Endlichkeit in Liezi - Buch vom quellenden Urgrund

Hi,

du hast zwar unten bereits deine Frage als geklärt erklärt. Seh ich gar nicht so :smile:
Daher wenigstens kurz zu den Hintergründen:

Zunächst: Du liest ja, wie auch in deinem anderen Thread zur Bedeutung von 子 erwähnt, den Lie Zi in der Übertragung von Richard Wilhelm. Damit steckst du voll in der generellen Problematik der Übertragung antiker chinesischer Texte, wie sie im 19. Jhdt. und Anfang des 20. Jhdts versucht wurden. Es wurden dabei meist Terminologien bzw. Begriffe aus den europäischen Philosophien verwendet, und zwar diese nur so, wie sie von den Übersetzern verstanden wurden. Unter den klassischen Übersetzern, allemal Sinologen, war aber kein einziger, der mit der europäischen Philosophiegeschichte vertraut war. Die Frage, wieweit diese Begriffsgebräuche den chinesischen überhaupt angemessen bzw. analog waren, wurde meist gar nicht gestellt.

Und das trifft insbesondere auf Richard Wilhelm zu - so verdienstlich seine Übersetzungsbemühungen auch gewesen sein mögen. Wenn man mit dem antiken Chinesisch also nicht vertraut ist und die Übertragungen mit den Originalen vergleichen kann, empfiehlt sich immer, zumindest mehrere Übersetzungen, soweit vorhanden, gleichzeitig zu lesen. Dann erkennt man leicht, wie problematisch das Ganze ist. Und daß die Übersetzungen bzw. Begriffsverwendungen meist lediglich aus Plausibilitätsargumenten der Übersetzer resultieren.

So wäre z.B. zu dem von Wilhelm im Lie Zi I.1 und I.2 (und auch weiterhin) verwendeten Begriff „Schöpfung“ zu bemerken, daß es diesen Begriff (auch nichts Analoges) in der gesamten antiken daoistischen Literatur gar nicht gibt. Denn das ist ein theistischer Begriff, der auf eine Tätigkeit eines Schöpfers rekurriert. Das aber widerspricht ganz fundamental dem daoistischen Denken.

Dagegen spielt aber eine Hauptrolle (zumindest in der Kosmologie) das Hervorgehen - z.B. 生 shēng = Geburt, Gebären usw. (als Substantiv), hervorgehen, entstehen usw. (als Verb), und entsprechend das Untergehen, Vernichtet werden (verschiedene Ausdrücke dafür).

So z.B. im Dao De Jing des Lao Zi in dem fundamentalen Kap. 42 :

道生一
一生二
二生三
三生萬物
usw.

wo die „Mannigfaltigkeit der individuellen Dinge im Kosmos“ (萬物) aus dem 道 hervorgeht. Und welche dem 道 immanente Logik dazu führt.

Der Lie Zi ist ja zusammen mit dem Lao Zi und dem Dschuang Zi (den Guan Yin Zi zähle ich mit dazu, aber von dem weiß man nicht, wann er geschrieben wurde: irgendwann zwischen 4. Jhdt. v. Chr. und 10. Jhdt. n. Chr.) die grundlegende Literatur des Daoismus. Und im 1. Kap. wird keineswegs gesagt, daß irgendetwas „endlich“ ist, sondern daß alles indivuelle Sinnliche (also alles, was ein bestimmtes „Dieses“ ist) kein Seiendes, sondern ein Werdendes ist, also zugleich mit dem Entstehen im Vergehen begriffen ist. Und daß das Woher und das Wohin, nämlich das 道 dao, bezüglich Sein und Nichtsein gar nicht unterscheidbar ist. Diesen Unterschied gibt es nur bezüglich der Einzeldinge. Und bei denen nicht in einem Nacheinander, sondern in einem Zugleich.

Entstehen und Vergehen ist dabei - und das ist für Lie Zi sehr entscheidend - ein Kreislauf zwischen fundamentalen Elementen. Hier nur kurz angedeutet: a geht unter in b, b geht unter in c … usw. und letztlich wieder in a. Und - das ist wichtig! - ebenso umgkehrt: b geht hervor aus a, c geht hervor aus b … usw. Im Guan Yin Zi (aus dem nach Meinung einiger Interpreten im Lie Zi bereits zitiert wird, wodurch ein sehr hohes Alter des Textes gegeben wäre) wird dieser Kreislauf ganz dezidiert beschrieben. Entstehen und Vergehen ist einunddasselbe! Und deshalb sind die individuellen Dinge eben gerade nichtendlich“.

Und genau dasselbe wird im Kap. V des Lie Zi in Form eines raffinierten Dialoges nocheinmal auf andere Weise abgehandelt. Nämlich indem hier nicht die Natur der Dinge zur Debatte stehen, sondern vielmehr die Begriffe, mit denen wir über sie sprechen. Hier zeigt sich, daß dort weniger Antinomien (im Sinne Kants) diskutiert werden, als vielmehr die Dialektik sowohl der Begriffe als auch der Dinge. Und diese Dialektik ist der Kern der Aussagen sowohl des Lao Zi (bzw, Dao De Jing) als auch des Dschuang Zi.

Gruß
Metapher