Wahre Transformation geht nur auf breiter Front
Hi Anthro.
Ich weiß deine Fragestellung wirklich zu schätzen. Viktors Einwand ist aber nicht ganz unverständlich: du sprichst hier, abgesehen von wenigen Ausnahmen (zu denen ich nicht gehöre), keine Philosophie- und Kunsttheorieprofis an, sondern interessierte Amateure und Laien. Daher bedürfte es für deine Fragestellung bei den allermeisten LeserInnen eine Übersetzung ins Allgemeinsprachliche. Ich versuche einen Brückenschlag, weil das Unmögliche nun einmal meine Passion ist.
Was ist Kunst und ihre Bedeutung für die individuelle
menschliche Bewusstseinsentwicklung und die allgemeine
Kulturentwicklung?
Das ist deine Frage, sie ist klar formuliert. Soweit ok.
Ihr eigentliches Anliegen ist elementar: gegenwärtige Existenz.
Mit anderen Worten: In der Kunst geht es um das Schaffen eines
aktuellen und bis ins Einzelne durchgestalteten gegenwärtigen
Kosmos…
Betrachten wir dieses „eigentliche Anliegen“ etwas genauer.
Ich muss dabei was vorausschicken: Ich selbst bin Künstler (Musik, Malerei, Drehbücher), du vermutlich ein Kunsttheoretiker. Das ist wie der Unterschied zwischen „ficken“ und „kopulieren“. Das Problem ist nämlich, dass Kunsttheoretiker in Kunstwerke gerne Dinge hineininterpretieren, die der Künstler selbst überhaupt nicht bewusst hinein-gestaltet hat. Die meisten Künstler, wiewohl in der Regel nicht theoriefeindlich (ich bin es nicht) sind in der PRAXIS aber sehr spontan und ohne besondere Reflexion auf die Kontexte, sie sind jedenfalls sehr viel weniger auf theoretische Kontexte bedacht als akademische Kunsttheoretiker, deren Job es ja ist, Kunst und Theorie miteinander zu verbinden und darüber kluge Bücher zu schreiben. Ich glaube, es war Picasso, der sich einmal den Scherz erlaubte, irgendein völlig sinnloses Bild zu malen, und es dann den Kunsttheoretikern präsentierte, die die unglaublichsten Betrachtungen darüber anstellten, was sich Picasso dabei alles gedacht hatte.
Das nur am Rande. Ich will damit deine Fragestellung nicht entwerten, sie ist wichtig.
Dadurch wird
Vergangenes transformiert und Zukünftiges ermöglicht, aber
nicht vorausgenommen. Ihre Bedeutung für die Zukunft schöpft
sich allein aus ihrer Vollendung in der und für die Gegenwart.
Nun, ich denke, dass Zukünftiges sehr wohl „vorausgenommen“ werden kann. Nehmen wir die Romane von Henry Miller: sie gelten als frühe Boten der sexuellen Revolution. Das geht über Ermöglichung hinaus, denn diese Entwicklung, die in der 60ern einsetzte, MUSSTE irgendwann kommen. Miller hat sie ermöglicht UND vorausgenommen. Der Unterschied zwischen Zukunft und Gegenwart ist in der modernen Kunst ohnehin kaum realisierbar: sie ist meistens ein Vorgriff auf künftige Entwicklungen, Künstler sind Visionäre, ihre Visionen sehen in der Gegenwart das, was innerhalb dieser Gegenwart noch mangelhaft, keimhaft oder verborgen ist, aber kommen SOLLTE - um den Horizont der Menschen zu erweitern.
Das also wäre MEINE Definition guter Kunst: sie ist Bewusstseinserweiterung mit den Mitteln künstlerischer Symbolik.
Wenn es handelnden Menschen
im allgemeinen gelingen wird, was Menschen als Künstler und
Künstlerinnen im besonderen in individueller Vielfalt und im
umgrenzten Rahmen schaffen, nämlich zartfühlend mit dem
Gegebenen, mit der Vergangenheit umzugehen…
Das mit dem „zartfühlend“ solltest du schnell vergessen. Da spürt man bei dir den Theoretiker. „Sensibel“ wäre ok. Künstler aber, die „zart fühlen“, werden sich auf dem Markt nie durchsetzen. Hier ist letztlich Härte gefragt. Bekanntlich schätzen Frauen Zärtlichkeit nur dann wirklich, wenn sie von starken Männerhänden kommt (abgesehen von „I kissed a girl“ - Varianten, die auch ok sind).
und sie dennoch durchgehend, Ideen- und tatkräftig zu transformieren, neu zu ordnen,
Ja, die Künstler, wie auch die Wissenschaftler, stehen immer auf den Schultern vorausgehender Generationen, das wissen sie alle sehr gut, und ihr Job ist es, aktuelle Einflüsse aus anderen Sparten (Philosophie, Naturwissenschaft usw.) aufzunehmen und in ihr Schaffen einzubringen. Nur so ist Fortschritt möglich.
dann kann vielleicht der Kunst eine bahnbrechende,
eine einen «ästhetischen Freiraum» schaffende Rolle für die
Kulturentfaltung zukommen.
Ja, aber sie kann nicht die GANZE Arbeit machen. Kunst schafft eine Symbolwelt, die unterhält und womöglich auch inspiriert, die aber nie und nimmer Nicht-Künstler TRANSFORMIEREN kann. Und um diese Transformation scheint es dir doch zu gehen. Ich denke, dieser Prozess muss auf breiterer Front angegangen werden: Politik, Erziehung, Kunst, Philosophie, spirituelle Praxis. Das sind die relevanten Fronten (habe ich eine vergessen?)
So wird Kunst zum Pionier für eine ästhetisch
durchgestalte Lebenswelt für freie Menschen.
Ich denke, die wahren Pioniere sind die Philosophen. Mit denen verbünden sich dann die Künstler, die Politiker usw. Bis das alles dann mal beim Normalmenschen landet, das kann dauern. Noch einige Tausend Jahre.
Minimum.
Gruß
Horst