Althusser

Hallo, Ben,

ich lese von Dir:

Althusser ist derjenige, den ich als meinen „Lehrer“
bezeichnen würde, das heißt: ich bin nicht sein Papagei, aber
dezidiert ein Althusserianer…

und möchte deshalb eine Frage an Dich stellen.
Althusser begann, soweit ich weiss, als Feuerbach-Forscher.
1965 gab er die Entdeckung der coupure
épistémologique
in der Entwicklung von Marx,
genauer: bei dessen Ablösung von Feuerbach und Konzeption des
historischen Materialismus, bekannt.
Diese Entdeckung hatte allerdings sein Kollege Henri Arvon,
ebenfalls ein französischer Feuerbach-Forscher und Althusser deshalb
mit Sicherheit nicht unbekannt, bereits 1951 gemacht.
Arvon hatte als entscheidendes Ereignis für Marx’ coupure
allerdings Stirners Buch »Der Einzige und sein Eigentum« (1845)
festgestellt.
Althusser geht in »Pour Marx« und, soweit ich weiss, auch später
weder auf Arvon noch auf Stirner ein.
Erst in »Elemente der Selbstkritik« fand ich einen - allerdings
ziemlich kryptischen - Hinweis, der vermuten lässt, dass Althusser
Arvons These kannte: Stirners »Einziger« und Marx’ »Sankt Max« seien
Texte, „denen es nicht an einer gewissen Pikanterie fehlt.“ Man werde
als Marxist wohl nicht darum herumkommen, sich eines Tages zu Ihnen
zu äussern…

Meine Frage an Dich als Kenner wäre nun:
Sind Dir Äusserungen Althussers - in entlegeneren Publikationen oder
unveröffentlichten Papieren - bekannt, in denen er zu der umrissenen
Problemstellung deutlicher wird ?

Grüsse
Nescio

Hallo Nescio,

Althusser begann, soweit ich weiss, als Feuerbach-Forscher.

Nein, nicht ganz; er begann in den späten 40er Jahren als Hegel-Forscher bei Bachelard (er war auch sehr eng befreundet mit dem Hegel-Übersetzer Jacques Martin) und war zu dieser Zeit im übrigen noch stark im Katholizismus verwurzelt;

auf dem Weg von Hegel zu Marx, er trat 1948, also mit 30 Jahren relativ spät, der kommunistischen Partei bei, ist er selbstverständlich Feuerbach begegnet.

1960 übersetzt er Texte Feuerbachs und gab diese mit Hyppolite als Feuerbachs „Manifestes Philosophiques“ heraus.

Ebenfalls 1960 schrieb er den ersten jener Artikel, die 1965 dann kompiliert als „Pour Marx“ erschienen.

Dies legt die Vermutung nahe, dass die Übersetzung Feuerbachs 1960 Höhe- und Endpunkt der Alhusser’schen Beschäftigung mit ihm war.

(abgesehen davon, dass er 1967 eine etwa 100-seitige Schrift „Sur Feuerbach“ verfasst hatte; sie erschien erst im Nachlass)

1965 gab er die Entdeckung der coupure
épistémologique
in der Entwicklung von Marx,
genauer: bei dessen Ablösung von Feuerbach und Konzeption des
historischen Materialismus, bekannt.

Nein, er führt den Begriff meines Wissens im April 1963 in der Schrift „Sur la Dialectique Materialiste“ ein, und beruft sich dabei explizit auf die zentrale Verwendung dieses Begriffes bei seinem Lehrer Bachelard.

Meine Frage an Dich als Kenner wäre nun:
Sind Dir Äusserungen Althussers - in entlegeneren
Publikationen oder
unveröffentlichten Papieren - bekannt, in denen er zu der
umrissenen
Problemstellung deutlicher wird ?

In den publizierten Schriften Althussers kenne ich keine diesbezügliche Äußerung (zumindest keine, die so umfassend gewesen wäre, dass ich sie mir hätte merken können), abgesehen natürlich von vereinzelten Verweisen auf Stirner und andere unter der Rubrik „petits-bourgeois intellectuels gegen die Marx sich wenden musste“.

Im Nachlass gibt es eine Schrift „La Querelle de l’Humanisme“, in der sich ein Hinweis findet;

Althusser verweist auf Stirners „Der Einzige und sein Eigentum“ als „wichtiges Ereignis zwischen den Pariser Manuskripten 1844 und der Deutschen Ideologie 1845“ und sagt, dass Stirners „formelle Anklage“ gegen Feuerbach, dieser habe einfach Gott duch den Menschen ersetzt und sei so nicht über die Religion hinausgekommen, auch auf Marx gewirkt hätte: „cette accusation toucha profondément Marx et Engels“ (der Herausgeber verweist an dieser Stelle auf die „Deutsche Ideologie“).

