Hallo!
Das ist einfach eine andere Rechtstradition. Es ist nicht nur Fallrecht, sondern teilweise auch kodifiziert. Soweit es Gesetze gibt, sind die Gerichte daran gebunden.
Ich bin kein Spezialist im angloamerikanischen Recht, aber die Geschichte ist etwas anders verlaufen als in Kontinentaleuropa, es gibt aber auch Gemeinsamkeiten. Man muss die Sache immer an Hand der Geschichte betrachten.
Zivilrechtlich kann man die Systeme in drei Rechtskreise einteilen, den römisch - kontinentaleuropäischen, den angloamerikanischen und den sozialistischen.
Unser (Zivil-)Rechtssystem baut, wie das der anderen kontinentaleuropäischen Staaten auf dem Römischen Privatrecht auf.
Es ist nun aber nicht so, dass gerade die Tatsache, dass unser Gesetz kodifiziert ist, die Kerneigenschaft des römischen Rechtes wäre. Die großen modernen Zivilrechtskodifikationswellen, welche auf Grundlage der Kompilation des römischen Rechtes unter Kaiser Justinian (das corpus iuris civilis), fanden einmal rund um 1800 statt und dann nochmals um so 1900. Also erste Kodifikationswelle: Das österreichische ABGB (1811), der französische code civile sowie das allgemeine preußische Landrecht. Letzteres hat sich nicht bewährt, da es viel zu viele Einzelfall und Detailregelung enthielt und hat sich daher nicht durchgesetzt. Das 19. Jahrhundert ist das Zeitalter der Pandektenwissenschaft und so um die 1900 kam dann die zweite Kodifikationswelle - darunter fällt zB das deutsche BGB.
Erst seit dieser Zeit ist unser Privatrecht geschriebenes Gesetz und die Gerichte wenden geschriebenes Recht an. Vorher haben die Gerichte (und zwar seit der Wiederentdeckung des römischen Rechts) nach dem corpus iuris civilis und zwar nach den „Digesten“ judiziert. Dabei handelt es sich eigentlich um nichts anderes als um juristische Meinungen, Kurzgutachten, römischer Juristen zu bestimmten Fällen - keinesfalls ist das corpus iuris ein Gesetzbuch.
Die Einführung von Gesetzen, also insbesondere die Erkenntnis, dass die Staatsgewalt einerseits im Erlass von Gesetzen besteht und andererseits im Vollzug von Gesetzen war eine Erkenntnis des europäischen Absolutismus. Bis ins Mittelalter galt auch bei uns der Grundsatz: iurisdictio est imperium, ab Beginn der Neuzeit sind die Absolutisten draufgekommen, dass man Gesetze auch selbst machen kann, seither gilt: legislatio est imperium
Heute würde ein Präjudizialrecht würde nicht nur der Zivilrechtstradition widersprechen, sondern auch dem kontinentaleuropäischen Verfassungsverständnis. Auf den britischen Inseln und in den meisten Bundesstaaten der USA (Louisiana hat zB ein kontinentaleuropäisches römisches Rechtssystem) ist die Geschichte etwas anders verlaufen. Ich verstehe auch vieles insb. in Amerika rechtspolitisch nicht bzw. empfinde das dortige Rechtssystem manchmal als Unrecht. Kritik ist ja durchaus erlaubt und erwünscht, allerdings muss man immer den Zusammenhang von Recht, Politik und Geschichte sehen und somit muss Kritik natürlich immer mit dem entsprechenden Respekt vor dem Anders sein angebracht werden.
Gruß
Tom