Grundsatzurteile - Bindende Rechtsprechung?

In den Medien ist immer die Rede von Grundsatzurteilen, die der BGH verkündet hat. Soviel ich weiß, können aber trotzdem die Gerichte unabhängig von diesen Entscheidungen urteilen, auch wenn es etwas gegenteiliges ist. Die meisten Gerichte halten sich an die BGH-Rechtsprechung (oder sollen sich dran halten), weil die Urteil ansonsten sowieso wieder vom BGH aufgehoben bzw. abgeändert werden. Stimmt das so oder müssen sich die (untergeordneten) Gerichte an die BGH-Rechtsprechung halten?

Wie sieht es mit Entscheidungen in 2. Instanz (LG oder OLG/KG) aus? Sind dort auch sog. Grundsatzurteile zu finden oder bezieht sich das nur auf Urteile der Bundesgerichte, die dann bundeseinheitlich gelten?

Wenn ein BGH-Senat in einer Sache entscheidet, kann dann in einer anderen Sache, obwohl der Sachverhalt derselbe ist, der BGH-Senat oder ein anderer BGH-Senat darüber anders entschieden?

Würde mich mal interessieren.

Mathias

Hallo!

In den Medien ist immer die Rede von Grundsatzurteilen, die
der BGH verkündet hat. Soviel ich weiß, können aber trotzdem
die Gerichte unabhängig von diesen Entscheidungen urteilen,
auch wenn es etwas gegenteiliges ist. Die meisten Gerichte
halten sich an die BGH-Rechtsprechung (oder sollen sich dran
halten), weil die Urteil ansonsten sowieso wieder vom BGH
aufgehoben bzw. abgeändert werden. Stimmt das so oder müssen
sich die (untergeordneten) Gerichte an die BGH-Rechtsprechung
halten?

Sie müssen sich nicht an die Rechtsprechung halten, denn sonst hätte ein Gerichtsurteil die Kraft eines Gesetzes.

Wie sieht es mit Entscheidungen in 2. Instanz (LG oder OLG/KG)
aus? Sind dort auch sog. Grundsatzurteile zu finden

Ja, für den entsprechenden Gerichtsbezirk.

oder
bezieht sich das nur auf Urteile der Bundesgerichte, die dann
bundeseinheitlich gelten?

Wenn ein BGH-Senat in einer Sache entscheidet, kann dann in
einer anderen Sache, obwohl der Sachverhalt derselbe ist, der
BGH-Senat oder ein anderer BGH-Senat darüber anders
entschieden?

Ja

Gruß
Tom

Hallo Mathias,

die Sache ist ein wenig komplizierter und hängt mit den Streitwerten und Rechtswegen zusammen. Bindend sind obergerichtliche Urteile qua Definition zunächst einmal nicht. Allerdings macht es natürlich keinen Sinn in einer unteren Instanz gegen das Obergericht aufzumucken, wenn aufgrund des Streitwerts und des Instanzenzugs klar ist, dass das Urteil weiter oben ohnehin kassiert wird.D.h. unterhalb der Berufungsgrenze kann sich jeder Richter „austoben“, weil die Sache durch sein Urteil abschließend geklärt ist, oberhalb der Berufungsgrenze schaut man mal besser nach dem Obergericht.

Wenn also in einer Zivilsache vor dem AG die Berufung zum LG möglich ist, sollte der Richter schon mal Richtung LG schielen. Könnte es vom LG zum OLG und ggf. zum BGH gehen, sollte man auch gute Gründe haben, von einer gefestigten BGH-Rechtsprechung abzuweichen. Es kommt also immer darauf an, wohin eine Sache maximal kommt, und die dortige Rechtsprechung hat dann schon einen ziemlich verbindlichen Charakter. Richtig nett wird es dann, wenn man sich ansieht, dass verschiedene BGH-Senate zu bestimmten Fragen auch noch unterschiedliche Auffassungen vertreten, bzw. bestimmte Dinge, die auch an anderen höchsten Gerichten eine Rolle spielen auch dort wieder unterschiedlich gesehen werden. D.h. der BFH oder das BSG können auch durchaus mal zu einer zuvilrechtlichen Randproblematik ihre eigene, vom BGH unabhängige Meinung entwickelt haben. Es gibt aber glücklicherweise Einrichtungen, die auch hier helfen (würde jetzt aber zu weit gehen, Stichwort wäre z.B. gemeisamer Senat).

