eher Walser
Hallo André,
es freut mich, dass du inhaltlich rangehst, das will ich gerne unterstützen.
Wir haben somit vier Themen (das Anfangsthema - mit dem Disput Greiner-Brumlik interessiert dich nicht, aber deine Themen sind wichtig genug, um umzusteigen).
Das erste ist die Deutung der Rede Spiegels.
Du musst seine Meinung nicht teilen, korrekt wiedergeben
schon. Denn dann sieht dieser Thread vollkommen anders aus,
als du es dir gedacht hast.
Das sehe ich nicht so. Im Gegenteil: Spiegels Rede ist in sich
nicht stimmig. Erst beklagt er den Umstand, dass die
Nicht-Juden immer von Juden die Absolution haben wollen, dass
irgendein Sachverhalt nicht antisemitisch sei. Dies sei nicht
Aufgabe der Juden („Was geht uns Juden der Antisemitismus an?
… Der Antisemitismus betrifft uns, aber unser Problem ist
er nicht.“). Dann folgt aber dein Zitat. Ich gebe zu, ich
versteh’s nicht. Vielleicht kannst du mir das erklären, ich
empfinde das als Widerspruch.
Der Passus, der Antisemitismus sei das Problem der Antisemiten, nicht der Juden selbst - ist eine rhetorische Floskel, er trägt etwas Sophistisches in sich. Einerseits entsteht der Antisemitismus in Köpfen der Antisemiten, Juden haben damit nichts zu tun. Andererseits bekommen sie die Folgen des Antisemitismus zu spüren, insofern müssen sie wohl oder übel sich damit beschäftigen. Wenn man diese Ambivalenz erkannt hat, bekommt diese Formel Züge eines Apells. Es wird von Spiegel hier nämlich erwartet, die Gesellschaft, die Mehrheit der Gesellschaft schütze ihre Minderheit (in diesem Fall Juden) von den feindseligen Gesinnungen (in diesem Fall Antisemitismus). Weiterhin, um dies zu tun, solle die Gesellschaft die antisemitischen Sprachmuster erkennen können, um sie als solche zu benennen und die Toleranz zu praktizieren. Hier kommt die Auflösung. Statt von der Minderheit zu lernen, was sie für sich beleidigend, ausgrenzend, benachteiligend empfindet, wird oft versucht, ihr dies vorzuschreiben. Genau dagegen wehrt sich Spiegel in dem zitierten Abschnitt. In der Summe kommt es auf dasselbe heraus - nämlich, derjenige hat vom Antisemitismus keine Ahnung, der einerseits die Juden braucht, um den Antisemitismus in einem Text zu bejahen oder zu verneinen und der andererseits denselben Juden vorschreiben will, was sie darunter verstehen mögen. Ist es klarer geworden?
Das zweite Thema - die Einstellung zum Artikel von Brumlik.
Hast du den von mir verlinkten Text Brumliks gelesen? Hast du
verstanden, warum ich ihn hier und an der speziellen Stelle
eingeführt habe? Hast du inhaltlich an ihm etwas auszusetzen?
Oder ist dir genauso wie Nader nur die Herkunft des Autors
wichtig?
Ja ich hab ihn gelesen. Und obwohl ich Lorenz‘ Diss nicht
gelesen habe, kann ich Brumlik nicht zustimmen.
Sorry, dann hast du meine Intention doch nicht verstanden. Mir ging es hier ausschliesslich um die Widerlegung des Artikels von Greiner - und das schafft Brumlik - aus meiner Sicht - vollkommen.
Und nun das dritte Thema - die Einstellung zu Walser.
Allein die
folgende Passage:
Lorenz „…enthüllt die Persönlichkeit eines Autors, der
seit Beginn seiner Karriere verbissen an der Aufwertung der
deutschen Opfer und, damit verbunden, an der Abwertung und
Vernachlässigung jüdischer Leidenserfahrung arbeitet, eine
Tendenz, die endlich mit einer gewissen Notwendigkeit in den
von antisemitischen Klischees durchzogenen Roman Tod eines
Kritikers (2002) mündete.“
Ich kann in Kenntnis der frühen Schriften von Walser
(insbesondere seiner Essays) nun wirklich nicht erkennen, wo
das der Fall sein soll? In „Unser Auschwitz“?, in „Eiche und
Angora“, in „Auschwitz und kein Ende“? Gut, was die
„Vernachlässigung jüdischer Leidenserfahrung“ angeht, die hat
Walser in „Ein springender Brunnen“ durchaus praktiziert. Aber
er hat es programmatisch begründet und da wir keine
Regelpoetik mehr haben, ist das aus meiner Sicht durchaus
legitim.
Schließlich lese ich TeK als Roman über Gerüchte, Klatsch und
Missgunst im Literaturbetrieb, der aber mitnichten von
antisemitischen Klischees durchzogen ist. Wie siehst du das
(ohne auf Brumlik zu verweisen)?
Brumlik geht von den Bewiesenheit der antisemitischen Untertöne bei Walser aus, er setzt sich damit gar nicht auseinander. Ich gehe genauso davon aus. Sogar H. Karasek hat das erkannt (http://www.welt.de/data/2005/07/30/752325.html), wie sein Beispiel mit dem Fragment aus der Rede Walsers von 1995 zeigt.
Auch der Kritiker R.Bucheli in NZZ ist mehr als nur vorsichtig mit dem Lob für die Dissertation von Lorenz: http://www.nzz.ch/2005/09/13/fe/articleD4VOE.html und hält es trotzdem für bewiesen (er will es allerdings verzeihen). Warten wir ab, bis die Dissertation zugänglich ist. Dann können wir gerne noch einmal pro et contra abwägen. Umsomehr dass es dir hoffentlich nur um die Zeit vor 1998 geht, was das vierte Thema bildet.
Zu guter Letzt noch einmal: Wie kann es sein, dass Walser
Jahrzehnte lang von einem großen Publikum, von Literaturkritik
wie Literaturwissenschaft gelesen wurde, aber bis 1998 niemand
auch nur ein Fünkchen Antisemitismus in seinem Werk entdeckt
hat? Plötzlich geschieht aber genau das. Ist das nicht ein
komischer Zufall? Ich fürchte, dass da so etwas wie selektive
Wahrnehmung, Verzerrung oder Political Correctness mit im
Spiel ist. Wenn nicht, müssen wir noch mal 30 Jahre warten,
dann Walser erneut lesen und kucken, was wir dann alles in
seinem Werk entdecken…
Darf ich dich so verstehen, dass du wenigstens in der Rede von 1998 „ein Fünkchen Antisemitismus“ erkennst? Wenn ja, dann kannst du den Ausdruck von dem „geistigen Brandstifter“ nachvollziehen, das Weitere wäre die Frage des langsamen Lesens, wie Lorenz in seiner Dissertation hoffentlich macht - angeblich eher mehr als weniger, eher einseitig als kontextbezogen, ob überzeugend oder nicht, werden wir noch sehen. Allerdings willst du den Roman „Tod eines Kritikers“ von allen Vorwürfen befreien und so sehe ich skeptisch die Möglichkeit der weiteren Auseinandersetzung zum Thema.
Gruß