer“) und unter
anderem als Präp. ahd. ur, ar, ir, er mit der Bedeutung
„aus, von“.

Danke für die Erklärung. Ich werde das beizeiten nochmal nachlesen. Ich bin sprachgeschichtlich nicht so firm, aber könnte man denn nicht die Hölderlinsche Deutung dahingehend retten, dass man sagt, dass „aus, von“ immer auch ein „zu, hin“ bedeutet und insofern schon eine Teilung, nur eben keine zeitlich primäre, sondern eine logisch primäre (im kantischen Sinn)? Oder wäre die Etymologie so überstrapaziert? Kann man überhaupt so eindeutig von falscher Etymologie sprechen?

Herzliche Grüße

Thomas

könnte man denn nicht die Hölderlinsche Deutung dahingehend
retten, dass man sagt, dass „aus, von“ immer auch ein „zu,
hin“ bedeutet und insofern schon eine Teilung, nur eben keine
zeitlich primäre, sondern eine logisch primäre (im kantischen
Sinn)?

Ich glaube nicht, daß man da was retten muß, denn der Sinn der Bemerkung hängt ja nicht an dieser Etymologie. Ersetzt man das „ursprünglich“ durch „fundamental“, wie ich es tat, dann kommt es auf dasselbe raus. Und natürlich ist es ja eh nicht zeitlich gemeint, sondern logisch (nicht im Sinne des kantischen apriori, sondern im Sinne der ontologischen Option des Begriffslogischen, wie es dem ganzen objektiven Idealismus eigentümlich ist).

Oder wäre die Etymologie so überstrapaziert?

Sie scheint mir halt einfach nicht wichtig in dieser Notiz.

Kann man überhaupt so eindeutig von falscher Etymologie sprechen?

Seit es wissenschaftlch Methodik gibt in der Rekonstruktion der Sprachentwicklungen (Ablautgesetze usw.) würde ich schon meinen: ja, und zwar im Gegensatz zu dem, was man seitdem Volksetymologie nennt.

Gruß

Metapher

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Hallo Metapher,

ja, danke, das klingt überzeugend.

Herzliche Grüße

Thomas

Hallo, Thomas,

Metapher hat es schon viel besser gesagt, als ich es könnte.

Mir ist dazu Kepler eingefallen, der mit der schönen, aber falschen Vorgabe der pythagoräischen Körper im Kopf daran ging, das heliozentrische Weltbild zu begründen.
Und hat er es nicht herrlich weit gebracht?
Zu den Keplerschen Gesetzen und bis kurz vor die Einsicht in die Gravitationsgesetze!

Gruß Fritz

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Schöner Vergleich. Danke, Fritz. owT.