Um so mehr sehe ich hier einen Mangel in der
Urteilsbegründung, weil das Abwägungsmaterial unvollständig
ist. Auch, wenn die Entscheidung bei Vollständigkeit nicht
anders ausfallen konnte.
Solange du akzeptierst, dass das rein juristisch gesehen nicht stimmt, habe ich nichts dagegen einzuwenden. Juristisch gesehen ist es absolut in Ordnung und auch weitgehend üblich, die Begründung auf das Wesentliche zu verkürzen. Dann werden bestimmte Aspekte entweder gar nicht angesprochen, oder sie werden benannt und ausdrücklich offen gelassen. Das kann natürlich auch bei Abwägungen so sein, wenn ein Aspekt auf das Ergebnis keinen Einfluss nimmt.
Wenn es um die Religionsfreiheit als subjektives Recht des
jeweiligen Grundeigentümers geht, ist die Annahme erst recht
falsch. Denn zwischen dem Recht des einen und dem des anderen
besteht keine Identität; die Person des Grundrechtsträgers
gehört vielmehr zu den konstituierenden Merkmalen des
subjektiven Rechts. Das eine Recht ist das des einen das
andere das des anderen, mögen auch beide Ausfluss des
„Instituts“ der Religionsfreiheit sein.
Sorry - aber das würde so doch einer willkürlichen
Rechtsprechung Tür und Tor öffnen.
Was hat denn die Nicht-Identität zweier subjektiver Rechte mit Willkür zu tun?
Es gilt ja auch noch das
Willkürverbot Art. 3 Abs. 1 GG, gestützt durch die
Rechtsprechung des BVerfG, wonach wesentlich Gleiches nicht
ungleich bzw. wesentlich Ungleiches nicht gleich behandelt
werden darf. „Identität“ ist hier gar nicht das Thema (war von
mir falsch formuliert), sondern die Wesensgleichheit des
Rechts.
Jawohl, aber auf diese Wesensgleichheit bin ich ja auch eingegangen. Ich habe doch zwei Deutungsvarianten beschrieben.
das Recht auf freie Religionsausübung
eines Trägers dieses Grundrechtes findet seine Schranke in dem
Recht auf negative Religionsfreiheit anderer
Grundrechtsträger.
Das stimmt aber ja gerade nicht.
Die Religionsfreiheit ist ja nicht nur durch Art. 4 Abs, 1, 2
garantiert, sondern auch durch Art. 136 - 141 WRV. Ich hebe
hier speziell auf Art. 136 Abs. 4 ab - „Niemand darf zu einer
kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur Teilnahme an
religiösen Übungen […] gezwungen werden“.
Das stimmt natürlich, aber das ist nicht das, von dem ich schrieb, es stimme nicht.
Voraussetzung ist also, dass die Rechte auf Religionsfreiheit
verschiedener Grundrechtsträger als wesentlich gleich nach dem
Gleichheitsgrundsatz für sich (d.h. ohne Berücksichtigung
anderer möglicherweise ebenfalls betroffener Grundrechte) bei
einer Abwägung gleich zu werten sind.
Mit Art. 3 GG hast du nun angefangen. Den sehe ich nicht berührt.
Meine These, dass Eltern - aus dem Erziehungsrecht abgeleitet
- bei der Beschneidung das Recht auf positive
Religionsfreiheit ihres Kindes stellvertretend wahrnehmen,
verneinst Du. Somit greifen sie bei der Ausübung ihrer
Religion hier in die Religionsfreiheit des Kindes ein.
Jein. In der Grundrechtssystematik ist das so nicht möglich, weil die Grundrechte an den Staat adressiert sind (Art. 1 Abs. 3 GG).
Auf
welcher Rechtsgrundlage? Ein Eingriff in ein Grundrecht muss
ja eine Rechtsgrundlage haben.
Aber das haben wir doch schon geklärt: Die Grundrechte kollidieren hier. Die Rechtsgrundlage für den Eingriff kann bei der Religionsfreiheit ja sowieso nur ein Rechtsgut von Verfassungsrang sein.
Wenn diese Rechtsgrundlage hier
die Religionsfreiheit der Eltern ist, dann handelt es sich mE
um etwas wesentlich Gleiches wie das Recht auf
Religionsfreiheit des Kindes, das auch gleich behandelt - d.h.
bei der Abwägung gewichtet - werden muss.
