Hallo Marion
Ich merke schon, dass du dich nicht sonderlich mit dem
Phänomen der Tulkus beschäftigt hast. Hier werden z.B. keine
Kinder in geistliche Ämter eingesetzt, sondern die Übernehme
des jeweils „geistigen Amts“ findet erst nach bestandenen
Prüfungen im Erwachsenenalter statt. Soviel nur dazu.
geschenkt. Hältst Du das in diesem Zusammenhang für tatsächlich für ein wesentliches Argument, in welchem Alter die offizielle Einsetzung stattfindet? Mal abgesehen davon, dass mw wohl noch keiner dieser Tulkus durch die Prüfungen gefallen ist … Der Punkt ist, dass es Vergleichbares in anderen buddhistischen Traditionen nicht gibt.
Dass es ein individuelles Kontinuum der gestaltenden Faktoren
(Karma) gibt, hab ich ja mit der Stelle im Samyutta Nikaya
belegt.
Das war ja auch überhaupt nicht strittig - es ging darum, ob ein ‚Bewusstseinskontinuum‘ oder ‚geistiges Kontinuum‘ über den Tod hinaus besteht. Ein „individuelles“ sogar - so steht es nämlich in dem Text von Alexander Berzin. Und eben dies kannst Du mit dieser oder irgendeiner anderen Stelle aus dem Palikanon nicht belegen. Schau dir z.B. mal Samyutta Nikaya 22.49 an:
18. „Ist das Bewußtsein unvergänglich oder vergänglich?“ - „Vergänglich, o Herr.“ - „Was aber vergänglich ist, ist das leidig oder freudig?“ - „Leidig, o Herr.“ - „Was nun vergänglich, leidig, wandelbar ist, kann man dies mit Recht so ansehen: ‚Dies ist mein, das bin ich, das ist mein Selbst‘?“ - „Gewiß nicht, o Herr.“
[…]
23. "Daher, o Sona, was es irgend an Bewußtsein gibt, vergangen, künftig, gegenwärtig, eigen oder fremd, grob oder fein, gewöhnlich oder edel, fern oder nahe: von jedem Bewußtsein gilt: ‚Dies ist nicht mein, das bin ich nicht, das ist nicht mein Selbst‘. - So hat man dies der Wirklichkeit gemäß mit rechter Weisheit zu betrachten.
- diese Aussage über das Bewusstsein (vijnana-skandha) wird für sämtliche weiteren skandhas wiederholt. Darüber hinaus existiert nichts weiter, auch kein „geistiges Kontinuum“:
Wenn nun, ihr Mönche, einer sagt: ‚Außerhalb von Körperlichkeit, Gefühl, Wahrnehmung, Gestaltungen will ich des Bewußtseins Kommen oder Gehen, Schwinden oder Entstehen, Wachstum, Entwicklung, Fülle verkünden‘ - so besteht keine Möglichkeit dafür.
(S.22.53.)
So weit jedenfalls der Palikanon. Die Lehre von einem anfangs- und endlosen Bewusstseinkontinuum oder geistigen Kontinuum - also das, was Berzin da referiert - steht eindeutig in krassem Widerspruch zu den Sutren des Palikanon, da beisst die Maus keinen Faden ab.
Vielleicht magst Du Dir zur theravadischen Position einmal Visuddhimagga XIV anschauen - dort ist von einem individuellem ‚Bewusstseinstrom‘ oder ‚Bewusstseinskontinuum‘ (bhavanga sota) die Rede. Allerdings keinem anfangs- und endlosen, sondern einem, das mit der Geburt ins Dasein tritt (patisandhi citta) und mit dem Sterben endet (cuti citta).
Bleibt die Frage offen, ob es grundsätzlich möglich
ist, bei seinem Tod Einfluss auf den Verbleib dieser
gestaltenden Faktoren zu nehmen. Auch dies muss vor dem
Hintergrund allgemeiner buddhistischer Lehre bejaht werden,
da, wie aus der verlinkten Textstelle hervorgeht,
Die Frage selbst will ich einmal offen lassen aber Dich darauf hinweisen, dass du den Grund meines Einwandes offenbar nicht verstanden hast. Herr Berzin mag in "der verlinkten Textstelle " sehr beredt die tibetische Position darstellen, das heisst noch lange nicht, dass dies „vor dem Hintergrund allgemeiner buddhistischer Lehre bejaht werden“ muss. Wirklich nicht.
Nun, du musst mir schon konkret sagen, was du für eine
„tibetische Spezialität“ hältst.
Das habe ich sehr deutlich - einschließlich Verweis auf die Herkunft dieses Konzeptes. Nochmals: das Postulieren eines individuellen anfangs- und endlosen ‚geistigen Kontinuums‘ (wie bei Berzin) oder ‚Bewusstseinskontinuums‘ bzw. ‚Bewusstseinsstroms‘ (diese Begriffe findet man in anderen erläuternden Texten) findet sich im Buddhismus außerhalb der tibetischen Tradition nicht.