Von diesem genannten Ereignis sagt Althusser, dass nur „rares spécialistes ont apprécie l’importance“ und verweist mit einer Fußnote (Althussers Fußnote, nicht die des Herausgebers!) auf Arvons Werk „Aux sources de l’existentialisme: Max Stirner“)

Quelle: Althusser, Ecrits philosophiques et politiques, Tome II, p. 494

Ansonsten findet sich in den beiden Nachlass-Bänden, die mit einem ausführlichen Personenregister ausgestattet sind, kein Hinweis mehr auf Arvon, und kein bedeutsamer mehr auf Stirner.

Ich hoffe, ich konnte Dir weiterhelfen!

Viele Grüße
franz

Hallo Nescio,
[…]
Ich hoffe, ich konnte Dir weiterhelfen!

Kontest Du.
Vielen Dank.
Nescio

Hallo Ben,

Meine Frage an Dich als Kenner wäre nun:
Sind Dir Äusserungen Althussers - in entlegeneren
Publikationen oder unveröffentlichten Papieren - bekannt, in denen
er zu der umrissenen Problemstellung deutlicher wird ?

In den publizierten Schriften Althussers kenne ich keine
diesbezügliche Äußerung…
Im Nachlass gibt es eine Schrift „La Querelle de l’Humanisme“,
in der sich ein Hinweis findet;

Althusser verweist auf Stirners „Der Einzige und sein
Eigentum“ als „wichtiges Ereignis zwischen den Pariser
Manuskripten 1844 und der Deutschen Ideologie 1845“ und sagt…

ich sehe dort: " petit événement",
was doch ironisch gemeint sein muss,
wenn man die Bedeutung in Betracht zieht, die jenes Ereignis
sowohl für Marx als auch für Althusser hatte.
Er sagt dann ja auch selbst:

dass Stirners „formelle Anklage“ gegen Feuerbach … auch auf Marx
gewirkt hätte:
„cette accusation toucha profondément Marx et Engels“…

Von diesem genannten Ereignis sagt Althusser, dass nur „rares
spécialistes ont apprécie l’importance“ und verweist mit einer
Fußnote (Althussers Fußnote, nicht die des Herausgebers!) auf
Arvons Werk „Aux sources de l’existentialisme: Max Stirner“)

Auch hier klingt mir ein ironischer Ton durch, dessen Deutung
nicht einfach ist (Arvon hätte ihn wohl verstanden).
Ich finde, es wäre - eingedenk des Rangs der coupure-These
in A.s Werk - Genaueres am Platze gewesen als nur eine verquälte
Fussnote in einem unveröffentlichten Typoscript.

Arvon hat nicht nur in jenem Buch von 1954 speziell zu Althussers
(späterem) Thema ein Kapitel »Saint Max« geschrieben, sondern schon
vorher jenes „petit événement“ ins rechte
ideengeschichtliche Licht zu setzen versucht:
»Une polémique inconnue: Marx et Stirner«, ds. Les Temps
Modernes, no. 71, 1951, pp.509-536.
Kaum vorstellbar, dass Althusser dies nicht kannte.
In den pour-Marx-Artikeln aber nicht die kleinste Andeutung
dazu, was denn Marx so profondement touchiert hat, dass er…s.o.
Mein Eindruck: A. „mauerte“. Aber warum ?
Weiter: warum hat ihm diesen Vorwurf in den Debatten über
die coupure niemand gemacht (ausser Arvon, der aber, soweit
ich sehe, damit nicht durchdrang) ?

Grüsse
Nescio

Hallo Nescio,

ich sehe dort: " petit événement",
was doch ironisch gemeint sein muss,
wenn man die Bedeutung in Betracht zieht, die jenes Ereignis
sowohl für Marx als auch für Althusser hatte.

Im Sinne von „kleine Ursache, große Wirkung“ wäre es nicht-ironisch gemeint;

klar ist ja auf jeden Fall, dass diese „Wirkung“ sich in Marx’ Denken vollzogen hat, Stirner für Althusser deshalb bloß ein Anstoßgeber (neben anderen) war (für die coupure gibt Althusser eine Vielzahl von Ursachen an!)