Mit wesentlich gleich und ungleich sind aber die Sachverhalte gemeint, nicht die rechtlichen Bewertungen. Du vertauscht hier Tatbestand und Rechtsfolge. Mit Art. 3 GG entfernen wir uns von dem, worum es wirklich geht.
Wer schützt ggf. das Grundrecht des Kindes auf negative
Religionsfreiheit?
Tja, das ist halt immer das Problem, wenn der Grundrechtsträger nicht grundrechtsmündig ist. Es sollen ja gerade die Eltern sein, die schützen, ansonsten kann es nur der Staat, aber der muss davon erfahren, was hier ja nun auch geschehen ist.
Mir scheint, das Kölner Landgericht wollte
dieses heiße Eisen ganz bewusst gar nicht anfassen. Was nicht
verhindert hat, dass die Kirchen hier hellhörig geworden sind
und gegen das Urteil Sturm laufen. Denn wenn ein solcher
Eingriff in die Religionsfreiheit eines religionsunmündigen
Kindes unzulässig wäre auch ohne dass darüber hinaus in die
körperliche Unversehrtheit des Kindes eingegriffen wird, dann
wäre natürlich als nächstes die kindliche „Zwangstaufe“ auf
der Agenda.
Könnte man. Und leider kann man im Verfassungsrecht oft vieles begründen. Es würde aber darauf hinauslaufen, dass man die Taufe durchgehen lässt.
Nein. Die Eltern können das Kind höchstens unterstützen, etwa
indem sie eine Verfassungsbeschwerde erheben, weil das Kind
selbst nicht grundrechtsmündig ist. Das bedeutet aber nicht,
dass die Eltern die Religionsfreiheit des Kindes selbst
wahrnehmen.
Eben nicht selbst (das ist doch der springende Punkt, auf den
ich wiederholt hingewiesen habe) sondern als rechtliche
Vertreter mit entsprechenden Pflichten, Auflagen und
Beschränkungen.
Für mich gibt es zwischen deiner Formulierung und meiner keinen juristisch bedeutsamen Unterschied. „Selbst“ ist gerade nicht das Gegenteil von „als Vertreter“ (wie man übrigens an § 164 BGB sehr schön sehen kann).
Wie sollte das auch aussehen? Religionsfreiheit ist das Recht,
nach dem zu handeln, was als religiöse Pflicht für die
jeweilige Person angenommen wird. Wenn z.B. ein Moslem meint,
er müsse am Tag soundso oft beten, dann nimmt er damit sein
Grundrecht auf Religionsfreiheit wahr. Es ist aber nicht
einmal theoretisch möglich, dass ein anderer es für ihn
wahrnimmt und ausübt. Man kann nicht stellvertretend für
jemanden beten.
Wenn bei einer staatlichen Untersagung von Taufe oder
Beschneidung
die Religionsfreiheit des
Kindes verletzt
ist, dann gründet doch logischerweise auch die Ausführung von
Taufe oder Beschneidung auf der Religionsfreiheit des Kindes.
Und wer gibt die erforderliche Willenserklärung dazu ab?
Dieselben, die gegen eine Verletzung der Religionsfreiheit des
Kindes vorgehen können - die Eltern. Auf welcher
Rechtsgrundlage? Auf Grundlage ihres Erziehungsrechtes, nicht
ihrer Religionsfreiheit.
Jo.
Das Grundgesetz wird hier nicht ausgelegt, sondern Art. 6 Abs.
2 Satz 1 GG wird rechtlich ausgestaltet durch nachgeordnete
Gesetzesnormen wie hier § 1627 BGB.
Was du Ausgestaltung nennst, ist nichts anderes als eine (verbindliche) Auslegung. Darum halte ich an meiner Auffassung fest, dass das nicht stimmt.
Nun - für die Bewertung der Zulässigkeit eines Eingriffs in
das Elternrecht kommt es jedenfalls darauf an, wo das
Elternrecht seine Schranken findet. Und da griff auch das
Landgericht Köln in seiner Urteilsbegründung auf § 1627 BGB
zurück. Man könnte vielleicht sagen hilfsweise - ist doch die
dort formulierte Beschränkung durch das Kindeswohl selbst
durchaus auf verfassungsrechtliche Normen zurückführbar.
