Voreilige Kritik?
Hallo Janina,
ich antworte lieber dir als traurige_Seele/Anja, um die Schärfe rauszunehmen.
Denn ich habe mir die Antwort lange überlegt, und nicht gleich einen Rat aus dem Hut gezaubert.
Dein sicherlich gut gemeinter Beitrag enthält leider eine
ganze Reihe Formulierungen, die gerade bei Depressionen
gefährlich sein können. Deine Antwort ist gespickt mit
Vorwürfen und Vorhaltungen, die letztlich auf einen Nenner zu
bringen sind: Dass es dir noch nicht besser geht, daran bist
du selbst schuld. Du müsstest nur, dann wären all deine
Probleme weg.
Es geht nicht um Schuld, sondern um Verantwortlichkeit. Wenn man erwachsen ist, ist man für sein Leben selbst verantwortlich, auch wenn man keine Schuld daran hat, wie es bis dahin verlaufen ist. Die Schuldfrage ist vielleicht Thema in der Therapie, zu klären, warum man so geworden ist, wie man ist. Aber letztlich ist das irrelevant. Man wird in ein Leben hineingeboren, das man nicht zu verantworten hat, aber dessen (letztlich) einziger Gestalter man ist. Und auch die Fehler der Vergangenheit sind nicht unter dem Schuldaspekt zu betrachten, sondern unter dem „was und wie“.
Es geht darum, dass man - obwohl kraftlos - um so mehr Kraft investieren muss, um sein Leben lebenswert zu machen. Das ist hab nicht ich mir ausgedacht. Aber es ist möglich, mit Hilfe.
Erstens stimmt das nicht und zweitens sind das die Vorwürfe,
die sich ein Depressiver (völlig zu unrecht) eh schon selbst
macht und die ihn noch weiter runterziehen und damit noch
weiter davon weg, aus dem Sumpf rauszukommen.
Da fängst du deinerseits mit dem Spekulieren an. Jeder Depressive weiß irgendwann (durch Therapie), dass er an einer Krankheit leidet, und dass die Selbstvorwürfe ein Symtom sind. Soll ich jetzt mutmaßen, dass Anja noch nicht so weit ist?
Und den Vorwurf „wohlmeinend, aber naiv“ will ich so nicht stehen lassen. Ich hab mir schon genau überlegt, was ich schreibe, und wann. Das was mir am Herzen lag, nicht was Anja hören wollte.
Und mal ganz laienhaft formuliert, ob Depression, Angst oder
Sucht, dahinter steckt immer das Problem, dass du nicht in der
Lage bist, dir dein Leben so zu gestalten, dass du ohne
auskommst.
„Nicht in der Lage sein“ sollte aber hier unbedingt neutral zu
verstehen sein! Bei dieser Formulierung schwingt gerne mal
mit, dass man es alleine nicht auf die Reihe bekommt. Dabei
gilt für viele psychische Erkrankungen, dass man sich da
alleine kaum draus befreien KANN. Weil die Belastung zu hoch
ist oder die Krankheit zu schwer.
So neutral hab ich es gemeint. Und neutraler kann ich nicht. Oder soll ich hinter jeden Satz einen Nachsatz stellen „ohne dass du schuld bist“. Bin ja selbst betroffener, und habe das auch zu Beginn geschrieben.
Bei einem Beinbruch lässt man sich auch helfen, weil es
alleine nicht geht- auch wenn man hinterher schon noch
mitarbeiten muss, in dem man regelmäßig Krankengymnastik
macht.
Hab ich was anderes geschrieben? Wenn jemand Dinge in meine Antwort reininterpretiert, ist das seine Sache.
Und alle Formen der Therapie bieten zweierlei: Einen
Rettungsring, den du ergreifen kannst, und die Aussicht, dass
er dich zu etwas zieht, was gut ist. Vielleicht nicht dem
weißen Stand unter Palmen, aber lebenswert.
Wenn du den nicht ergreifst, aus Trotz, Besserwisserei,
Faulheit oder Gleichgültigkeit, können dir auch tausend
Therapien nicht helfen.
