Amusie

Hallo,

ich habe gerade einen Artikel über Amusie gelesen. Nun würde mich interessieren, ob neben der Unfähigkeit, Musik als solche wahrzunehmen, auch eine Unfähigkeit existiert, bildende Kunst oder Sprachkunst wertzuschätzen…?

Ich meine damit nicht, dass jemand etwa mit abstrakter Malerei nichts anfangen kann, das wäre dann wohl eher eine Geschmacksfrage; aber gibt es Menschen, denen generell ein „ästhetisches Empfinden“ abgeht, sodass sie ein Gemälde nicht anders wahrnehmen als z.B. ein Werbeplakat, und auch kein Gespür für Sprachmelodien haben?

(Ich hoffe, ich bin in diesem Brett richtig.)

Liebe Grüße

Hallo!

Keine Antwort auf Deine Frage, aber eine Gegenfrage:

… sodass sie ein Gemälde nicht
anders wahrnehmen als z.B. ein Werbeplakat, …

Worin besteht darin konkret der Unterschied? Der Werbegrafiker einerseits und der Künstler andererseits haben in beiden Fällen ihre Intuition, ihre Erfahrung und ihr Können in die Waagschale geworfen, um beim Betrachter etwas auszulösen. Klar, die Zielrichtung beim Werbeplakat ist ganz klar kommerziell. Aber der „Mechanismus“, der die bezweckte Wirkung hervorruft, ist doch in beiden Fällen gleich, oder irre ich mich?

Wenn dem so ist, dann wären Menschen, die für Kunst unempfänglich sind, auch weitgehend immun gegenüber Werbung.

Michael

Hallo,

du hast schon Recht, aber es war irgendwie schwierig, einen passenden Vergleich zu finden. In dem Artikel über Amusie hieß es, diese Menschen könnten nicht zwischen Lärm/einer beliebigen Geräuschkulisse und Musik unterscheiden, obwohl sie einwandfrei hören können. Somit könnte ein Mensch, der „kunstunempfindlich“ ist, zwar das Gemälde und das Werbeplakat gut sehen, aber beides würde in ihm eben nichts auslösen, richtig?

Übrigens denke ich, dass sich Musik und bildende Kunst generell nicht so gut mit einander vergleichen lassen. Bei der Sprache könnte ich mir noch eher vorstellen, dass es eine analoge Störung gibt - z.B., dass man einen Reim nicht als Wohlklang empfindet bzw. überhaupt nicht erkennt…?

Liebe Grüße

Hallo!

Rein Physikalisch ist es nicht so einfach, einen Unterschied zwischen Musik einer beliebigen Aneinanderreihung von Geräuschen zu unterscheiden. Meiner bescheidenen Meinung nach sind es drei Unterschiede, die die Musik auszeichnen:

  • Takt/Rhythmus: Musik ist zeitlich strukturiert. Töne, die auf den Taktschlag fallen, werden als „normal“ empfunden. Töne, die zwischen den Taktschlägen liegen, irritieren (Synkopen).
  • Harmonie: Töne, die gleichzeitig klingen, müssen in einem bestimmten Verhältnis zueinander stehen, um als „harmonisch“ empfunden zu werden. („Harmonie“ ist tatsächlich etwas, was man durch Zahlen ausdrücken kann. Es ist ein viel grundlegenderes, physikalischeres Konzept als die Ästhetik).
  • Melodie: Das ist am schwierigsten zu erklären. Töne, die aufeinander folgen, müssen einen sinnvollen Zusammenhang bilden.
    Ich gehe davon aus, dass jemand, der unter Amusie leidet, Schwierigkeiten hat, diese Strukturmerkmale zu erkennen.

Das erinnert mich an Legasthenie und Dyskalkulie. Ich bin jedoch kein Psychologe, so dass ich nicht weiß, ob die drei Dinge miteinander verwandt sind.

Ähnliche Strukturmerkmale gliedern unsere optische Wahrnehmung:

  • Symmetrie
  • Kontrast
  • Proportion

Es würde mich sehr wundern, wenn es keine psychische Störung gibt, bei der die Betroffenen Schwierigkeiten haben, Symmetrie von Assymmetrie zu unterscheiden. Es ist aber viel schwieriger, den Begriff „bildende Kunst“ zu fassen als „Musik“, denn eine Wand mit Fliesen ist noch lange kein Kunstwerk, obwohl sie wohlstrukturiert ist. (Okay, das regelmäßige Tropfen eines Wasserhahns ist auch keine Musik, aber ich glaube, es ist klar, wie es gemeint ist). Könnte man also die Amusie auf den Sehsinn übertragen, dann wäre vermutlich weit mehr davon betroffen als nur die Kunst allein.

Interessante Fragestellung …

Michael

1 Like

Hallo Pieretta,

Amusie hat nichts mit Unmusikalität zu tun, obwohl Letzteres in diesem Fall meist eine Folge des Ersterem ist. Es ist eine cerebrale Störung, d.h. ein Funktionsausfall der Gehirnregionen, die für die Wahrnehmung von Tonfolgen als Melodien und Rhythmen, und deren Erinnerung, zuständig sind.

