Der Kaiser ist tot - es lebe die Demokratie
Hi Nescio.
Auch wenn ich dir zustimm(t)e, dass Demokratie derzeit die Staatsform mit dem geringsten Risiko von Machtmissbrauch - richtiger vielleicht: mit dem geringsten Machtmissbrauch - ist, und wenn ich dies (unter Vorbehalt) mit dem Prädikat „vernünftig“ auszeichnete, bleibt doch das Faktum, das ich oben in mehreren Varianten beschrieben habe:
Es bedarf weder einer hohen Intelligenz noch einer qualifizierten Ausbildung, um zweifelsfrei konstatieren zu können, dass die Stimme, die ich beim Wahlakt abgebe, das „Gewicht“ Null hat.
Keiner ist einfach so allein auf der Welt – wir Menschen bilden ein komplexes soziales System, ohne das wir als Individuen gar nicht beständen. Was du machst, ist, dich auf den Standpunkt des absoluten Individualismus zu stellen. Aus der Perspektive dieses Standpunktes aber sieht man nicht die Systembedingtheit der (eigenen) menschlichen Existenz, also den Umstand, dass wir als Individuen in erster Linie ein Produkt des sozialen Systems sind. Das absolute Individuum kann es nicht geben – erstens nicht, weil der Mensch von Grund auf systembedingt ist (Sprache, Normen, Moral), und zweitens, weil niemand wirklich individuell ist. Auch der überzeugteste Individualist zehrt von dem breiten kulturellen Angebot, das ihm das System macht. Alle Begriffe und Denkwege, deren er sich bedient, um das System zu kritisieren, hat er dem System entlehnt.
Was letztlich heißt, dass es keinen vernünftig begründbaren Rückzug (im Sinne einer inneren Emigration) aus dem System geben kann.
Welchen in einem ganz alltäglichen Sinn vernünftigen/rationalen Grund gibt es also für mich, d.h. Für jeden, an der Stimmabgabe teilzunehmen?
Ganz einfach den, dass es o h n e das nun einmal nicht geht. Ginge keiner wählen, dann funktionierte das demokratische System nicht, und andere Verfahren der Auswahl der Regierenden würden sich etablieren. Diese Verfahren liefen zwangsläufig auf die Unterdrückung der nichtregierenden Mehrheit hinaus.
Das zu vermeiden, ist wahrlich ein vernünftiger Grund, um wählen zu gehen.
Was aber für jeden gilt. Jeder ist aufgerufen, an der im System eingebauten Vernunft teilzunehmen, denn ohne diese Teilnahme würde diese Vernunft ja ins Leere laufen.
Da du aber zugibst, 1) dass Demokratie die unriskanteste Staatsform ist, müsstest du, meiner oben abgespulten Logik zufolge, 2) zu dem Schluss kommen, dass Wählen vernünftig ist. Denn ohne dieses Wählen wäre die Demokratie, die du prinzipiell favorisierst, erledigt. Was im Widerspruch zu 1) stände.
Gruß
Horst