Guten Tag.
das duale Bildungssystem
Unsere Gruppe ist für die Abschaffung.
Vielleicht habt ihr ja eine Meinung dazu.
Du meinst bestimmt das „duale Berufsausbildungssystem“.
Gute Gründe dagegen:
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Entgegen vieler Behauptungen ist die duale Berufsausbildung eher ein Sonderweg und „international“ überhaupt nicht „vorbildlich“. Es stellte schon bei seiner Einführung Ende des 19. Jahrhunderts einen Anachronismus dar und ist ziemlich umstritten gewesen.
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Die duale Berufsausbildung zersplittert die obere Stufe des Schulsystems und trennt dauerhaft und institutionalisiert berufliche Bildung und Allgemeinbildung voneinander. Eine Verbindung von Inhalten der Berufsbildung und der Allgemeinbildung ist auf diese Weise unmöglich, wodurch Bildung ihren optimalen Zustand (Allseitigkeit) verliert.
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Die duale Berufsausbildung befriedigt nicht die hohen Anforderungen der Industriegesellschaft; die Ausbildung ist dogmatisch ihrer vertikalen Gliederung verhaftet, engt zu sehr ein, betont die berufspraktische Komponente zu stark und vernachlässigt die theoretische Komponente. Damit verknüpft ergeben sich übertrieben lange Ausbildungszeiten, in denen jede Menge intellektueller Leerlauf auftritt, ohne daß die Ausbildungzeit im Sinne des Lehrlings mit einem durchorganisierten, ziel- und ergebnisorientierten Lernprozeß ausgereizt wird.
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Die duale Berufsausbildung produziert Fachkräfte von niedriger Disponibilität und niedriger Flexibilität.
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Die duale Berufsausbildung verursacht und forciert eine Kultur des Urkundenfetischismus, der in Deutschland extrem ausgeprägt ist; Berufsbilder und der Wert des Menschen bemessen sich nach dem Vorhandensein der Urkunde; Fertigkeiten, Fähigkeiten und insbesondere das Anwendenkönnen werden in den Hintergrund verdrängt.
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Die duale Berufsausbildung führt zu einer absurden Einstellungspolitik der Unternehmen, die in Deutschland weit verbreitet ist: Unternehmen suchen für eine Arbeitsstelle den 100% kongruenten Arbeitnehmer und vermeiden „training on the job“ wie der Teufel das Weihwasser.
usw. usf.
Ein interessanter Denkanstoß für euch und die Möglichkeit etwas anderes gegenüberzustellen:
Die duale Berufsausbildung in der DDR wurde unter Ulbricht in den 60ern abgeschafft. Das Arbeitsamt kennt heutzutage 350+ Berufe (früher weit über 1000). In der DDR hingegen wurde ein System von ~100 „Grundberufen“ erdacht, die sämtliche traditionellen Berufe enthielten und deren innerer Aufbau reformiert wurde. (Nur noch in seltenen Handgewerken wie Goldschmied oder Restaurator hielten sich klassische Berufsausbildungen.)
Der theoretische Teil in der Berufsausbildung erhöhte sich auf 50% und mehr, so daß die Facharbeiter einen festen, anwendungsbereiten theoretischen Hintergrund erhielten. Die Ausbildungsdauer betrug einheitlich 2 1/2 Jahre und die Trennung in Berufsschule und Betrieb entfiel. Ein Grundberuf deckte zehn, zwanzig oder teilweise dreißig althergebrachte Berufe ab; das 1. Lehrjahr wurde dem Diplom-Grundstudium der Universität nachempfunden, das 2. Lehrjahr dem Diplom-Fachstudium und erst im 4. und besonders im 5. Lehrsemester erfolgte die Spezialisierung auf bestimmte Berufe.
Beispielsweise ersetzte der Grundberuf „Zerspanungsfacharbeiter“ (später „Facharbeiter für Werkzeugmaschinen“) die althergebrachten Berufe der dualen Berufsausbildung Dreher, Vielstahldreher, Bohrwerkdreher, Walzendreher, Fräser, Zahnradfräser, zig Hoblerberufe, zig Schleiferberufe und integrierte die Schlüsseltechnologie CNC. Der Grundberuf schloß inhaltlich sämtliche Berufsbilder ein und bot die Spezialisierungen „Drehen“, „Fräsen“, „Bohren“, „Schleifen“ und „Hobeln“, von denen 2 vertieft beherrscht werden mußten.