Es kommt aber durchaus auch vor, dass insbesondere der BGH gerne mal am Rand eines Urteils andeutet, dass er zu einer bestimmten Randproblematik gerne mal wieder einen Fall vorgelegt bekommen würde, weil er gerne von seiner bisherigen Rechtsprechung abweichen würde. Dies passiert in Fallbereichen, die aufgrund des Streitwerts nur sehr selten bis zum BGH vordringen. Aus solchen Bemerkungen können dann die Richter der Unterinstanzen entnehmen, dass der BGH nicht mehr an einer bisherigen Rechtsprechung festhalten möchte, und sich dann auch hieran orientieren.

Ganz übles Thema ist momentan der Umgang mit BFH-Urteilen. Diese sind nach Veröffentlichung für die Steuerverwaltung an sich tatsächlich bindend, sobald sie auch amtsintern also offiziell den Steuerverwaltungsbeamten gegenüber veröffentlicht worden sind. Unser BMF neigt jedoch dazu bei bürgerfreundlichen Urteilen diese Veröffentlichung „zu vergessen“ oder auf die lange Bank zu schieben, bzw. schreckt auch nicht vor so genannten Nichtanwendungserlassen zurück, mit denen dem Beamten vor Ort verboten wird, ein Urteil auch auf andere Fälle anzuwenden. Und solche Nichtanwendungserlasse gibt es inzwischen auf allen Ebenen der Finanzverwaltung. Diese Verfahrensweise ist eindeutig illegal und einer der großen Politikskandale unserer Zeit! Leider ist die Sache offenbar für Bild-Leser und RTL-Zuschauer zu kompliziert und wird deshalb nicht ausreichend in die Öffentlichkeit getragen, sonst wären hier schon längst Köpfe gerollt.

Gruß vom Wiz

[Bei dieser Antwort wurde das Vollzitat nachträglich automatisiert entfernt]

Hallo Wiz,

danke für deine recht ausführliche Antwort. Ich glaub, jetzt kann ich mir etwas mehr drunter vorstellen, danke!

Aber eine Sache ist mir noch etwas unklar: Wieso gibt es eigentlich Grundsatzurteile? Ich nehme mal an, dass dort über Sachen geurteilt wird, die eine grundsätzliche Bedeutung haben, oder?
Denn es wird ja nicht jedes Urteil als Grundsatzurteil bezeichnet.

Mathias

Aber eine Sache ist mir noch etwas unklar: Wieso gibt es
eigentlich Grundsatzurteile? Ich nehme mal an, dass dort über
Sachen geurteilt wird, die eine grundsätzliche Bedeutung
haben, oder?
Denn es wird ja nicht jedes Urteil als Grundsatzurteil
bezeichnet.

Hallo nochmal,

der Begriff Grundsatzurteil wird nicht vom Gericht selbst gleich für ein bestimmtes Urteil vergeben, sondern ergibt sich automatisch immer dann, wenn eine neue Fragestellung erstmals von einem obersten Gericht entschieden worden ist, oder aber sich ein Gericht erstmals von einer vorher feststehenden Rechtsprechung gelöst hat und damit deutlich macht, dass es auch in Zukunft so entscheiden wird. Ein solches Urteil wird dann natürlich in den Medien und Fachpublikationen entsprechend diskutiert und kommentiert, von der Lehrmeinung zerpflückt, … und schon spricht man vom Grundsatzurteil des BGH zur „Haftung des nasebohrenden Autofahrers bei Wildunfällen“, …

Da aber trotz dieses wegweisenden Grundatzurteils dann alleine aufgrund des Streitwerts und zahlender Rechtsschutzversicherung ähnliche Fälle zigfach beim BGH landen und dann immer wieder unter Berufung auf das Grundsatzurteil nach Schema-f abgehandelt werden, ist klar, dass Grundsatzurteile eben eher selten sind, jedenfalls bis sich der BGH in der Sache mal wieder anders besinnen sollte, oder bei bestimmten zusätzlichen Aspekten bereit ist, die Sache anders zu sehen.

Gruß vom Wiz

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Nochmals vielen Dank für deine Antwort. Jetzt versteh ich’s. :smile:

Mathias