Reinkarnation

Hallo e.c.,
zunächst einmal zwei Vorbemerkungen. 1. ist das hier für dieses Thema nicht das geeignete Brett, es gehört ins Brett Religionswissenschaften. 2. handelt es sich um ein Thema, das speziell die tibetische Spielart des Buddhismus berührt - mit dem ich nicht allzu intensiv vertraut bin. Pendragon könnte da womöglich eine fundiertere Antwort geben.

Aus den beiden genannten Gründen erwarte also bitte keine allzu tiefschürfende Antwort hier.

Zunächst einmal wäre festzustellen, dass der Dalai Lama nicht, wie immer wieder vereinfachend behauptet wird, eine Reinkarnation ist. Er ist ein sog. Tulku, und das ist etwas Anderes. Um zu erläutern, was nun ein Tulku ist, muss man recht weit ausholen - eben aus diesem Grund benutzt man häufig ersatzweise das westlichen Menschen eher vertraute Konzept ‚Reinkarnation‘.

Vorweg: die Tulku-Doktrin gehört nicht zum Kernbestand buddhistischer Lehren; sie ist eine tibetische Spezialität, die auch erst verhältnismäßig jungen Datums ist. Eine Systematisierung dieser Doktrin setzte erst im dreizehnten Jahrhundert ein und seitdem gibt es - jedenfalls nach meinem Eindruck - eine gewisse ‚Tulku - Inflation‘, die sich auch nach der Besetzung Tibets durchaus noch fröhlich fortsetzte.

Grundlage dieser Doktrin sind Überlegungen, die bereits im frühen Buddhismus (speziell in der Sarvastivada-Schule) über die Natur eines Erwachten (Buddhas) angestellt wurden, also eines Wesens, das in den Zustand des sopadisesa-nirvana (‚vortodliches nirvana‘) eingetreten ist. Daraus entwickelte sich dann im Mahayana die sog. trikaya-Lehre, die Lehre von den drei Körpern. Kurz umrissen besagt diese Lehre, dass ein Erwachter letzlich mit dem Seinsgrund, dem Weltgesetz (Dharma) identisch ist. Dieser Aspekt wird als ‚dharmakaya‘ bezeichnet. Die historischen Gestalten des Siddharta Gautama und seiner Vor- und Nachfolger in verschiedenen Weltzeitaltern sind hingegen physische Erscheinungen (‚Inkarnationen‘) dieses dharmakaya, ihr sog. nirmanakaya. Gewissermaßen ‚zwischen‘ beiden Aspekten und sie vermittelnd steht der überzeitliche und überweltliche sambhogakaya - in westlicher Literatur ist hier häufig vergröbernd von ‚transzendenten Buddhas‘ die Rede. Die trikaya-Lehre ist also doketisch; es gab geistesgeschichlich vergleichbare Strömungen in der antiken Gnosis.

Speziell im Vajrayana, der Hauptströmung des tibetischen Buddhismus, wurde nun der sambhogakaya-Aspekt im Sinne einer Emanationslehre (auch hier gibt es geistesgeschichtliche Parallelen zur Gnosis) weiter systematisch ausgeformt. Es gibt in diesen Systemen verschiedene ‚transzendente‘ Buddhas (sambhogakaya-Aspekte), die Emanationen eines ‚Urbuddhas‘ (adibuddha, dharmakaya-Aspekt) sind und im Bereich des sambhogakaya-Aspektes wiederum weitere ‚transzendente‘ Bodhisattvas emanieren. Der bekannteste und am meisten verehrte dieser Bodhisattvas ist Avalokitesvara - und die Dalai Lamas beanspruchen, der physische Aspekt, also der nirmanakaya dieses Bodhisattva zu sein. Entsprechendes gilt für andere Tulkus; es handelt sich um Verkörperungen transzendenter / spiritueller Prinzipien, nicht um ‚wandernde Seelen‘. Also um Doketismus, nicht um Reinkarnation.

Abschließend eine persönliche Anmerkung, der jemand, der dem tibetischen Buddhismus nahesteht, vielleicht nicht ohne weiteres zustimmen würde. Es kann mE nicht verwundern, dass der Anspruch, die weltliche Verkörperung eines überweltlichen Wesens zu sein, geeignet ist, eine erhebliche Macht zu begründen - ähnlich wie der Anspruch, Stellvertreter Gottes auf Erden zu sein. Und das ist das Tulku-System letzten Endes vor allem gewesen - eine Doktrin, die zur Legitimation weltlicher Macht und zum Machterhalt weltlicher Eliten diente und aus gerade diesem Grund geschaffen wurde. Auch, wenn die jeweiligen Tulkus oder die, die sich ihrer als Marionetten bedienten, Mönchskutten trugen.

Freundliche Grüße,
Ralf

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