Ich finde, es wäre - eingedenk des Rangs der
coupure-These
in A.s Werk - Genaueres am Platze gewesen als nur eine
verquälte
Fussnote in einem unveröffentlichten Typoscript.

Arvon hat nicht nur in jenem Buch von 1954 speziell zu
Althussers
(späterem) Thema ein Kapitel »Saint Max« geschrieben, sondern
schon
vorher jenes „petit événement“ ins rechte
ideengeschichtliche Licht zu setzen versucht:
»Une polémique inconnue: Marx et Stirner«, ds. Les Temps
Modernes, no. 71, 1951, pp.509-536.
Kaum vorstellbar, dass Althusser dies nicht kannte.
In den pour-Marx-Artikeln aber nicht die kleinste Andeutung
dazu, was denn Marx so profondement touchiert hat, dass
er…s.o.

Die Frage wäre, wieviel Althusser in der Frage der coupure Arvon „schuldet“;

wie im letzten Posting bereits gesagt, nimmt Althusser das Konzept einer coupure epistemologique von Bachelard und die Datierung „früher Marx/später Marx“ mit dem Bruchpunkt 1845 („Deutsche Ideologie“) ist ja auch bereits lange vor Arvon und Althusser gegeben bzw. von Marx selbst schon gegeben.

Von daher finde ich es relativ unbedeutend für das Projekt Althussers, dass Arvon diese coupure an Stirner bzw. an Marx’ Stirner-Rezeption festmacht.

Mein Eindruck: A. „mauerte“. Aber warum ?

Ich persönlich bin der Überzeugung, dass Althussers Arbeiten nicht anders aussehen würden, hätte es Arvon nicht gegeben.

Letztlich arbeiteten Althusser und Arvon an zwei verschiedenen Problematiken:
während es Arvon wohl vor allem darum ging, wie es zur coupure gekommen ist, welche Faktoren die coupure bedingten, etc. war die coupure für Althusser bereits gegeben (anhand der Unterscheidung „früher/später Marx“), er verglich lediglich die beiden Seiten der coupure und (das ist seine Grundintention!) versucht mit Hilfe des coupure-Konzeptes alles früh-Marx’sche aus dem späten Marx zu tilgen bzw. mit einem „Zurückbleiben Marx’ hinter seiner eigenen Entwicklung“ zu erklären.

Dies hat aber mit der Frage, welchen Einfluss Stirner in Marx’ „Ideengeschichte“ hat, nicht viel zu tun, weshalb dies eben für Althusser eine Frage für „rares specialistes“ ist.

Darüberhinaus: für Althusser gibt es kein zentrales Ereignis, das die coupure bedingt hätte, sondern eine Myriade kleiner Ereignisse (petit evenements!);

das für Althusser zentralste Ereignis wäre noch am ehesten die Pariser Barrikadenkämfe zu dieser Zeit, also ein „politisches“ Ereignis, aber eben genau nicht ein „philosophisches“ Ereignis.

Weiter: warum hat ihm diesen Vorwurf in den Debatten
über
die coupure niemand gemacht (ausser Arvon, der aber,
soweit
ich sehe, damit nicht durchdrang)

Ich sehe weder eine Berechtigung, noch einen Zweck eines solchen Vorwurfes?
Vielleicht kannst Du mir da weiterhelfen.

Übrigens: (das wäre vielleicht noch am ehesten Sinn eines solchen Vorwurfes) Althussers Marx-Lektüre war Teil eines umfassenden politischen Kalküls (in erster Linie der Ent-Stalinisierung und der Bekämpfung einer „humanistischen“ Version der Entstalinisierung), in welches Arvon und Stirner wohl schwer hineingepasst hätten, zumindest nicht an die Seite Althussers.

Viele Grüße
franz

Hallo Franz,

klar ist ja auf jeden Fall, dass diese „Wirkung“ sich in Marx’
Denken vollzogen hat, Stirner für Althusser deshalb bloß ein
Anstoßgeber (neben anderen) war (für die coupure gibt
Althusser eine Vielzahl von Ursachen an!)

Ich finde, es wäre - eingedenk des Rangs der
coupure-These in A.s Werk - Genaueres am Platze gewesen als
nur eine verquälte Fussnote in einem unveröffentlichten Typoscript.

Arvon hat nicht nur in jenem Buch von 1954 speziell zu
Althussers (späterem) Thema ein Kapitel »Saint Max« geschrieben,
sondern schon vorher jenes „petit événement“ ins rechte
ideengeschichtliche Licht zu setzen versucht:
»Une polémique inconnue: Marx et Stirner«, ds. Les Temps
Modernes, no. 71, 1951, pp.509-536.
Kaum vorstellbar, dass Althusser dies nicht kannte.

