Maturana/Varela vs. EE
Hi Balazs.
Mit Gödel bin ich gerade nicht auf dem Laufenden, hole das aber nach.
Ein paar Takte zur Evolutionären Erkenntnistheorie:
Zur Zeit neige ich dazu, dass die evolutionäre
Erkenntnistheorie Kants Traum von der kopernikanischen Wende
näher kommt in vielerlei Hinsicht. Der dritte Weg ist hier
unter Elektronenmikroskop ausgearbeitet worden, ziemlich
genau:smile:
Dass die EE wichtige Beiträge zur Erkenntnistheorie leistet, daran zweifle ich nicht. Dennoch bleibt das Problem der Definition von Realität. Wenn Vertreter der EE unter Realität (wie Vollmer) nur das verstehen, was naturwissenschaftlich fassbar ist (entsprechend deiner metaphorischen Formel „unterm Elektronenmikroskop“), dann könnte das den Geltungsbereich der Evol. Erkenntnistheorie auf problematische Weise einschränken.
Dieses Einschränkungs-Problem haben z.B. Maturana und Varela erkannt, die nicht, wie Vollmer, eine „realistische“ Auffassung der Wirklichkeit haben, sondern eine am Buddhismus orientierte „idealistische“ Auffassung.
Sie werfen der realistischen Richtung der EE vor, dass diese in einem logischen Zirkel steckt. Die EE behauptet, dass Zeit und Raum reale Eigenschaften der Welt seien. Maturana/Varela halten dem entgegen, dass dabei das zu Beweisende als Prämisse stillschweigend vorausgesetzt wird.
M/V und andere idealistisch orientierte Wissenschaftler lehnen den Realismusbegriff der EE auch deswegen ab, weil sie die Wirklichkeitsauffassung des Buddhismus bevorzugen. In dieser Auffassung gilt nicht die materielle Erscheinungswelt, sondern die „Shunyata“ (die Leerheit) als einzige „Realität“ (in englischen Texten manchmal „ultimate reality“ genannt).
Diese Shunyata (Leerheit) ist die ultima ratio der buddhistischen Philosophie. Maturana/Varela lassen sich davon inspirieren und stellen daher den realistischen Wahrheitsbegriff in Frage.
Ich zitiere aus einem Fachtext über die „Leerheit“:
http://www.khbrodbeck.homepage.t-online.de/erkenntni…
(S. 215)
"Im Buddhismus
wird der Gedanke, daß etwas ein Etwas ist, in einem Terminus erfaßt, der dem abendländischen
Substanzbegriff entspricht: svabhava, Selbstnatur (8.4-8.6). Die Dinge sind
keine svabhava…
In diesem Sinn ist die Leerheit nicht Nichts, aber doch unaussprechlich. Die
traditionellen Lehrschriften zählen hier viele, meist sind es sechszehn, charakteristische
Entitäten auf, an denen die Leerheit leer ist. Die wichtigste ist hierbei dies, die Leerheit
nicht selbst als ein Etwas, eine Entität zu vermeinen: Die Leerheit ist leer an einer
Leerheit. „Leerheit ist die Abwesenheit von Konstruktionen“, sagt Nagarjuna und
fügt die Warnung hinzu: „Die falsch aufgefaßte Leerheit richtet den, der von schwacher
Einsicht ist, zugrunde – wie eine schlecht ergriffene Schlange oder falsch angewandte
Magie.“
Zitat Ende.
Wenn man Kant damit in Beziehung setzt, könnte Daumen x Pi man sagen: die Shunyata entspricht dem Ding-an-sich, während die Shvabhava (das illusionäre Selbstsein der Dinge) den Phänomenen (Erscheinungen) entspricht.
Die EE argumentiert, dass die Tatsache, dass die Menschheit sich erfolgreich entwickelt hat, beweist, dass die Realitätsstrukturen den Erkenntnisstrukturen zumindest teilweise entsprechen, es gäbe also eine reale Außenwelt.
So sagt Vollmer:
„Unser Erkenntnisapparat ist ein Ergebnis der Evolution. Die subjektiven Erkenntnisstrukturen passen auf die Welt, weil sie sich im Laufe der Evolution in Anpassung an diese reale Welt herausgebildet haben. Und sie stimmen mit den realen Strukturen (teilweise) überein, weil nur eine solche Übereinstimmung das Überleben ermöglichte“ (Vollmer 1998, S. 102).
Das entspricht dem Wahrheitsbegriff des Pragmatismus = das, was funktioniert, ist wahr bzw. real.
Aus buddhistischer Sicht ist das aber nur „saṃvṛtisatya“ (die verhüllte Wahrheit), also die Interpretation von Phänomenen als scheinbar wirkliche Dinge mit Selbstsein (svabhava). Die andere, die höhere Sicht ist die ‚Wahrheit im höchsten Sinne’ (paramārthasatya). Letzteres entspricht der Shunyata (Leerheit).
Ich stelle das hier deswegen dar, weil du die EE thematisierst und Maturana/Varele (als prominente Kritiker der EE) in ihrer Kritik auch weitgehend buddhistisch argumentieren.
Hier ist noch ein Link zu einer Buchbesprechung betr. Maturana/Varela:
http://www.schattenblick.de/infopool/religion/buddha…
Chan