Hallo Angulimala!
Privates Lesen [ist] überflüssig wie ein Kropf, und
nur einer bildungsbürgerlichen Attitüde geschuldet.
Ich verstehe nicht, wie jemand, der selbst viel liest (oder besitzt Du die 1000 Bücher nur, weil’s dem Wohnzimmer gut steht?), behaupten kann, lesen sei überflüssig.
Bücher sind ein Teil der uns zugänglichen Kultur. Kaum etwas vermittelt uns die Empfindungen einer Gesellschaft so unmittelbar wie die Bücher, die sie hervorbringt. Man kann doch nicht einfach zulassen, dass ein Kind einen wichtigen Kulturzweig entweder völlig ignoriert oder, was noch schlimmer ist, als öde Pflicht empfindet. Was, bitte, hab ich denn z.B. von „1984“, wenn ich es lesen muss? Wenn ich gar nicht den Antrieb habe, in diese Welt einzutauchen?
Nun kann man natürlich argumentieren (um bei diesem Beispiel zu bleiben), 1984 könne man ebenso gut im Fernsehen sehen, es gebe schließlich eine Verfilmung. Nun gut, aber ein Film beschäftigt einen nur 2 Stunden. Mal eben für 120 Minuten in den Überwachungsstaat - darauf kann man sich schon mal einlassen. Aber nur ein Buch (von mir aus auch ein Hörbuch) lässt den Leser dauerhaft - für mindestens einen Tag - die dort beschriebene Welt erfahren. Die ist m.E. gerade bei gesellschaftskritischen Werken entscheidend.
Gegen Hörbücher ist an sich nichts einzuwenden - außer, dass man es nicht noch einmal schnell überfliegen kann. Wie schön ist es doch, wenn man eine interessante, ergreifende, verstörende oder humorvolle Passage aus einem Buch einem Freunde mitteilen kann. Wenn zwei dasselbe Buch gelesen haben (oder auch denselben Film gesehen) und sich darüber unterhalten - wie sehr kann das verbinden! Und nun versuche einmal einer, das Besondere an einem Buch hervorzuheben, wenn er’s nur gehört hat. Liest Du nicht auch von Zeit zu Zeit Deinem Gegenüber, wenn Du ihm ein Buch empfehlen möchtest, eine kurze Passage daraus vor? Das geht ja mit Hörbüchern gar nicht, da müsste man sich schon beim Hören aufschreiben, bei welcher Minute dieunddie Passage beginnt, und das macht doch niemand.
Aber das ist auch das einzige Manko, was ich bei Hörbüchern sehe.
„Normale“ Kinder brauchen keine Bücher - heute weniger, denn
je -, um sich andere Realitäten und Phantasiewelten zugänglich
zu machen,
Genau, Du sagst es: andere Realitäten und Phantasiewelten - nicht die eigenen! Wenn ich Jules Vernes „Ein Kapitän von fünfzehn Jahren“ lese, dann male ich mir meinen eigenen Atlantischen Ozean, meinen eigenen Regenwald mit ganz charakteristischen Lauten, Gerüchen und Farbnuancen. Der Kapitän hat die Züge, die ich ihm verleihe, und einen Tonfall, eine Stimme, die genau zu ihm passt.
Wenn ich dasselbe als Hörbuch höre, gehen mir zumindest Tonfall und Stimme verloren. Auch die Laute des Regenwalds und des Atlantiks können schon vorgegeben sein.
Im Fernsehen oder Kino (wobei ich nicht weiß, ob eine Verfilmung existiert) ist dann alles nur noch ein Produkt anderer.
Und wenn man denn wenigstens unabhängig von Literatur noch kreativ sein könnte - aber heutzutage müssen ja viele Eltern erst in einem Ratgeber lesen, dass sie ihren Kindern auch Papier und Stifte bereitlegen sollten, bevor sie dies tun. Ich kenne Kinder, die nur fertiges Spielzeug haben, nicht einmal Lego Duplo oder einen anderen Baukasten.
Als ich klein war, war es beinahe unmöglich, im Herbst Kastanien auf der Straße oder auf dem Hof zu finden, wenn man nicht um 8 Uhr früh aufstand - denn danach waren alle schon von den anderen Kindern aufgesammelt. Teilweise hatte ich Vorräte von 60 Kastanien, die es zu verbasteln galt. Heute liegen die Kastanien überall in der Gegend rum, und in Familien mit Kindern sehe ich maximal ein Kastanienmännchen irgendwo rumstehen. Also auch außerhalb von Literatur keine Kreativität!
Spaß zu haben, glücklich zu sein
OK, dazu braucht man wahrlich keine Bücher
und sich prächtigst - auch intellektuell - zu entwickeln.
Das sehe ich schon kritisch. Gerade Sozialkritik (soll sie konstruktiv und nicht nur auf Alles-ist-scheiße-Niveau geübt werden) wird durch das Lesen der entsprechenden Literatur besser geschult als auf anderem Wege.
Man sollte sich damit abfinden, dass einige Kinder gerne lesen
und andere nicht. That’s life!
Na ja, was heißt: Man sollte? Man muss letzten Endes. Mehr als anbieten kann man nicht. Aber wer keine Literatur (oder zumindest keine, die den Interessen des Kindes entspricht) anbietet, der erzieht zur Unmündigkeit, weil er dem Kind eine Entscheidung abnimmt: Lesen lohne sich nicht.
(Nein, ich glaube nicht, dass Du Deinen Kindern nicht die richtigen Bücher angeboten hast, da Du ja selbst offenbar gern liest. Dein Beitrag las sich nur so, als sei es überhaupt nicht Pflicht der Eltern, ihren Kindern das Lesen nahezubringen zu versuchen.)
Sorry, aber was hat privates Lesen bzw. der Wunsch, sich zu
Hause irgendwelche Bücher reinzupfeifen, mit der Schule zu
tun?
Im Allgemeinen wirkt sich Lesen positiv auf die Rechtschreibung aus, weil man dadurch einen Blick dafür bekommt, was „richtig aussieht“ und was so nicht stimmen kann, weil’s „komisch aussieht“. (Viele Menschen schreiben Wörter erst einmal auf, bevor sie entscheiden, wie sie richtig geschrieben werden.)
Zugegebenermaßen ist dieser Effekt zur Zeit etwas nivelliert dadurch, dass die meisten Bücher noch in alter Rechtschreibung erhältlich sind, während in der Schule die reformierte Rechtschreibung verlangt wird. Gegenwärtig haben deshalb sogar die nicht-lesenden Kinder einen Rechtschreibvorteil, aber das wird sich in einigen Jahren schon wieder eingerenkt haben.
Liebe Grüße
Immo