Grundsätzliches zur Bindungsangst
Hallo Sebastian,
ich hoffe, ich nerve niemanden mit meinen Beiträgen zur Bindungsangst, aber ich glaube, dass bei Leuten, deren Beziehungsprobleme so quälend sind, dass sie sich an dieses Forum wenden, Bindungsangst oft im Spiel ist.
Deshalb nutze ich hier die Gelegenheit, mal etwas weiter auszuholen.
Das, was du schreibst, ist typisch für einen Bindungsphobiker und du selbst hast den Begriff Bindungsangst ja auch schon in einer deiner Antworten benutzt. Du ahnst oder weißt also, dass da etwas ist.
Ein Bindungsphobiker will in aller Regel eine Beziehung solange er keine hat. Er ist sehr stark in der Werbung und ihm gelingt es relativ leicht, jemandes Liebe zu wecken. Ist der (anvisierte) Partner dann irgendwann so weit, Ja zu einer Beziehung zu sagen, signalisiert er deutlich, dass er den Phobiker will, dann ändern sich dessen Gefühle oftmals schlagartig. Es wird ihm irgendwie zu eng, er fühlt sich erdrückt, geht auf Distanz. Diese Distanz wird dadurch hergestellt, dass er plötzlich viel arbeiten muss, keine Zeit hat, geistesabwesend und kühl ist, er mit anderen Frauen zu flirten beginnt, von Freiheit und Unabhängigkeit redet, keine Lust auf Sex hat, zu nörgeln beginnt, verletzende Bemerkungen macht und und und. Jeder hat da so sein eigenes Repertoire. Für den frisch verliebten Partner ist das Ganze bestürzend. Gerade als es am Schönsten ist, zieht sich der Geliebte zurück und wird zu einem anderen Menschen.
Er versucht mit allen Mitteln ihn zurückzuholen und mehr Nähe herzustellen, will Erklärungen und Zusagen, geht absurde Kompromisse ein, sagt „ich liebe dich“ und sehnt sich nach Erwiderung. Aber all das bedrängt den Phobiker nur noch mehr und bewirkt das Gegenteil des Erhofften.
Der Phobiker selbst fühlt sich meistens schuldig, hat ein schlechtes Gewissen und Mitleid, versteht seine eigenen Gefühle nicht und befindet sich in einem Zustand größter Ambivalenz, die für ihn selbst auch sehr quälend ist. Meistens kann er keine klaren Aussagen treffen, sondern ist nur zu „Ich liebe dich, aber …“, „Ich brauche noch etwas Zeit“ usw. fähig. Oder er sagt etwas Distanzierendes, handelt aber entgegengesetzt, indem er sehr zärtlich oder sogar leidenschaftlich liebt. Er kann weder ein klares Ja noch ein klares Nein formulieren, weil beides ja eine Verbindlichkeit zur Folge hätte, vor der er Angst hat.
Beziehungen mit Bindungsphobikern sind für ihn selbst und für den Partner sehr leidenschaftlich und anstrengend. Eine Achterbahnfahrt aus Hoffnung und Enttäuschung, Liebe und Leere, Glück und Verzweifelung. Oft gerät der Partner in eine Abhängigkeit, der er sich nicht entziehen kann. Der ferne Geliebte (der Phobiker) wird zu einer echten Sucht mit Highs und Entzugserscheinungen, Wesensveränderungen und psychischem Verfall.
Die Angst des Phobikers sitzt sehr tief und ist meistens unbewusst. Die meisten Bindungsphobiker wissen nicht, dass sie ein solcher sind. Sie glauben, dass der Partner einfach nicht der Richtige war oder sowas. Sie nehmen ihre Gefühle als irrational und falsch war, gleich dem Spinnenphobiker. Dieser weiß rational, dass die Spinne dort in der Ecke ihm nichts tut, aber trotzdem hat er diese Panik. So sagt sein Verstand Ja zu der Partnerin (die auf einer Checkliste alles erfüllt, was der Phobiker eigentlich sucht), das Gefühl aber Nein.
Oftmals drückt sich die Bindungsangst auch in anderen Lebensbereichen aus: Bindungsphobiker bevorzugen Selbständigkeit und meiden Angestelltenverhältnisse (wegen der Abhängigkeit), ziehen oft um, wohnen lieber zu Miete mit wenig Möbeln, wechseln gern den Job, wenn sie Angestellte sind usw.
Leider ist der Weg, die Bindungsangst zu überwinden sehr beschwerlich und langwierig. Sie ist ein Wesenszug. Eine Psychotherapie und einige Disziplin bei der Anbahnung von Beziehungen (z.B. sich um klare Aussagen bemühen und dem Partner sagen, worauf er sich einlässt), können aber helfen.
Viele Grüße, Tychi