Ein allgemeines Kunstverständnis, insbesondere der bildenen Künste, ist davon ganz unberührt.

Gruß
Metapher

Hallo,

danke für deine Antwort!

Es ist eine
cerebrale Störung, d.h. ein Funktionsausfall der
Gehirnregionen, die für die Wahrnehmung von Tonfolgen als
Melodien und Rhythmen, und deren Erinnerung, zuständig sind.

Aber bedeutet das, dass eine solche Störung auch die Wahrnehmung von Gedichten als „Sprachkunst“ erschwert? Dabei kommt es ja auch auf Rhythmus und im weiteren Sinne auch auf Melodie (im Sinne von z.B. Reim, Alliterationen etc.) an, oder?

Liebe Grüße

Aber bedeutet das, dass eine solche Störung auch die Wahrnehmung von Gedichten als „Sprachkunst“ erschwert? Dabei kommt es ja auch auf Rhythmus und im weiteren Sinne auch auf Melodie (im Sinne von z.B. Reim, Alliterationen etc.) an, oder?

Die zu diesem Begriff gehörenden Erscheinungen sind ja sehr vielfältig. Es kommt dann wohl auch darauf an, ob die Störung angeboren ist, oder in höherem Alter durch Verletzung entstand.
Wenn sich ein Kind mit dieser Störung überhaupt so weit entwickelt, daß es ohne Probleme überhaupt Sprache hören und verstehen kann, wird es zumindest die von dir genannten Elemente nicht wahrnehmen. Wie es sich verhält bei Erwachsenen, die eine cerebrale Verletzung erlitten, darüber weiß ich leider nichts. Auch bin ich so einer Störung noch nicht live begegnet.

Vielleicht weiß jemand anders hier mehr darüber. Und vielleicht kann dir auch dieser Artikel als Ausgangspunkt weiterer recherceh dienen.

Schönen Gruß zurück
Metapher

1 Like

Hallo Pieretta

Bezüglich Sprache: Prof. Manfred Spitzer äussert sich in seinem Buch „Musik im Kopf“ (*) zu Zusammenhängen zwischen Amusie und Aphasie:

„(…) Vor über hundert Jahren hat Knoblauch (1890) solche Zustände erstmals als Amusie beschrieben. Seither werden solche Zustände immer wieder beschrieben, nicht zuletzt um hieraus abzuleiten, wo im Gehrin bestimmte musikbezogene Fähigkeiten lokalisiert sind. (…) Amusien waren damit für das neurobiologische Musikverständnis das, was Aphasien für die Neurobiologie der Sprache waren. Die Patienten mit Amusie oder Aphasie sind weder stumm noch taub, haben aber bestimmte sprachliche bzw. musikbezogene Fähigkeiten verloren. Wegen der Gemeinsamkeiten und wegen der Unterschiede von Musik und Sprache lohnt es sich, vor der Betrachtung der Amusien zunächst einmal die wesentlich besser untersuchten Aphasien kennen zu lernen. Nicht nur beim Singen sind beide Systeme aktiv, überlappen sich alo zu einem gewissen Grad. Wie die Sprache besitzt auch die Musik Regeln, eine Art Grammatik, besteht in komplexen zeitlichen Mustern, hat Melodie und Rhythmus, und wird ganzheitlich wahrgenommen (wir hören nicht Frequenzen und machen dann Wörter oder Melodien daraus; wir hören Wörter und Melodien!) Andererseits ist Musik referentiell, d.h. bezieht sich nicht auf Sachverhalte in de Welt, sondern ist gleichsam sich selbst genug und spricht aus sich und für sich. Und der Fall eines Patienten, dem die gesamte linke Gehirnhälfte operatvi entfernt werden musste und der danach praktisch nicht mehr sprechen, aber durchaus noch gut singen konnte, zeigt, dass Musik und Sprache nicht identisch im Gehirn sind.“

Es folgen einige wirklich interessante Seiten, auf welchen dies alles detailliert auseinandergenommen wird. U.a. gibt es nicht einfach DIE Amusie, sondern jegliche denkbaren Apsekte von Musikwahrnehmung können auch einzeln ausfallen.

Etwas kompliziert formuliert er in der Zusammenfassung am Ende des Kapitles u.a. „Musik und Sprache überlappen sich jedoch teilweise, so dass diejenigen Fälle, in denen eine der beiden Funktionen eindeutig erhalten und die andere schwer gestört ist, seltener sind als Ausfälle beider Funktionen.“ Sprich, umgekehrt formuliert: Hirnschäden, welche sich im Bereich Musik auswirken, haben in den meisten Fällen auch im Bereich Sprache Auswirkungen.

Gruss
Qu.

PS: Sorry für allfällige Tippfehler, ich mag es so spät nachts nicht mehr durchlesen.

(*) Manfred Spitzer: Musik im Kopf. Hören, Musizieren, Verstehen und Erleben im neuronalen Netzwerk. Stuttgart 2002

Hallo,

vielen Dank und ein * dafür, das ist sehr interessant!

Liebe Grüße