Albtraummusik

seinerzeit in Storys veröffentlicht, hier wiederholt zum Genusse der musikalischen Gemeinde.

Gruß kw

Dem Redakteur einer Betriebszeitung obliegt es hin und wieder, über Ereignisse innerhalb des Dunstkreises des Unternehmens zu schreiben, die mit dessen eigentlichem Daseinszweck wenig oder nichts zu tun haben. So auch in diesem Falle, als ich ausersehen ward, ein, wie sich der Chefredakteur auszudrücken beliebte, „kulturelles Ereignis besonderer Wertigkeit“ durch meine Anwesenheit zu beglücken.
Also geschah es : an einem stürmischen Abend Anfang Dezember. Das komfortable, hauseigene Mobil hatte mich ohne größere Blessuren durch den Glatteisparcours der Schwäbischen Alb transportiert, als ich in einer Ortschaft mit „-ingen“ gegen 18 Uhr, also eine Stunde vor Beginn der Kultur, eintraf. Dem Augenschein nach handelte es sich bei der heute stattfindenden Veranstaltung um das größte dörfliche Ereignis, seit das Baby in den Trog gefallen war und vom Schwein gefressen wurde. Jedenfalls überbot sich der Schankwirt selbst : es gab Maultaschen und – Krabben. Deren natürliche Reviere auf den Höhen der Alb sind eher begrenzt, so daß ich nicht umhin konnte, zu staunen. Jedenfalls : eine unübliche, aber durchaus nicht unschmackhafte Erfrischung.
Das Programm des Abends, von hochrangigen Managern des Hauses inszeniert, stand unter dem Motto „Zwiegespräch mit Beethoven“, wobei sich ein Quartett, bestehend aus drei Musikern, als die eine Seite der Konversation herausstellte. Die instrumentale Besetzung Klavier, Cello und Klarinette war ebenfalls noch nichts völlig aus dem Rahmen Gefallenes, und so harrte ich dann der Dinge, die mich erwarteten, derweil draußen der letzte Fluchtweg unter weißer Pracht zu verschwinden sich größte Mühe gab.
Die Laudatio hielt der Gönner des Abends selbst, wobei er das Wort Laudatio so betonte wie den gleichnamigen, ohrlosen Rennfahrer. Dass er die Künstlernamen der drei Musiker – die in einer Art Über-Französisch hätten ausgesprochen werden sollen – leicht einschwäbelte, konnte aufgrund dessen nicht sonderlich überraschen.
Das „Zwiegespräch“ begann – mit einer Dissonanz, die Kaiser Nero hervorragend zum Foltern verstockter Christen hätte benützen können. Offensichtlich erforschten alle drei Musiker die Atonalität und bereicherten sie an diesem Abend um neue Spielarten – wie Roma-Dur, Tesa-Moll und Makula-Dur. Ich hörte in meinem Inneren die letzte Krabbe geräuschvoll ihre Maultasche hinter sich zuklappen und war fortan dem akustischen Äquivalent eines hochnotpeinlichen Verhörs schutzlos ausgeliefert. Die Mehrzahl der Zuhörer im Saale waren, wie ich, Brillenträger und konnten somit das Beschlagen ihrer Sehhilfen mit gleicher Intensität verfolgen. Auf aller Lippen formte sich der gleiche Laut – das hingebungsvolle „Uuuuhhhh“, mit dem der Unbekannte Soldat seinerzeit seinen finalen Bauchschuß kommentierte. Nein, nicht aller Lippen : der Verantwortliche, besser gesagt, Unverantwortliche für das Spektakel lehnte sich, zufrieden lächelnd und offensichtlich stocktaub, in seinem Sessel zurück.
Beethoven, der ja in seinen späten Lebensjahren ein Gehörleiden gehabt haben soll, wird sich vermutlich selten an diesem so erfreut haben wie anläßlich dessen, was ihm das geschwätzige Ensemble hier an Konversation bot. Allein - zu Wort kam er bei dem Zwiegespräch kaum, und so vermute ich, daß es ihm die Sprache verschlagen hatte. Taubstumm und tot – oder anwesend an diesem Abend? Eine schwierige Wahl! Derweilen steigerten sich die Darbietungen der Künstler vom Absonderlichen ins Unfaßbare, und ich erlebte nochmals die Palette aller Gefühle durch, die ich seinerzeit erlitt, als das Waisenhaus abbrannte.
Die zweite Hälfte des atonalen Schauerromans fand in meiner Abwesenheit ihren unheilvollen Fortgang; ich begnügte mich mit dem wesentlich harmonischeren Genuss einer Flasche Scheurebe im Inneren der vollständig verschneiten Karosse meines bestirnten Transportmittels, wobei der Wirtsleute Katze, als profunde Musikkennerin, mir mezzoforte schnurrend Gesellschaft leistete. Als das Schneetreiben endete und ein Stück des Winterhimmels sichtbar wurde, gewahrte ich den Schweif eines Kometen, eines jener Himmelskörper, die oft Jahrtausende brauchen, um ihre Bahn zu vollenden und zurück zur Erde zu kommen.
„Wie nun“, kam es mir in den Sinn, „wenn dieser Komet Beethoven in seiner Sphäre, von der wir nichts wissen, eine digitalisierte Aufnahme der heutigen Kunstdarbietung überbrächte? Käme dann in zwei-, vielleicht dreitausend Jahren eine Antwort des Komponisten?“.
Es ist eine Beruhigung für mich, daß ich die Antwort Beethovens nie erfahren werde, denn, wie ich hörte, neigte der geniale Komponist, auch aufgrund seines Leidens, sehr zum Jähzorn. Um ihn zu besänftigen, weihte ich ihm und dem Kometen die Flasche Scheurebe, sowie den Chefredakteur nie in die wahren Hinter-gründe des kulturellen Genusses ein, der mir an diesem Abend zuteil wurde. Er fuhr im nächsten Jahre hin und ist seitdem weit weniger an der hausinternen Kulturförderung interessiert.