Es gibt auch noch viele andere Gründe, die dazu führen, dass
ein solcher Rettungsring nicht ergriffen wird. Zum Beispiel,
weil er außer Reichweite hängt. Oder weil die Kraft fehlt, ihn
zu ergreifen. Oder weil man, s.u., in der Vergangenheit schon
mal die Erfahrung gemacht hat, dass in dem Rettungsring keine
Luft war oder der einen in noch mehr Dunkelheit gezogen hat.
Ja und? Mir sind nicht alle Gründe eingefallen! Und was ist dein Rat? In Zeiten tiefster Depression eine Gutachter zu beauftragen, der die Qualität des Rettungsrings begutachtet?
Auch wenn nicht 0,1 % der Therapeuten schädlich sind, sondern 1 oder gar 5, und Leidensgenossen, andere Therapeuten oder Leidensgenossen und das eigene Denken/Fühlen bei der Filterung nicht helfen, was bleibt denn als Alternative?
Sich nicht einzulassen?
Den Rettungsring zu greifen, zu einem Zeitpunkt, wo man vielleicht etwas mehr Kraft, durch die therapeutische Umgebung. Sein eigenes Leben verantwortlich zu ändern, ohne die Schuldfrage zu stellen.
Du musst zugreifen, auch wenn mal der
eine oder andere Therapeut nicht ganz optimal für dich ist.
Dann treibst du halt mal quer zum Ziel. Aber ohne treibst du
für immer auf der Stelle.
…
Die Chancen, dass
es dich zurückwirft, sind minimal, (fast) alle (also 99,9%)
sind wohlwollend, vielleicht 1 % verstehen dich nicht, und
bringen dich nicht weiter.
Das stimmt einfach nicht! Wer psychisch Krank ist, ist nicht
dumm. Wer Depressionen hat, nicht doof. Es ist schlicht nicht
richtig, dass es 99,9 % Wohlwollende gibt und nur 1 % einen
nicht verstehen oder einen nicht weiter bringen. Das würde ja
bedeuten, dass Psychotherapeuten heilger wären als Priester!
Übermenschen, denn Menschen machen Fehler und sind auch böse
Buben und Mädels.
Zugegeben, ich war vielleicht zu optimistisch. Aber ich hatte auch ein bisschen im Hinterkopf, dass Depressive mit der oben genannten Hilfe schon zum großen Teil einiges erkennen. Patienten reden auch untereinander!
Und du machst mir einerseits zum Vorwurf, dass ich mich nicht einfühle, und anschließend, dass ich aus dem Gefühl heraus mehr Optimismus verbreite, als objektiv vielleicht/leider gerechtfertigt. Depressive sind nicht dumm, und ich auch nicht. 99,9 % ist halt eher ein Stimmungsbild als eine exakte Zahl.
Außerdem suggerierst du damit, dass man schon omnipatenten
Lösungen gegen Depression hat. Die hat man gerade bei dieser
Krankheit nicht!
Das tue ich nicht. Und das ist schon an der Grenze zur Lüge. Ich habe suggeriert, dass jemand, der nach Jahren Depression alleine nicht rauskommt, wohl kaum eine bessere Gelegenheit findet, als den Rettungsring der Therapie. Von Spontanheilungen mal abgesehen.
Und mehr habe ich dazu auch nicht zu sagen.
Hyper/Ayse zeigt zumindest, dass es ein langer und steiniger Weg ist, aus der Depression herauszukommen, mit Rückschlägen. Aber den ersten Schritt zu tun, mit Hilfe, das bleibt keinem erspart. Und ich kenne etliche, die weit gekommen sind, und einige, die sich intellektuell nicht mit sich und ihrem Leben auseinandersetzen wollen. Und da wir intellektuelle Wesen sind, ist ohne Intellekt kein echter Fortschritt möglich.
Also alles in einem eine ganz billige Nummer, einen Depressiven, der einem anderen Depressiven helfen will, zu zerpflücken. Und mein Intellekt arbeitet noch präzise, da musst du früher aufstehen.
Wollte eigentlich nicht so böse werden, aber Freude zu empfinden ist ja sooo wichtig.
Gruß, Zoelomat