Widerspruch, ein bisschen offtopic vielleicht …
Hallo HC,
entschuldige bitte, dass ich schon wieder antworte (und das auch noch ein bisschen offtopic, weil ich deine wohl wichtigste Frage gar nicht beantworten kann. Es ist mir aber ein Anliegen, das Mittelalter zu verteidigen.
> Ist dies die dunkle Seite in uns, die hier so faszinierend zu Werke geht?
Ich denke, es ist vor allem unsere Unwissenheit über dieses Zeitalter, die uns fasziniert. Die Antike scheint uns manchmal näher zu sein.
> Wenn man von Augustinus und den aus den Religionen stammenden Scholastikern wie Aquin mal absieht,
> herrschte dann, bis zum ausgehenden Mittelalter so über den Daumen gepeilt, und Beginn der Neuzeit, mit
> Bacon (Empirismus), Descartes (Rationalismus) philosophische Funkstille.
Diesem Satz nun möchte ich gerne widersprechen, weil er über die wirklichen Gegebenheiten hinwegsieht. Weder kann man – meine ich – sagen, dass Augustinus so ohne weiteres in das Mittelalter gehört (er ist eher ein ziemlich antiker Charakter), noch halte ich die Ansetzung des Beginns der Neuzeit mit (Francis) Bacon für statthaft (Empirismus hat es auch früher gegeben). Und Descartes ist dem der scheinbar „mittelalterlichen“ Dunkelheit manchmal näher als der von dir angesprochene Thomas von Aquin.
Ich habe mir erlaubt, eine kleine Liste (Auswahl!) zusammenzustellen derjenigen Denker des Zeitraums zwischen 0 und 1500, die ich für ausgesprochen philosophische Köpfe halte, wobei natürlich nicht ausgeschlossen ist, dass sich dieselben auch theologisch betätigt haben.
Vor Augustinus wären da etwa zu nennen: Plutarch (Religion als Mythos), Plotin („Einheit“ statt Gott), Sextus Empiricus (Skepsis), Galenos (Wissen als Therapie), Tertullian (philosophische Rechtsprechung), Alexander von Aphrodisias (Aristoteleskommentare), Porphyrius (Kommentare zu Platon und Aristoteles) und Proklos (Freiheit als Hinwendung, Platonkommentare).
Zwischen Augustinus und dem Jahre 1000 etwa Pseudo-Dionysius (negative Theologie), Boethius (Trost durch die Philosophie, nicht durch die Theologie), Simplikios (Aristoteleskommentare), Cassiodorus (philosophische Pädagogik), Fredegisus Turonensis (Rationalität als Sprachkritik), Johannes Scotus Eriugena (Naturphilosophie, Wirklichkeitsbegriff) und das anonyme „Liber de causis“ (Metaphysik des Guten, orig. 9. Jh.? in Arabien, wobei ja ohnehin auf die arabische Philosophie als Nicht-Theologie hingewiesen werden muss).
Zwischen 1000 und 1274, dem Todesjahr von Thomas von Aquin: Salomo ben Jehuda ibn Gabirol (geistiger Materialismus), Anselm von Canterbury (Gottesbeweise, Psychologie), Abaelard (Dialektik, Subjektethik), Josef ibn Zaddiq (Erkenntnistheorie vor Theologie), das anonyme „Liber sex principiorum“ (Handlungstheorie), Johannes von Salisbury (Logik als Grundlage), Dominicus Gundissalinus (freie Künste), die anonyme "Logik von Oxford (Logiklehrbuch), Roger Bacon (Kritik an Autoritäten, Naturwissenschaft), Albertus Magnus (umfassend) und William von Shyreswood (Weiterbildung der Logik).
Die Liste nach Thomas von Aquin ist noch länger: Petrus Hispanus , Kilwardby , Siger von Brabant , Wilhelm de la Mare , Ägidius von Rom , Heinrich von Gent , Thomas von Erfurt , Pietro d’Abano , Raimundus Lullus , Dietrich von Freiberg , Meister Eckhart , Siger von Courtrai , Marsilius von Padua , Levi ben Gerson , Burleigh , Ockham , Buridan , Nicolaus von Autrecourt , Nikolaus von Oresme , Manetti , Cusanus , Rudolf Agricola , Pico della Mirandola , Peter von Ailly und natürlich Ficino.
Es ist also mitnichten so, dass das Mittelalter „dunkel“ war, sondern es war höchst erhellend. Ohne das Mittelalter ist die Neuzeit völlig undenkbar.
> Was geschieht in solch sprichwörtlich düsteren Zeiten, die auch jeder Einzelne, mal abstrahierend jetzt, kennt?
> Gibt es da Untersuchungen, Erklärungen? Läßt sich da eine Ordnungsstruktur ableiten? Eine Verpuppung
> gewissermassen, die dann in einer Metamorphose ende1t?
Dies ist nun die Frage, die ich aufgrund meiner Einschätzung eigentlich gar nicht beantworten kann, weil ich meine, dass sie Falsches voraussetzt.
Herzliche Grüße
Thomas Miller