Alter und Freitod

Hallo,

wenn ich genauer hinschaue, stelle ich fest, dass ich eigentlich alle Leute 60+ in unserem Umfeld, so sie einen gewissen Bildungsgrad haben, mit dem Thema Freitod auseinandersetzen. Niemand möchte abhängig sein, niemand möchte, dass andere über sein Leben verfügen und auch nicht über sein Sterben, in dem sie es bei einem hilflosen Menschen um des Umsatzes willen oder aus Angst vor Haftung verzögern.

Jeder dieser älteren Menschen in unserem bekanntenkreis dreht dazu seine eigenen Gedanken, Vorsorge zu treffen, um sich im zweifelsfall einem unwürdigen Ende entziehen zu können. Das Thema wird zunehmend offener angesprochen - was ich erstaunlich finde.

Gleichzeitig wird das Thema groß in vielen medien debattiert, oft illustriert mit gruseligen Geschichten schiefgegangener Freitodversuche und Szenen elenden Sterbens. Da ich schon häufig festgestellt habe, dass das Medienbild eben ein Bild - also nur eine Darstellungsmöglichkeit von unendlich vielen - ist, möchte ich mich gern in anderen Quellen schlau machen. Schließlich werde auch ich wohl irgendwann in eine Lebensphase kommen, da ich gern wüsste, wo die „lezte Tür“ ist, durch die ich selber gehen kann.

Gibt es / kennt jemand seriöse Literatur und Internetseiten zum Thema?

danke, dalga

Hallo dalga,
irgendwann kann man sich nicht mehr über die Angst vor Krankheit, Schmerzen und Tod hinwegtäuschen, denn den Kampf gegen das Alter verliert jeder, das sehe ich an meiner Mutter, sie ist fast 90 Jahre und bedarf nun mehr und mehr der Hilfe. Und es ist nur eine Frage der Zeit, bis eine ihrer Gebrechen lebensbedrohlich wird.
Letztes Jahr war sie noch so klar, eine Patienten-Verfügung zu machen, denn sie möchte in Würde sterben, am liebsten bei klarem Verstand, so wie ich auch, da sind wir uns so einig, wie nur Mutter und Sohn einig sein können.
Leider sind viele Menschen im Alter eigensüchtig, eigensinnig und verstockt in dem Sinne, dass sie nur sich und ihre Erfahrung gelten lassen und allein auf Grund ihres Alters Achtung einfordern - Weisheit im Alter findet da nicht statt, sie vertrocknen geistig, sind umnachtet in sich versunken und kein barmherziger Gott ist da im Hintergrund, der liebvoll über sie wacht, mal abgesehen davon, dass oft auch eine gesellschaftliche Ausgrenzung „der Alten“ dieser Situation Vorschub leistet.
Okay, Frauen begnügen sich noch eher damit, „nur“ am Leben zu sein. Männer wollen in der Regel mehr, wenn bei ihnen der Ofen aus ist, also die Sexualität nicht mehr das Leben gegen den Tod kämpft oder sie spüren, sie werden nicht mehr gebraucht, wollen sie den stetig wärenden Widerstand, den das Lebens fordert, nicht mehr ertragen; das eigene Leben ist nicht mehr wertvoll, sondern wird zur Qual. Natürlich sollten wir nicht mit dem Tod spielen, er ist die einzige Gerechtigkeit im Leben.
Ich finde es daher als Gnade, als heroischen Tat, dass wir bewußt Suizid* begehen können, der freie Wille ist „der höchsten Ausdruck selbst bestimmten Lebens“, auch, wenn dieser Wille eine durch gesellschaftliche Determinanten geprägte Lebenseinstellung sein mag. Mut ist der Preis, den das Leben verlangt.
Mit lebendigen Grüssen

*„Suizid“ – „sua manu cadere“, bedeutet etwa „von eigener Hand fallen“.

[MOD: Überflüssiges Vollzitat entfernt]

Jeder bewußt lebende Mensch hat sicher Angst nicht mehr autark in seinen Handlungen zu sein. In unserer Gesellschaft spricht man von dem mündigen Bürger und verwehrt zugleich seine Entscheidungsfreiheit–wir müssen nicht die Tötungsmaschine von Herrn Kusch als Beispiel nehmen aber auch diese Variante ist ein Auswuchs der gesellschaftlichen Meinung–die leider immer von den selben Gutmenschen oktroiert wird.