Das Prinzip der Gestaltenden
Faktoren und ihre Eigenschaften, um die es hier geht, wird es
jedenfalls wohl nicht sein.
Das hast Du richtig erkannt.
Deine weiteren Hinweise sind ja ganz schön, allerdings wüsste
ich gerne, was du mit „Bewusstseinstheorie“ bezeichnest.
Das wüsste ich jetzt aber auch gerne - mir ist nämlich nicht erinnerlich, dass ich eine solche Bezeichnung gebraucht hätte. Ich habe vielmehr von „dieser Bewusstseinskontinuum-Theorie“ geschrieben und was damit gemeint war, kannst Du den unmittelbar vorangehenden sechs Sätzen unschwer entnehmen.
Ich
bin auch gerne bereit, mit dir Asanga, Nagarjuna oder andere
buddhistische philosophische Richtungen zu diskutieren, sofern
du diese Namen auch mit etwas Inhalt füllst und mir verrätst,
was genau du eigentlich diskutieren möchtest.
Mir ging es nicht eine Diskussion dieses Konzeptes eines ‚geistigen Kontinuums‘ (das wäre ein Thema für buddhistisches Spezialforum) - nur um die Klarstellung, dass es sich nicht um eine allgemein anerkannte buddhistische Lehre handelt, wie in dem von Dir verlinkten Text unterstellt. Die meisten Buddhisten haben mit Texten wie dem Anuttara Yogatantra oder dem Uttara Tantra Shastra nämlich absolut nichts am Hut.
In diesem Sinn frage ich dich dann mal, was denn sie
Zen-Buddhisten annehmen, was mit den gestaltenden Faktoren
passiert, wenn die Skandhas zerfallen?
Ist jetzt zwar völlig offtopic - aber Du wirst Dich vielleicht erinnern, dass ich vor einer Weile die Thematik ‚punarbhava‘ anhand des Mahayana Shraddhotpada Shastra und des alaya-vijnana erläutert habe: /t/kritische-frage-zum-thema-wiedergeburt/3869705/44
… mit deutlichen Hinweis darauf, dass es sich um die Sicht einer speziellen Schule des Buddhismus (Vijnaptimatra / Yogacara) handelt. Nicht wie Berzin: " Der Buddhismus erklärt …". „… gemäß der buddhistischen Erläuterung …“ usw. usf. So etwas ist schlicht irreführend und eine ungerechtfertigte Vereinnahmung.
Hier irrst du übrigens schon wieder. Selbsverständlich geht
man im Theravada von einem nicht endenden Daseinskreislauf
aus. Schließlich ist es das vornehmlichste Ziel im Theravada,
diesen Daseinskreislauf zu verlassen. Der Grundlegende
Unterschied zum Mahayana besteht lediglich darin, dass es im
Theravada nach Erreichen der Buddhaschaft kein
freiwilliges Verweilen im Daseinskreislauf
gibt. Aber auch im Theravada geht man davon aus, dass „man“
bis zur Erleuchtung immer und immer weiter im Daseinkreislauf
gefangen ist, was natürlich nichts anderes ist, als ein
Kontinuum bis zum „Ausstieg“ durch Erreichen der Buddhaschaft.
Ich irre mich da durchaus nicht. Hier kommen genau zu dem Punkt, wo der Hund begraben liegt. Dieses „man“ existiert so nach Auffassung der Theravadin (und btw auch der Madhyamika) nämlich nicht, es ist maya, leidhafte Täuschung. Da ist nichts Substanzielles „im Daseinskreislauf gefangen“, auch kein in Anführungsstriche gesetztes „man“. Vgl. die Zitate oben aus S.22. Über die empirische Existenz einer vergänglichen Zusammensetzung von skandhas (eines Individuums) hinaus gibt es keine Kontinuität, lediglich karmische Früchte.
Das Leiden gibt es, doch kein Leidender ist da. Die Taten gibt es, doch kein Täter findet sich. Erlösung gibt es, doch nicht den erlösten Mann. Den Pfad gibt es, doch keinen Wanderer sieht man da.
(Visuddhimagga XVI.4)
Deswegen erlischt nach Auffassung der Theravadin das individuelle ‚geistige Kontinuum‘ (bhavanga sota) mit dem Sterbebewusstsein, s.o. Was das alaya-vijnana der Yogacarin angeht - das ist zwar ein anfangs- und endloses (überzeitliches) Kontinuum, aber eben kein individuelles.
Das „man“, das da in den „subtilsten“ Schichten des Bewusstseins herumgeistern soll und dem eine überzeitliche Existenz als individuelles „geistiges Kontinuum“ zugebilligt wird, ist nichts anderes als ein ‚atman‘. Das ist der begrabene Hund.
Freundliche Grüße,
Ralf