Liebe Nina Hawranke
Entschuldigung, dass ich mich erst heute melde. Ich war außerhalb und musste mich auch erst einmal in die Materie einarbeiten. Zu viele Fragen waren das nicht.
>>wüsste gerne, ob es in England vor Ankunft der Normannen 1066 schon Burgen oder zumindest Wohntürme gab.
In England gab es vor der Ankunft der Normannen sicher schon Burgen. Das waren aber, wie auch im Römischen Reich, Wallanlagen. Sicher gab es auch welche, die schon Steinmauern statt der Palisaden aus Holz hatten. Unter Burgen verstanden sich die ehemaligen römischen Kastelle, die nun zu Städten heran gewachsen waren oder sich an diesen in ihrem Aufbau daran anlehnten („-burgh“, „-Castel“).
Der älteste Wohnturm in England ist der Hauptbau von Chepstow in Wales, der zwischen 1067 und 1075 errichtet worden sein soll. Am Tower in London wurde ab 1078 gebaut.
>> Oder waren irgendwelche Vorläufer-Formen verbreitet?
Vorläufer aller Wohntürme sind in nachrömischer Zeit der um 800 errichtete Granusturm in Aachen, der zur dortigen Pfalz gehörte, und der Plenarturm vom Kloster St. Johannes Müstair ab 958. Dieses waren aber reine Wohntürme und dienten der Repräsentation.
Als Wehrtürme wurden sie wohl in Frankreich auf Grund der Bedrohung durch die Normannen umgebaut. Ab Anfang des 12. Jahrhunderts verbreiten diese sich über ganz Europa. Im 13. Jahrhundert erschienen die ersten Wohntürme als schlichter viereckiger Wohnturm auch in Schottland.
>>Und wenn ja, waren diese aus Stein oder Holz.
Das waren schon Steintürme.
>>Was also setzte sich der angelsächsische Adel auf sein Anwesen?
Man muss sich ein Dorf (Egal ob England oder anderswo) etwa so vorstellen: Innerhalb einer Palisade mit ein oder zwei Toren war das eigentliche Dorf untergebracht. Das bestand aus höchstens 10 Hütten. Um die Palisade war ein Wassergraben gezogen. An einer Ecke war dann nochmals ein kleiner Teil durch Graben und Extra-Palisade abgeteilt. Hier hatte der Adlige des Dorfes sein Anwesen. Während das Dorf aus Lehmhütten bestand, leistete sich der Adel schon ein Haus aus Holz. Man musste sich ja von den anderen Dorfbewohnern abheben. Später (ab etwa 850) kamen an die Stellen der ebenerdigen Häuser Motten und das Haus wurde auf den erhöhen Standort gebracht. Noch später wurden diese Häuser dann sogar zwei- oder dreigeschossig und teilweise aus Stein (ab Ende des 14. Jahrhunderts) gebaut. Ab etwa 900 wurden auch die Holzpalisaden durch Steine ersetzt.
Ähnliches gilt auch für die Burgen des Hochadels. Eben nur eine Nummer größer.
Zum Bau einer steinernen Burg gehörte neben der Genehmigung des Landesherren eine Menge Geld. So eine Burg konnte nicht einfach durch irgendwelche Dorftölpel in einem imaginären Frondienst gebaut werden. Fachleute waren auch damals schon teuer und der Bau einer steinernen Burg zog sich über Jahre, wenn nicht gar Jahrzehnt hin.
>> Und dann noch eine ganz spezielle Frage: Gab es um 1066 an den Adelswohnsitzen - wie auch immer diese aussahen, ob Burg oder Wohnturm - schon Abort- bzw. Abtritterker?
Abtrittserker gab es erst mit der Verbreitung des Donjon, also des Wehr- und Wohnturmesturmes. Diese wurden aber auch nur relativ kurze Zeit im Burgen und Wohntürmen verwand, in spätgotischen Burgen kommen sie schon nicht mehr vor. Aus den Wohntürmen entwickelten sich die Bergfriede und die Burgen wurden um die Wohngebäude des Adels erweitert.
Übrigens: im Heiligen Römischen Reich unterscheidet man Anfang des 15. Jahrhunderts noch zwischen „Burg“ und „Schloss“. Wir sehen heute unter einem Schloss einen schönen barocken Bau. Damals war es aber das, was wir heute unter einer Burg verstehen.
Ich hoffe, ich konnte Ihre Fragen beantworten. Falls Si noch Fragen haben, stehe ich Ihnen gern zur Verfügung.
Jürgen Hönicke
(hoenicket-online.de)