So, wie das Landgericht es schreibt, ist Das Urteil nicht vertretbar. Man kann nicht verfassungsrechtlich argumentieren, die relevante Wertung folge aus dem BGB. Das geht nur über die Feststellung, dass diese Wert auch hier gilt, aber eben nicht, weil der einfache (!) Gesetzgeber es so bestimmt hat.
Wenn die Frage, ob religionsunmündige Kinder Grundrechtsträger
des Rechts auf Religionsfreiheit sind, mit ‚nein‘ zu
beantworten wäre, dann und nur dann wäre Rechtsgrundlage für
Beschneidung oder Taufe die Religionsfreiheit der Eltern.
Nein. Die beiden Grundrechte bestehen unabhängig voneinander.
Bitte nochmal lesen: Wenn religionsunmündige Kinder hier nicht
Grundrechtsträger sind, dann bestehen hier auch gar nicht
Die beiden Grundrechte
sondern nur das der Eltern auf Religionsfreiheit. Dass eben
dies nicht der Fall ist, ist ja nun klargestellt.
Ich bleibe bei meiner Aussage. Du sagst, die Religionsfreiheit der Eltern sei nur dann Rechtsgrundlage für die Beschneidung oder Taufe, wenn das Kind keine eigene grundrechtlich verbriefte Religionsfreiheit hätte. Das stimmt nicht, das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Die Religionsfreiheit der Eltern ist hiervon unabhängig betroffen, und genau das habe ich auch geschrieben.
Doch, doch, wenn diese es als ihre religiöse Pflicht
betrachten, ihr Kind beschneiden zu lassen.
Ich fürchte, Du konntest mich nicht überzeugen, dass der
Gehalt der grundgesetzlichen Religionsfreiheit sich darauf
erstreckt.
Damit werde ich wohl leben müssen. (Trotzdem ganz witzig, denn das schrieb mir neulich mal ein Jurist, der dann mit heutigem Fax doch aufgegeben hat und seinen Kampf einstellt…)
Allerdings möchte ich auch nicht, dass das hier so stehen bleibt, denn worauf sich ein „Gehalt“ „erstreckt“, ist keine verfassungsrechtliche Fragestellung und kann so oder so in juristische Sprache übersetzt werden. Meine Aussage lautet, dass der Schutzbereich der Religionsfreiheit eröffnet ist.
Das Institut ist in sich schon durch Art. 136 Abs.
4 WRV grundgesetzlich begrenzt.
Diese Möglichkeit habe ich bislang in der Tat außer Acht gelassen. Die mir vorliegende Literatur geht mit der WRV sehr schwammig um und gliedert sie nicht exakt in die grundrechtliche Systematik ein. Es kann also sein, dass sich deswegen - aber nur deswegen - ergibt, dass der Schutzbereich der Religionsfreiheit schon gar nicht eröffnet ist. Das ist allerdings nichts, was ich spontan zwingend finde, und es hat auch nicht die weitreichenden Konsequenzen, von denen ich denke, dass du sie daran siehst.
Wenn das Recht auf Religionsfreiheit sich auch darauf
erstreckt, an Dritten ohne deren Einwilligung chirurgische
Eingriffe vornehmen zu lassen, dann allenfalls, wenn Art. 136
Abs. 4 WRV dahingehend verstanden wird, dass - wenn dies
Eltern ihren Kindern antun - der Tatbestand, dass da jemand
„zu einer kirchlichen Handlung oder Feierlichkeit oder zur
Teilnahme an religiösen Übungen […] gezwungen“ wird, nicht
erfüllt ist.
Ich verstehe ja durchaus, dass du dich von mir nicht überzeugen lassen willst, aber dann frag doch einen anderen Juristen…!? Ansonsten immer ein guter Tipp, weil wirklich tolle Juristen mitwirken: http://forum.jurawelt.com
Wobei ich noch einmal betonen muss, dass das nicht das ist, was ich geschrieben oder gemeint habe. Dass sich ein Grundrecht auf etwas „erstreckt“, ist nicht meine Wortwahl, und ich würde das am ehesten wie eine konkrete oder zumindest abstrakte Erlaubnis interpretieren. Nicht das eine noch das andere habe ich gesagt oder gemeint.