Hallo Dilarah,
es wurde schon viel geschrieben, aber einige Dinge möchte ich so nicht ganz stehen lassen:
Es ist unbestritten, dass Hunde sich nur in einem hierarchischen System gut zurechtfinden und eingliedern. Es ist allerdings ein weit verbreiteter und gefährlicher Irrtum, dass Hunde Kinder als ranghöher als sich selbst sehen. Wenn Hunde Kindern gegenüber keine Aggression zeigen, bedeutet das nicht, dass sie das Kind als ranghöher anerkennen, sondern einfach, dass sie sich von dem Kind in ihrem Status nicht bedroht fühlen (also das Kind eigentlich NICHT besonders ernst nehmen). Rangordnung kann auch nicht von oben befohlen werden, sondern wird erarbeitet und gepflegt. Wenn ein Hund und Kinder in der Familie sind, ist es also Aufgabe der „ranghohen“ Menschen, sowohl den Hund als auch die Kinder in den Familienverband einzugliedern d.h. es ist genauso wichtig Kindern Grenzen im Umgang mit dem Hund zu setzen wie umgekehrt dem Hund Spielregeln im Umgang mit den Menschen.
Um dies zu erreichen, ist es nicht nötig, ständig Hund und Kinder zu drangsalieren und „unterzubuttern“, es sollten aber klare Regeln für alle Familienmitglieder gelten. Kindern sollte - zu ihrer eigenen Sicherheit! - strikt verboten werden irgendwelche „Erziehungsmaßnahmen“ dem Hund gegenüber zu ergreifen, ihm Futter streitig zu machen, ihn zu belästigen oder gar zu quälen. Größere Familienmitglieder sollten sich auf bestimmte Regeln einigen, was den Umgang mit dem Hund betrifft (z.B. Tabuzonen in der Wohnung, Fütterung, Verbote, Freiheiten) - und diese dann auch konsequent einhalten.
Ich vergleiche die Bildung einer Familienhierarchie immer gern mit der einer großen Firma. Die Chefs dort laufen nicht jeden Tag durch ihren Betrieb und stauchen ihre Mitarbeiter zusammen, damit diese wissen, wer „der Boss“ ist. Sie genießen aber gegenüber den „rangniederen“ Angestellten deutliche Privilegien. Sie können kommen und gehen, wann sie wollen, begrüßen nicht sämtliche Mitarbeiter einzeln, sie können sich in der gesamten Firma frei bewegen und brauchen keine Tabuzonen einzuhalten, haben einen eigenen Parkplatz vor der Tür, einen bequemeren Sessel, u.s.w.
Ein guter Chef ist der, der weitsichtig, gerecht, konsequent, dabei freundlich und nicht launisch ist, der eine klare Linie fährt und für alle Beteiligten Vorbildfunktion hat.
In ähnlicher Weise sollte man dem Hund seine Stellung im Familienverband klarmachen (Tabuzonen einrichten, bei unerwünschtem „Benehmen“ ignorantes Verhalten dem Hund gegenüber, Futter als Belohnung, …).
Zu deinem Beißunfall:
80 % der Bissverletzung passieren innerhalb der Familie oder dem Hund gut bekannten Personen. Du bist also kein Einzelfall.
Futteraggression hat nur bedingt mit Rangordnung zu tun. Es ist keineswegs so, dass in der Natur bei Caniden die ranghöheren Tiere zuerst fressen und dann die rangniederen. Jeder im Rudel verteidigt durch Drohen und beißgehemmte Attacken seinen Brocken, den er ergattert hat, gegenüber anderen Rudelmitgliedern. Dieses Verhalten wird von ranghohen Tieren auch akzeptiert, weil es durchaus Sinn macht:
Bestünde eine strenge Futterrangordnung, fräßen sich die jagderfahrenen ranghohen Tiere dick und fett und verlören dadurch die Motivation jagen zu gehen, die rangniederen, noch jagdunerfahrenen Tiere wären unter- und mangelernährt und würden dem Gesamtrudel weder bei Jagdzügen noch bei Rudelverteidigung viel nützen.
Nur in extremen Notsituationen bildet sich eine Futterrangordnung, der Rangniedere dann möglicherweise zum Opfer fallen.
Bei der Haltung von Familienhunden kann Futteraggression Familienmitgliedern gegenüber selbstverständlich nicht toleriert werden; man muss sich aber trotzdem bewusst sein, dass es eigentlich ein natürliches Verhalten ist. Deutliches Zeichen dafür ist ja auch, dass dein Hund selbst dich als vermeintlich ranghöchstes Mitglied gebissen hat.
Hunde sollten lernen, dass es sich nicht lohnt Futter zu verteidigen. Das kann man auf unterschiedliche Art üben. Man kann während des Fressens in den Napf greifen und einen besonderen Leckerbissen DAZUlegen, als Steigerung der Übung den Napf wegnehmen und gegen etwas noch Begehrteres tauschen, den Hund nicht abseits in einer stillen Ecke füttern, die er gut verteidigen kann, sondern bei Hunden, die dazu neigen Futter zu verteidigen, am besten nach Abverlangung von Unterordnungsübungen aus der Hand füttern. Der Hund sollte nicht das Gefühl haben, dass ihm etwas weggenommen wird, wenn jemand seinem Futter zu nahe kommt, sondern dass das etwas völlig Normales - und hin und wieder sogar für ihn vorteilhaft - ist.
Sämtliche Familienmitglieder sollten sich an solchen „Futterspielen“ beteiligen, Kinder immer nur unter Aufsicht. Zeigt der Hund in irgendeiner Weise Aggressionen, empfiehlt es sich, ihm nicht den Futternapf streitig zu machen, sondern den Hund - als Konsequenz für sein Verhalten - vom Futter wegzuführen (evtl. vor der Fütterung Schleppleine ans Halsband).
Zusätzlich ist es wichtig, dass eine ausgeprägte Beißhemmung Menschen gegenüber aufgebaut wird. Gerade gegenüber ranghöheren Familienmitgliedern besteht i. d. R. eine stärkere Hemmung fest zuzubeißen, aber unsere vergleichsweise dünne Haut ist weit empfindlicher als „Hundleder“. Was unter Hunden ein korrigierender Schnauzgriff ohne größere Folgen ist, kann ein Kind fürs Leben zeichnen. Die richtige Zeit, angemessene Beißhemmung aufzubauen, ist allerdings bereits das Welpenalter. - Bei deinem relativ alten Hund solltet ihr grundsätzlich vorsichtig sein und euch nicht auf körperliche Machtspielchen einlassen, bei denen ihr letztendlich womöglich den Kürzeren zieht.
Ich rate euch generell, Privilegien des Hundes herunterzufahren (Tabuzonen einrichten, Futter nur nach Leistung, Einfordern von Streicheleinheiten ignorieren, Bewegungsfreiheit des Hundes einengen).
Zusätzlich würde ich an seiner Futteraggression arbeiten. Dies sollte mit Umsicht und immer unter Aufsicht von Erwachsenen geschehen.
Im Übrigen würde ich Kinder und Hunde nie unbeaufsichtigt zusammenlassen.
Leider etwas sehr lang geworden…
Alles Gute
Johnny