Ich für
meinen Teil sehe - so richtig ich das Urteil im Ergebnis halte
- in der Begründung allerdings ein Manko, insofern als die
Religionsfreiheit des Kindes ignoriert wird
Wozu ich noch einmal anmerken möchte, dass es nicht die Aufgabe eines Gerichtes ist, allgemeine Statements zu rechtlichen oder gar politischen Fragen abzugeben. Die Religionsfreiheit des Kindes hätte das nun auch so gefundene Ergebnis lediglich untermauern können, weshalb aus richterlicher Sicht nicht auf sie eingegangen werden musste.
Zulässig wäre es aber schon gewesen, darauf in dem Urteil einzugehen. Da frage ich mich, warum das Gericht sich die Möglichkeit hat entgehen lassen, sich viel ausführlicher zu äußern. Mit der knappen Begründung, die jetzt vorliegt, taugt das Urteil kaum als Beitrag zur rechtswissenschaftlichen Diskussion. Und noch einmal wird der Spruchkörper wahrscheinlich nicht in den Genuss von so viel öffentlicher Aufmerksamkeit kommen.
Ich wollte allerdings mit
meiner Fragestellung auf etwas anderes hinaus - nämlich, dass
hier nach meiner Auffassung nicht nur verschiedene, sondern
auch identische Grundrechte verschiedener Grundrechtsträger
miteinander kollidieren (was sicherlich nicht rechtlich
irrelevant ist).
Wenn es um das „Instiut“ Religionsfreiheit geht, ist das so nicht richtig. Die Feststellung, dass auf beiden Seiten das Recht der Religionsfreiheit steht, kann unter Umständen in der Abwägung der Rechte Bedeutung erlangen. Sie löst aber keinerlei Automatismus aus, der ein bestimmtes Ergebnis nahe legt, insbesondere nicht außerhalb der Abwägung der widerstreitenden Grundrechte.
Wenn es um die Religionsfreiheit als subjektives Recht des jeweiligen Grundeigentümers geht, ist die Annahme erst recht falsch. Denn zwischen dem Recht des einen und dem des anderen besteht keine Identität; die Person des Grundrechtsträgers gehört vielmehr zu den konstituierenden Merkmalen des subjektiven Rechts. Das eine Recht ist das des einen das andere das des anderen, mögen auch beide Ausfluss des „Instituts“ der Religionsfreiheit sein.
Insofern halte ich meine oben nochmals wiederholte Frage für
durchaus beantwortbar
Nein, weil sie nicht das eigentliche rechtliche Problem spiegelt.
das Recht auf freie Religionsausübung
eines Trägers dieses Grundrechtes findet seine Schranke in dem
Recht auf negative Religionsfreiheit anderer
Grundrechtsträger.
Das stimmt aber ja gerade nicht.
Die Frage wäre mithin zu verneinen -
vorausgesetzt, dass der positiven Religionsfreiheit des einen
Grundrechtsträgers nicht ein größeres Gewicht beigemessen wird
als der negativen der anderen.
Somit meine anschließende Frage: ist diese Voraussetzung
rechtstheoretisch gegeben?
Ich verstehe nicht ganz, welche Voraussetzung (und wofür) du hier meinst.
ist ein religionsunmündiges Kind (d.h.
unter dem Alter von 12 Jahren, ab dem es das Recht auf
negative Religionsfreiheit selbst wahrzunehmen berechtigt ist)
dessenungeachtet Träger des Grundrechtes auf
Religionsfreiheit?
Ja. Juristisch heißt das Grundrechtsfähigkeit. Hiervon zu unterscheiden ist dann die Grundrechtsmündigkeit als die Fähigkeit, ein Grundrecht in allen denkbaren Fallkonstellationen entsprechend ihrer Einsichts- und Entscheidungsfähigkeit ausüben zu können (BVerfGE 1999, 145). Einzelheiten hierzu sind streitig. Der gelegentliche Verweis auf die Religionsmündigkeit nach § 5 KErzG (14 Jahre) ist problematisch, weil ein Gesetz im Rang unter der Verfassung diese nicht verbindlich auslegen kann. Diese Vorschriften können daher nur als Indizien gelten.
Wenn ja, dann nehmen die Eltern dieses Recht lediglich
stellvertretend für ihre religionsunmündigen Kinder wahr.
Nein. Die Eltern können das Kind höchstens unterstützen, etwa indem sie eine Verfassungsbeschwerde erheben, weil das Kind selbst nicht grundrechtsmündig ist. Das bedeutet aber nicht, dass die Eltern die Religionsfreiheit des Kindes selbst wahrnehmen.
Wie sollte das auch aussehen? Religionsfreiheit ist das Recht, nach dem zu handeln, was als religiöse Pflicht für die jeweilige Person angenommen wird. Wenn z.B. ein Moslem meint, er müsse am Tag soundso oft beten, dann nimmt er damit sein Grundrecht auf Religionsfreiheit wahr. Es ist aber nicht einmal theoretisch möglich, dass ein anderer es für ihn wahrnimmt und ausübt. Man kann nicht stellvertretend für jemanden beten.
Konkret bedeutet das, dass beispielsweise die Beschneidung
oder auch die Taufe eines Kindes dann nicht Ausfluss der
Religionsfreiheit der Eltern ist, sondern der (positiven)
Religionsfreiheit der Kinder, die hier von den Eltern
stellvertretend für diese wahrgenommen wird - als Ausfluss des
Erziehungsrechtes der Eltern.
