Abduktion erklärt?

Huhu!
Ich muss gerade für mein nichtbiologisches Fach eine Hausarbeit schreiben, und ich verstehe Abduktionen nicht.
Ich habe schon in allen Möglichen Quellen nachgelesen und im Philosophischen Wörterbuch nachgeschlagen, aber irgendwie kommt mir das alles sehr schwammig und unverständlich vor.

Wenn ich das richtig sehe (was aber wohl nicht richtig ist), schliesst man bei einer Abduktion von einer Vielzahl von Einzeltatsachen auf auf eine Hypothese, die dann wieder die Einzeltatsachen erklärt, d.h. also letztlich eine Verknüpfung von Induktion und Deduktion.
(Erst Induktion um zur Hypothese zu kommen, und dann eine Deduktion um die Hypothese mit den Einzeltatsachen zu erklären)

Kann mir wer helfen?
Viele Grüße!
Ph.

Ich habs so verstanden:

Deduktion: Frauen koennen nicht Autofahren. Also kann Hannah nicht Autofahren.

Induktion: Es wurde noch keine Frau beobachtet die Autofahren kannn. Also: Frauen koennen nicht Autofahren.

Abduktion: Maenner koennen eigentlich Autofahren. Komischerweise hab ich letztens gesehen wie Hans schlecht gefahren ist. Koennte es sein, dass Maenner nicht Autofahren koennen?

Lieber Scrabz!

Wenn ich das richtig sehe (was aber wohl nicht richtig ist),
schliesst man bei einer Abduktion von einer Vielzahl von
Einzeltatsachen auf auf eine Hypothese, die dann wieder die
Einzeltatsachen erklärt, d.h. also letztlich eine Verknüpfung
von Induktion und Deduktion.
(Erst Induktion um zur Hypothese zu kommen, und dann eine
Deduktion um die Hypothese mit den Einzeltatsachen zu
erklären)

Der vielleicht wichtigste Satz dazu von Peirce, dem „Erfinder“ der Abduktion:

Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre, würde C eine Selbstverständlichkeit sein; folglich besteht Grund zu vermuten, daß A wahr ist.

Der Punkt ist: die beiden Schlüsse von C auf A und von A auf C bzw. alle C-artigen C’ (es ist ja nicht vorab klar, welche Dinge ebenfalls zu der Regel gehören werden, deren Fall C ist) sind gleichzeitig und als Einheit aufzufassen.
Beide Schlüsse bedingen sich also gegenseitig und sind nie endgültige Wahrheit, sondern immer offen zu halten.
Darum kann man die Abduktion auch weniger als logisches Schlussverfahren verstehen, sondern mehr als eine bestimmte Forscherhaltung.

Reichertz, „Die Abduktion in der qualitativen Sozialforschung“ erklärt obigen Satz ungefähr so als methodischen „Dreischritt“:

1) Stoßen auf ein überraschendes Ereignis C (also auf ein Gegebenes, das man nicht sofort mit einer bekannten Regel erklären kann)
2) man konstruiert eine allgemeine Regel A für C
3) man prüft, ob alle C-artigen Daten [C’] durch diese allgemeine Regel erklärt werden können

Dieser Dreischritt wird wiederholt, sobald ein C-artiges Ereignis auftritt, das wieder „überraschend“ ist (Schritt 1), also nicht ein Fall der konstruierten Regel A ist, die daraufhin modifiziert (Schritt 2) und angewandt (Schritt 3) wird - und nun auch dieses „überraschende Ereignis“ erklären kann.
Alternativ könnte man dieses überraschende Ereignis auch für nicht-C-artig erklären, man belässt deshalb die Regel A wie sie ist, diese erhält damit aber keine größere Reichweite durch eine entsprechende Modifikation, die „mehr C“ umfassen kann. Dafür kann es keine Vorab-Regel geben, weil nicht logisch begründbar ist, wie man die Einheit eines Forschungsfeldes konzipieren möchte.

Reichertz: „Die Abduktion ‚schließt‘ von einer bekannten Größe [C] auf zwei unbekannte [A und C’]. Mit formaler Logik lässt sich diese Schlussfolgerung nicht begründen … Abduktive Schlussfolgerungen liefern nie Gewissheit oder Wahrheit.“ (S. 60)

Reichertz führt als Beispiel in etwas das an:
Mensch geht zum Fußball, hat keine Ahnung von den Regeln dieses Sports, hört aber den Schiedsrichter hin und wieder pfeifen [C]. Er versucht, aus diesen Pfiffen eine allgemeine Regel [A] zu konstruieren, die der Schiedsrichter für sein Pfeifen benutzt.
Nach und nach wird er selbst zum Schiedsrichter im Geiste und versucht mit Hilfe seiner konstruierten Regel die Pfiffe des Schiedsrichters [C’] zu antizipieren. Immer wenn er falsch liegt, muss er seine Regel A modifizieren und wird deshalb neue und andere Pfiffe C’ als Fälle von A erwarten … (S. 59)

Mein Zusatz: Jemand der gar keine Ahnung vom Fußball hat (also nicht die Identität des Schiedsrichters kennt), wird vielleicht auch die Pfiffe des Trainers von der Trainerbank für C-artig halten, und so ein völlig andersartiges (aber u.U. für sein ‚Verstehen‘ des Fußballspiels ebenfalls funktionierendes) Regelwerk konstruieren.

