Liebe Experten,
ich bin wirklich ratlos! Als bisher überzeugter und ob des zarten Alters von 26 erst zweimaliger Grünen-Wähler (gemeint sind hier nur Bundestagswahlen) hätte ich mir noch vor wenigen Wochen kaum vorstellen, einmal in eine solche Situation zu geraten, doch nun ist sie da:
Ich weiß nicht, ob ich noch hinter dieser Partei stehen kann.
Freilich habe ich zwei Jahre Zeit, mir das genau zu überlegen, bevor ich wieder meine Stimme abgebe, aber es kann ja nicht schaden, mit dem Meinungsbildungsprozess möglichst früh zu beginnen.
Apropos „beginnen“: Es begann mit den einschneidenden Sozialreformen der rot-grünen Koalition. Im Großen und Ganzen vertrat ich stets und vertrete ich vom Prinzip her auch immer noch die Meinung, dass viele Wähler es sich mit ihrer Kritik zu leicht machen. Zum einen kann man schwerlich der Meinung sein, tiefgreifende Reformen seien notwendig, wenn der Staat nicht in wenigen Jahren untergehen soll (und die Mehrheit der Deutschen sieht eine solche Notwendigkeit doch), wenn man dann andererseits aber protestiert, sobald die Reformen wirklich angegangen werden. Zum anderen ist es meines Erachtens aberwitzig, gegen Sozialabbau zu protestiern und daher die Stimme künftig lieber der CDU/CSU oder FDP geben zu wollen, die überhaupt gar keinen Geheimnis daraus machen, dass ihre Vorstellungen ungleich härter sind. Mir ist klar, dass Deutsche tradtitionell eher bürgerlich-konservativ sind, trotzdem finde ich den Gang von Rot-Grün zu Schwarz-Gelb zumindest in Hinblick auf das Argument, Rot-Grün betreibe zu starken Sozialabbau, absurd.
Aber: Das heißt noch lange nicht, dass ich auf jeden Fall „grün bleibe“. Da es für mich andererseits aber auch nicht in Frage kommt, gar nicht zu wählen - dafür schätze ich die Errungenschaft der Demokratie viel zu sehr -, stellen sich mir zwei Fragen:
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Kann ich eine Partei, die diese Reformen mitzuverantworten hat, überhaupt noch wählen? Schwierig ist die Antwort vor allem deswegen, weil ich letztlich nicht en detail beurteilen kann, welche Auswirkungen die Reformen denn im Einzelnen haben.
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Wenn ich auf 1. mit Nein antworte, wie um alles in der Welt soll dann die Alternative aussehen? Ich frage mich ja inzwischen, ob ich PDS wählen könnte. Zu Recht schreibt diese Partei auf ihrer Homepage aber gerade, es solle der PDS zu denken geben, dass trotz massiver Kritik an Rot-Grün so wenige Wähler die PDS als möglich Alternative in Betracht ziehen (selbstkritische Einstellungen sind mir übrigens sympathisch).
Mir ist schon klar, dass die PDS mit der SED im Grunde nicht mehr viel zu tun hat; gleichwohl bleibt sie die Nachfolger-Partei und profiliert sich ja selbst auch immer wieder als Ost-Partei, die insofern schon bemüht scheint, alte Anhänger eines „real existierenden Sozialismus“, also eines Unrechtsstaates, zu bedienen. Und bei aller Liebe, die ich für sozialistische Ideen habe, in Frage käme für mich - das ergibt sich aus dem, was ich oben schrieb, bereits - ja nur ein wirklich demokratischer Sozialismus und nicht das, was wir in der DDR wirklich erlebt haben bzw. was ich als „Wessi“ Gott sei Dank nicht selbst erleben musste.
Ich bin, wie Ihr seht, ratlos und würde mich freuen über viele sachliche Beiträge dazu. Am meisten übrigens von Leuten, die entweder selbst Grün gewählt haben, oder solchen, die das auch jetzt noch tun würden oder wie ich nicht mehr wissen, was sie tun sollen. Oder anders gesagt: Ein traditioneller Christdemokrat oder Liberale ist vielleicht einfach nicht derjenige, der sich genügend in meine Sicht der Dinge hineindenken kann resp. will…
Levay