Die Frage wäre, wieviel Althusser in der Frage der coupure
Arvon „schuldet“;
wie im letzten Posting bereits gesagt, nimmt Althusser das
Konzept einer coupure epistemologique von Bachelard und die
Datierung „früher Marx/später Marx“ mit dem Bruchpunkt 1845
(„Deutsche Ideologie“) ist ja auch bereits lange vor Arvon und
Althusser gegeben bzw. von Marx selbst schon gegeben.

Stimmt, der Bruchpunkt war schon immer offenkundig.
Schon Marx, vor allem aber Engels (1888: Feuerbach und der
Ausgang…) haben aber die Rolle, die Stirners Buch dabei gespielt
haben könnte, mit souveräner Beiläufigkeit heruntergespielt.
Max Adler war vielleicht der erste, dem das, noch vor Bekanntwerden
der Existenz von »Sankt Max« im Marx-Nachlass (um 189x), auffiel und
„verdächtig“ vorkam; der aber „politische“ Rücksichten nahm. Der
nächste und gründlichere Forscher war dann Arvon.
Usw. usf.
Die ganze story ist natürlich hier nicht aufzurollen.
Viel Material dazu bietet Wolfgang Essbach: Gegenzüge. 1982.

Von daher finde ich es relativ unbedeutend für das Projekt
Althussers
, dass Arvon diese coupure an Stirner bzw. an
Marx’ Stirner-Rezeption festmacht.
Ich persönlich bin der Überzeugung, dass Althussers Arbeiten
nicht anders aussehen würden, hätte es Arvon nicht gegeben.

Mag sein. Er hätte natürlich Arvons Erkenntnisse selbst gehabt haben
und darüber schweigen können.
Aber weil er Arvons Arbeiten kannte - was mir sicher zu sein scheint

  • legt sein Verhalten zu ihnen einen ähnlichen Verdacht nahe wie
    Marx/Engels’ Verhalten ggü Stirner.

Darüberhinaus: für Althusser gibt es kein zentrales Ereignis,
das die coupure bedingt hätte, sondern eine Myriade kleiner
Ereignisse (petit evenements!);

Auch wenn’s nur ein Dutzend gewesen wären: man muss ihm das ja nicht
abnehmen. Wer, wie er, die umfangreichste Auseinandersetzung, die
Marx je mit einem einzelnen Autor geführt hat (die zudem zeitlich
genau die „Bruchstelle“ markiert) ignoriert, den hätte man
„eigentlich“ dazu befragen müssen (Sloterdijk, der „frühe“, schreibt
dazu in seinem Kritikbuch, 184ff, Bedenkenswertes, kann aber mit
Stirner gar nichts anfangen und schüttelt nur den Kopf, warum Marx
den so ernst nahm).

Ich sehe weder eine Berechtigung, noch einen Zweck eines
solchen Vorwurfes?
Vielleicht kannst Du mir da weiterhelfen.

Ergibt sich aus Obigem, aus jenem „Verdacht“…
Es kann uns Heutigen, die sich aus freien Stücken und ohne dafür
bezahlt zu werden mit solchen Spezialthemen befassen, doch nicht um
die toten Autoren gehen, nicht um irgendeine Rechtfertigung,
Rehabilitation o.ä. von Marx, Stirner, Arvon, Althusser o.a., sondern
um … tja,
kurz gesagt, um ein Verständnis, wie es zu der aktuellen desolaten
Situation gekommen ist, was da schief gelaufen ist.

Grüsse
Nescio

Hallo Nescio,

Es kann uns Heutigen, die sich aus freien Stücken und ohne
dafür
bezahlt zu werden mit solchen Spezialthemen befassen, doch
nicht um
die toten Autoren gehen, nicht um irgendeine Rechtfertigung,
Rehabilitation o.ä. von Marx, Stirner, Arvon, Althusser o.a.,
sondern
um … tja,
kurz gesagt, um ein Verständnis, wie es zu der aktuellen
desolaten
Situation gekommen ist, was da schief gelaufen ist.

In dieser Grund-Frage befinden wir uns auf gleichem Boden, und in der Frage, wie ein solches „Verständnis“ (Althusser würde sagen eine „Intervention“) aussehen könnte, werden wir uns in diesem Forum bestimmt wieder über den Weg laufen.

In diesem Sinne
viele Grüße
franz