Die Abduktion zielt also auf Erweiterung des eigenen Wissens - aber auf der Grundlage von bereits vorhandenem Wissen. Die Dinge sprechen also nicht selbst, sondern das „überraschende Ereignis“ C ist bereits von vorhandenem Nicht-Wissen, als einer Form des vorhandenen Wissens, bedingt.

Dass der eine Schritt als Induktion, der andere als Deduktion erklärt wird, habe ich oft gelesen, halte es aber bloß didaktisch für sinnvoll, ansonsten aber für irreführend, weil der entscheidende Punkt die Gleichzeitigkeit der „beiden“ Schlüsse ist, insofern ist es m.E. ein abduktiver Schluss, sonst nichts.


Vorsicht:
Ich kenne die Abduktion eigentlich nur von der qualitativen Sozialforschung und aus der psychoanalytischen Forschungstheorie, möglicherweise wird sie woanders auch anders angewandt, weil sie eben eher eine Forschungshaltung als ein standardisiertes Schlussverfahren ist. Dazu kann ich leider nichts weiter beitragen, als Links wie diesen:
http://seidel.jaiden.de/peirce_eco.php

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

Nachtrag/Korrektur - Peirce

Wenn ich das richtig sehe (was aber wohl nicht richtig ist),
schliesst man bei einer Abduktion von einer Vielzahl von
Einzeltatsachen auf auf eine Hypothese, die dann wieder die
Einzeltatsachen erklärt, d.h. also letztlich eine Verknüpfung
von Induktion und Deduktion.
(Erst Induktion um zur Hypothese zu kommen, und dann eine
Deduktion um die Hypothese mit den Einzeltatsachen zu
erklären)

Dass der eine Schritt als Induktion, der andere als Deduktion
erklärt wird, habe ich oft gelesen, halte es aber bloß
didaktisch für sinnvoll, ansonsten aber für irreführend, weil
der entscheidende Punkt die Gleichzeitigkeit der „beiden“
Schlüsse ist, insofern ist es m.E. ein
abduktiver Schluss, sonst nichts.

Nur damit diese meine Schlussbemerkung zum Bezug der Abduktion auf Deduktion und Induktion nicht falsch verstanden wird…
Peirce bezieht die Abduktion natürlich selbst auf Deduktion und Induktion, und zwar folgendermaßen:

Die Abduktion ist der Entstehungsprozess einer erklärenden Hypothese. Es ist das einzige logische Verfahren, das irgendeine neue Idee einführt; denn die Induktion bestimmt einzig und allein einen Wert, und die Deduktion entwickelt nur die notwendigen Konsequenzen einer reinen Hypothese … Ihre (der Abduktion) einzige Rechtfertigung liegt darin, dass die Deduktion aus der abduktiven Vermutung eine Vorhersage ableiten kann, die durch die Induktion getestet werden kann.

(Peirce, Lectures on Pragmatism, V, 161, zitiert nach Habermas, Erkenntnis und Interesse, 145)

Zur Verdeutlichung:
Die Deduktionen, die wir auf die Hypothese gründen, die sich aus der Abduktion ergab, bringen konditionale Vorhersagen hinsichtlich unserer zukünftigen Erfahrung hervor. Das heißt, wir schließen deduktiv: wenn die Hypothese wahr ist, müssen irgendwelche zukünftigen Phänomene bestimmter Art diesen oder jenen Charakter haben. Daraufhin nehmen wir eine Reihe von Quasi-Experimenten vor, um diese Vorhersage zu testen und um so zu einer endgültigen Einschätzung des Wertes der Hypothese zu kommen; dieses letztere Verfahren nenne ich Induktion.

(Peirce, Scientific Method, VII, 115, wieder zitiert nach Habermas, loc.cit.)

–> Die Abduktion ist also mit deduktivem und induktivem Vorgehen zwingend verbunden, sie ist aber nicht eine Kombination von Deduktion und Induktion, sondern hat eigenständigen Wert.

_ ℂ Λ ℕ Ð I Ð € _

Liebe Candide!

Das hilft mir sehr weiter.
Vielen Dank für deine Antwort!
Mir kam Abduktion auch eher vor wie eine „Forscherhaltung“ als wie ein lupenreines logisches Schlussverfahren, das war der Punkt an dem es bei mir gehakt hat.

Viele Grüße!
Philipp.