Grüße rhh

Hallo Dalga,

es wäre natürlich nett, wenn jeder eine Zyankali-Kaspel im Nachtschrank haben dürfte…

Ich habe mir vor Jahren mal ein Formular zu einer Patientenverfügung ausgedruckt. Für mich war sooo klar, dass ich unter bestimmten Umständen nicht mehr leben wollte. Tja, und dann las ich die gesamten Eventualitäten und wurde mir unsicher. Und Folgendes hat mir zu denken gegeben:

Es ist eine kleine Geschichte über meinen Vater - ein sehr stolzer Mann, der über 35 Jahre das Sagen auf Öltanker hatte - ein Sturkopf dazu.

Im Jahre 2002 war ich zu Besuch bei einen Eltern. Meine Mutter war im Urlaub, da erzählte mir mein Vater, der damals recht gern auch einen getrunken hat, wie schön doch der Tod sein müsse. Er wolle niemals leiden - geschweige denn auf die Hilfe anderer angewiesen (schwach) sein.

Kurz danach wäre er fast an einem Magendurchbruch krepiert. Noch mal gut gegangen. Der Herr erblickte auf einmal eine neue Chance, trank keinen Alkohol mehr, ernährte sich regelmäßig und gesund. 2004 (meine Mutter war wieder unterwegs und ich bei meinen Eltern, um mich um meinen Vater zu kümmern): Er weckte mich früh morgens, an einem Sonntag, und meinte, er bekäme keine Luft mehr. Ich sofort den Rettungswagen gerufen…7 Bypässe auf ein Mal. Bei der OP wäre er fast draufgegangen. Danach folgte eine lange Reha. Mein Vater stellte noch einmal sein Leben um - und hörte auf zu rauchen! Er hasste Ärzte, aber er ließ die Behandlungen zu…er kämpfte. 2005: Ein bösartiges Melanom wird meinem Vater entfernt - die Achsen-Lymphknoten ebenfalls - er lässt alles über sich ergehen und will LEBEN. Er denkt an seinen Garten, der bestellt werden muss, und plant Ausbauten am Haus. Februar 2006: Der Hautkrebs hat gestreut: Lungenkrebs. Mein Vater kämpft weiter, willigt in eine Chemo ein…Winter 2006: Die Ärzte brechen alle Behandlungen ab! Mein Vater führt sein Leben fort, steht jeden Tag früh auf, geht in seinen Garten etc., aber er raucht wieder und gönnt sich täglich Rotwein…eines Tages wollte er nicht mehr aufstehen. Nach vier Tagen stand er auf und konnte kaum mehr laufen. Auch sein Orientierungssinn funktionierte nicht mehr. Aber er sagte: „Ich muss doch alleine laufen - ich muss trainieren!“ Dann ging alles sehr schnell. In der letzten Woche war er überhaupt nicht mehr ansprechbar. In diesen Momenten hätte ich gern eine Zyankali-Kapsel besessen…Aber wenigstens konnten wir ihm einen Wunsch erfüllen: Er wurde nicht an Schläuche gelegt und konnte zu Hause sterben. Aber erst, als ich ihm am Abend vor seinem Tod (kurz vor seinem 70. Geburtstag) sagte, er möge doch jetzt bitte gehen, ist er gegangen. Er hat die ganze Zeit gekämpf, obgleich er genau so einen Zustand nie wollte.

Was ich damit sagen will? Es sagt sich immer so schnell, dass man seinem Leben dann und dann ein Ende setzte, aber mein Vater hat mir gezeigt, dass in solchen lebensbedrohlichen Momenten anscheinend ganz andere Mächte walten…und dann ist man irgend wann nicht mehr in der Lage, über den Moment seines Todes selbst zu bestimmen.

Das nur als Denkanstoß - sorry, dass dieser mit einer etwas umfangreicheren Geschichte verknüpft war.

Viele Grüße

Kathleen