Beschneidung und Taufe können sehr wohl unter die Religionsfreiheit der Eltern fallen. Davon unabhängig kann es sich um das Grundrecht der Religionsfreiheit des Kindes selbst gehen. Verbietet der Staat plötzlich die Taufe, würde man juristisch ggf. sagen müssen, dass der Staat (als Adressat der Grundrechte, vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) die Religionsfreiheit des Kindes verletzt, und wenn das Kind dann nicht grundrechtsmündig ist, können die Eltern für ihr Kind juristisch gegen das Verbot vorgehen.
wenn die rechtliche Grundlage einer Beschneidung
oder Taufe nicht das Recht auf Religionsfreiheit der Eltern
ist, sondern deren Elternrecht nach Art. 6 Abs. 2 Satz 1 GG,
dann unterliegt die Ausübung dieses Rechts der Ausgestaltung
der elterlichen Sorge durch das BGB - hier insbesondere §
1627, wonach die elterliche Sorge zum Wohl des Kindes
auszuüben ist.
Man darf aber das Grundgesetz nicht durch Anwendung des BGB auslegen, denn das Grundgesetz steht darüber. Abgesehen davon hat das nun mit der Ausübung der Religionsfreiheit auch nichts zu tun. Für die Eltern geht es nämlich davon unabhängig um Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG, egal ob sie selbst zudem noch in ihrer Religionsfreiheit betroffen sind oder nicht.
Dann kommen wir auch zu dem Punkt, wo hier in
diesem Fall mE der Hund begraben liegt - nämlich bei der
Frage, ob eine nicht medizinisch indizierte Beschneidung dem
Wohl des Kindes dient.
Diese Formulierung kommt aber nicht aus dem Grundgesetz, sondern aus dem BGB. Für die verfassungsrechtliche Bewertung kommt es darauf also nicht an, auch wenn die Maßstäbe im Verfassungsrecht letztlich ganz ähnlich sein werden.
Deutlich zu machen, dass es
letztlich um diese Frage geht - und dass ein Gericht in
Deutschland aufgrund der weltanschaulichen Neutralität, zu der
es verpflichtet ist, hier keine genuin religiösen Argumente in
entscheidungserheblicher Weise in Betracht ziehen darf -
erscheint mir zur Versachlichung der Diskussion schon
sinnvoll.
Das ist aber nicht richtig.
Wie ich ja kürzlich schon einmal dargelegt habe, meint Religionsfreiheit nicht etwa, dass bestimmte Menschen sich an den Lehrmeinungen bestimmter Religionen orientieren dürfen. Es geht vielmehr um den ganz persönlichen Glauben des Grundrechtsträgers, welcher nicht in den unauflösbaren Konflikt zwischen göttlichem Gebot (wie er selbst es annimmt!) und staatlichem Gesetz geraten soll. Ein Moslem, der es nicht für seine religiöse Pflicht hält, fünf Mal am Tag zu beten, kann sich daher nich auf die Religionsfreiheit berufen, wenn er es trotzdem tun will. (Er kann sich dann aber auf die allgemeine Handlungsfreiheit berufen.)
Das (weltliche) Gericht ist also berufen zu ermitteln, was der Grundrechtsträger für seine religiöse Pflicht hält. Ob die Annahme des Grundrechtsträgers dann plausibel ist oder nicht, ob sie „richtig“ oder „falsch“ ist, spielt für die gerichtliche Entscheidung keine Rolle. Darum verletzt das Gericht auch keineswegs seine Pflicht zur religiösen Neutralität, wenn es sein Urteil spricht, denn die eigene (religiöse) Meinung des Gerichts spielt überhaupt keine Rolle.
Wenn die Frage, ob religionsunmündige Kinder Grundrechtsträger
des Rechts auf Religionsfreiheit sind, mit ‚nein‘ zu
beantworten wäre, dann und nur dann wäre Rechtsgrundlage für
Beschneidung oder Taufe die Religionsfreiheit der Eltern.
Nein. Die beiden Grundrechte bestehen unabhängig voneinander.
Dann
würden in der Tat, wie Du schreibst, „verschiedene Grundrechte
verschiedener Grundrechtsträger miteinander kollidieren“ -
nämlich das Recht auf Religionsfreiheit der Eltern einerseits
und das des Kindes auf körperliche Unversehrtheit (dass es
zumindest in Bezug auf dieses Recht Grundrechtsträger ist, ist
ja zweifelsfrei) andererseits.
Dem ist auch so. Wir haben es hier jeweils mit der Religionsfreiheit und dann eben auf der einen Seite mit dem Grundrecht auf körperliche Unversehrtheit und auf der anderen Seite mit dem verfassungsrechtlichen Erziehungsrecht zu tun.
Der wesentliche Unterschied ist allerdings, dass im ersten
Fall mE nicht schlüssig geltend gemacht werden kann, das
Urteil greife in die Religionsfreiheit der Eltern ein.
Doch, doch, wenn diese es als ihre religiöse Pflicht betrachten, ihr Kind beschneiden zu lassen.
Es
griffe vielmehr in das Recht der Eltern ein, das Recht auf
Religionsfreiheit der Kinder stellvertretend wahrzunehmen.
Nein, eine stellvertretende Wahrnehmung des Rechtes gibt es so, wie du das meinst, nicht.
Ein
meines Erachtens gar nicht so unwesentlicher Unterschied -
zumal in der Öffentlichkeit von sich berufen fühlenden
Funktionsträgern aus Politik und Religion penetrant und
undifferenziert von einer Einschränkung der Religionsfreiheit
schwadroniert wird.
Genau damit haben wir es ja auch zu tun. Allerdings ist „Einschränkung“ nicht dasselbe wie „Verletzung“, so dass die Aussage so relativ belanglos ist.