Später konnte im Rahmen der Weiterqualifizierung eine weitere Spezialisierung zum Grundberuf erlernt werden Das geschah innerhalb von 6 Monaten wie vorher im 5. Lehrsemester und baute in gleicher Weise auf den grundlegenden und vertiefenden Kenntnissen der ersten vier Lehrsemester (und der beruflichen Erfahrung des Arbeiters) auf.
Disponibilität und Flexibilität heißen die Ziele;
um sie zu erreichen, muß zwangsläufig der Theorieanteil radikal erhöht werden, die Theorie muß sorgfältig und übergreifend vermittelt werden, die Spezialisierung muß spät erfolgen, der Schwerpunkt muß auf dem abstrakten, systematischen Denken, dem Anwendenkönnen und dem methodischen Vorgehen liegen.
Technologien wie elektronische Datenverarbeitung etc. wurden einheitlich in modularisierter Form in die Grundberufe eingebunden, und seine vertieften praktischen Fertigkeiten entwickelte der Facharbeiter erst im Laufe des Berufslebens und in der Weiterqualifizierung (nicht in der Lehre). Nach dem Abschluß der Berufsausbildung mit der Facharbeiterprüfung erfolgte im Betrieb eine Einweisung auf den konkreten Arbeitsplatz und mehrmonatiges „mentoring“.
Durch diese Strukturveränderungen vereinfachte sich ebenfalls der Berufswechsel, der im dualen Berufsausbildungssystem ein Problem darstellt. Die horizontale Gliederung der Grundberufe erlaubte es, Vorkenntnisse formal anrechnen zu lassen. Es wurde genau geprüft, wie die Vorkenntnissen eines Facharbeiters aussahen, und diese Inhalte - grundlegende oder verwandte Fachkenntnisse, Allgemeinbildung, gute Kenntnisse in Mathematik, Physik und Chemie - verkürzten die ohnehin relativ kurze Ausbildungszeit noch weiter auf 1 1/2 Jahre.
Wenn Du Dich jetzt von den Beschreibungen an das angloamerikanische System erinnert fühlst - richtig. Die DDR orientierte sich in der Ulbricht-Ära u.a. an Ideen des nordamerikanischen Wirtschaftsgebietes wie die „on the job“-Philosophie oder flexible, kurze Bildungsgänge. (Das Hochschulsystem wurde ebenfalls umgebaut. Doch das gehört nicht mehr zu Deiner Frage, auch wenn es sehr interessant ist.)
Nebenbei bemerkt: Der Facharbeiter genoß in der DDR ein hohes gesellschaftliches Ansehen, und die Grundberufe verfestigten dieses Ansehen. Die Facharbeiterausbildung wurde politisch als Standardbildungsweg festgelegt; die Quote/Planziffer lautete 75%, d.h. 75% eines Jahrganges gingen in die Berufsausbildung. Dies führte zu einer sehr guten personellen und materiellen Ausstattung der Betriebsberufsschulen, und im Gegenzug behielt die Erweiterte Oberschule ihre elitäre Sonderstellung. (Reifezeugnis und Studium stellten in der DDR keinen normalen Bildungsweg dar, sondern galten als Sonderweg, den nur wenige Schüler gehen durften.)
Darüber hinaus erlaubten die Grundberufe die Verschmelzung von Abitur und Berufsausbildung in der „Berufsausbildung mit Abitur“, die in der BRD nicht existierte und aus diesem Grund nach 1990 einfach abgewickelt wurde. Die BmA vereinte eine vollwertige Facharbeiterausbildung und ein vollwertiges Abitur in 3 ziemlich anstrengenden Jahren, d.h. mit 19 hatte man Abitur und Berufsausbildung in der Tasche (und als Zulassungsvoraussetzung den Schulabschluß der zehnklassigen Einheitsschule).
Noch eine Erscheinung: Im Gegensatz zum dualen Berufsausbildungssystem wurden gesellschaftlich wichtige Berufe Berufe von der Berufsausbildung ausgeschlossen. Sie mußten in Fachschulen studiert werden. (sämtliche pädagogischen Berufe, z.B. Lehrerin für die 1.-4. Klasse der Einheitsschule, Kinderkrippenerzieherin, Kindergartenerzieherin, Krankenschwester usf.)
Ich hoffe, die Einblicke helfen euch.
Tschüß
reinerlein