frühchristliche Totenreich-Vorstellungen
Hi Peter,
wie bei vielen Fragwürdigkeiten und widersprüchlich erscheinenden Passagen des NT kommt man nicht weiter ohne Kenntnisse der Mythologie der Zeit der Abfassung der jeweiligen Texte. Denn diese Mythologie erhellt sich nicht allein aus den ntl. Texten selbst. Sie ist auch nicht eine allein jüdische, sondern sie ist in diesen ersten Jahrhunderten der Anfänge des Christentum sehr durchsetzt mit ägyptischen, zarathustrischen und mesopotamischen Elementen.
So löst sich auch der Widerspruch, den du in den beiden Aussagen entdeckt hast:
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„abgestiegen in das Reich der Toten“ aus dem apostolischen Glaubenbekenntnis. Der ursprüngliche griechische Ausdruck lautet to katotaton: wörtlich „das unterste Unten“ oder „die tiefste Tiefe“, lateinisch entsprechend infernum.
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„Amen ich sage dir: heute wirst du bei/mit mir im Paradies sein“ aus Lk. 23.44
Hier darf man nicht die sehr viel spätere Identifizierung der christlichen Volksmythologie rückwärts interpretieren, in der mit „Paradies“ - pari-daeza/paradeisos, also der persisch/griechische Ausdruck für den hebräischen gan eden (Garten Eden) - der Aufenthaltsort der Auferstandenen identifiziert wird. Also je nach tradition mit dem „Himmelreich“ bzw. dem Ort wor sich das „ewige Leben“ abspielt.
In der jüdischen Mythologie des Totenreiches bzw. der Frage, wo halten sich die Toten auf (egal, ob es eine Auferstehung gab, wie z.B. die Pharisäer glaubten, oder nicht, wie z.B. die Sadduzäer glaubten), gilt in dieser Zeit: Die Toten befinden sich im שאול Scheol, der griechisch mit ᾍδης Haides (genauer: Haus des Hades) wiedergegeben wird. Und dieser Scheol/Hades befindet sich tief in der Erde. Daher auch Mt 12.40: εν καρδια της γης en kardía tes ges „im Herzen der Erde“.
Und dieser Scheol/Hades ist aufgeteilt in zwei Regionen:
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der παράδεισος, paradeisos, das Paradies: Hier halten sich die Toten auf, die im Leben nicht oder nicht allzusehr gefrevelt haben. Ein Ort relativer Glückseligkeit.
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die φυλακη, phylake, das Gefängnis: Hier halten sich die Toten auf, die sich im Leben heftig was auf die Kappe geholt haben. Ein Ort der Qualen. Wobei dazu zu sagen ist, daß die „Qualen“ erst sehr viel später, genauer in der (äthiopischen Version der) Petrus-Apokalypse (Mitte 2. Jhdt.) zu jenem unglaublich sadistischen Szenarium ausgemalt wurden, wie sie heute noch in der christlichen Volksmythologie (nicht in der kirchlichen offiziellen Lehre!) kursieren.
Die „Phylake“ und der „Pardeisos“ sind dabei - nach einigen Traditionen - durch eine unüberwindliche Kluft getrennt, wie man zB. in Lk 16.23 nachlesen kann. Die Toten erreichen entweder das eine oder das andere Gebiet. Das sieht durchaus wie eine Art Vorverurteiloung aus, denn das Endgericht steht den Toten ja noch bevor. Nach anderen Traditionen, da das „Gefängnis“ das „Paradies“ ringförmig umgibt, müssen auch die „guten“ Gestorbenen durch dieses hindurch, aber ihr Aufenthalt ist dort nur sehr kurz. Daher wird die Aussage „heute (noch) wirst du mit mir im Paradies sein“ mythologisch sinnvoll, sie ist nämlich ein (eschatologischer) Trost für den Mitgefolterten.
Wenn also Lukas in seinem Evangelientext Jesus diesen Satz sagen läßt, dann bezieht er sich auf diese Totenreichskonzeption, in der der glückselige Teil des Totenreiches zeitgenössich „Paradies“ genannt wurde. In den etwas später erst niedergeschriebenen talmudischen Textsammlungen sind diese schon früher vorhandenen Vorstellungen festgehalten. Z.B. im Bereshit Rabba usw.
Man sieht: Die Evangelientexte halten sich durchaus in der allgeneinen Mythologie bzw Eschatologie der damaligen jüdischen Umgebung auf. Sie sind durchweg nicht erst durch die Evangelienautoren „erfunden“. Wie sich diese Vorstellungen aus Beeinflussungen der obengenannten anderen religösen Vorstellungen entwickelten, steht auf einem anderen Blatt und das war ja auch mit deiner Frage nicht angesprochen.
Ich hoffe, du siehst deine Zweifelfrage dadurch etwas gelichtet 
Gruß
Metapher