An die AO-Experten (Verböserung)

Hallo Freunde des Verfahrensrechts,

mal angenommen, Fortbildungskosten wurden vom Finanzamt als Werbungskosten anerkannt und der Bescheid ergeht endgültig.
Innerhalb der Rechtsbehelfsfrist wird dann vom Steuerzahler ein Antrag auf schlichte Änderung gem. § 172 AO gestellt (also KEIN Einspruch eingelegt), um noch die Kosten für einen PC nachzuschieben.
Angenommen, das Finanzamt entspricht diesem Antrag, nimmt aber in den Änderungsbescheid nachträglich einen Vorläufigkeitsvermerk auf und begründet dies damit, daß die Fortbildungskosten noch nicht abschließend geprüft seien.

Nun die Fragen:
1)
Kann ein Finanzamt bei einem Antrag auf schlichte Änderung Punkte im Bescheid ändern, die nichts mit dem Antrag zu tun haben?
2)
Stellt ein nachträglich angebrachter Vorläufigkeitsvermerk (s.o.) eine Verböserung (Schlechterstellung) dar?
3)
Kann ein Finanzamt im Rahmen eines Antrags auf schlichte Änderung, bei dem bekanntermaßen keine Verböserung zulässig ist, nachträglich einen belastenden Vorläufigkeitsvermerk im Änderungsbescheid anbringen?
4)
Angenommen, der Steuerzahler legt wegen des nachträglichen Vorläufigkeitsvermerks Einspruch gegen den Änderungsbescheid ein. Kann ein Finanzamt dann den Fall komplett neu aufrollen und die Fortbildungskosten nach Androhung einer Verböserung streichen?

Meine Meinung:
1)
Geht nicht, der Antrag kann nur abgelehnt oder ihm kann entsprochen werden. Allenfalls kann § 176 AO gegengerechnet werden. Für alles andere fehlen die Voraussetzungen von §§ 172 ff AO.
2)
Ja, die Rechtsposition wird verschlechtert (der BFH hatte ja bereits entschieden, daß die nachträgliche Aufnahme eines Vorbehalts der Nachprüfung eine Verböserung darstellt).
3)
Ich meine nein. Hierfür fehlen die Berichtigungsvorschriften.
4)
Dürfte nicht gehen. Sonst könnte sich ein Finanzamt ja ganz einfach ein bessere Rechtsposition erschaffen, indem es einen endgültigen Bescheid unzulässigerweise ändert, um dann im folgenden Einspruch wieder bei Null (Gesamtaufrollung im Rahmen des Einspruchs) anfangen zu können.

Was meint Ihr dazu und habt Ihr ggf. Fundstellen?

Danke im voraus und schönen Gruß,
Raulito

Hi !

schließe mich den Auffassungen im Wesentlichen an.

Ja, die Rechtsposition wird verschlechtert (der BFH hatte ja
bereits entschieden, daß die nachträgliche Aufnahme eines
Vorbehalts der Nachprüfung eine Verböserung darstellt).

Dieses Urteil kenne ich zwar nicht, aber man kann ja nicht alles kennen :smile:

Dürfte nicht gehen. Sonst könnte sich ein Finanzamt ja ganz
einfach ein bessere Rechtsposition erschaffen, indem es einen
endgültigen Bescheid unzulässigerweise ändert, um dann im
folgenden Einspruch wieder bei Null (Gesamtaufrollung im
Rahmen des Einspruchs) anfangen zu können.

Es handelt sich hier um Verfahrensrecht und nach meinen Erfahrungen ist es besser, dieses nicht beim FA sondern beim FG beurteilen zu lassen.

Gegen den Bescheid dürfte das Rechtsmittel des Einspruchs statthaft sein. Dieser sollte auch eingelegt werden. Er sollte weiterhin NICHT begründet werden. In der Einspruchsentscheidung wird dann der Einspruch wegen Nichtbergündung abgelehnt. Gegen die Einspruchsentscheidung ist das Rechtsmittel der Klage gegeben.
Antrag dürfte dann wohl sein, den fehlerhaften (zweiten Bescheid) in Form der Einspruchsentscheidung aufzuheben und das Finanzamt zu verpflichten, den (ersten) Bescheid unter Berücksichtigung des Antrages auf schlichte Änderung erneut zu erlassen.

Als Volljuristen haben die Richter da sicherlich eher ein Einsehen als es bei den meisten Finanzbeamten der Fall ist. Mag zwar sein, dass man auch im AMt mal auf eine kompetente Person trifft, aber …

BARUL76

langer Weg

Gegen den Bescheid dürfte das Rechtsmittel des Einspruchs
statthaft sein. Dieser sollte auch eingelegt werden. Er sollte
weiterhin NICHT begründet werden. In der
Einspruchsentscheidung wird dann der Einspruch wegen
Nichtbergündung abgelehnt. Gegen die Einspruchsentscheidung
ist das Rechtsmittel der Klage gegeben.
Antrag dürfte dann wohl sein, den fehlerhaften (zweiten
Bescheid) in Form der Einspruchsentscheidung aufzuheben und
das Finanzamt zu verpflichten, den (ersten) Bescheid unter
Berücksichtigung des Antrages auf schlichte Änderung erneut zu
erlassen.

Das wäre über Warschau nach Wien und man müßte erstmal mehrere Hundert Euro Gerichtskosten vorstrecken. Ja, Klageerhebung vor dem FG kostet mittlerweile. Ich hätte da doch die Hoffnung, daß man im Amt auf jemanden trifft, der sich etwas auskennt. Die Frage ist ja auch, ob man sich mit dem Einspruch nicht selbst ins Knie schießt, weil das Finanzamt dies als Einladung zur Gesamtaufrollung ansieht.

Als Volljuristen haben die Richter da sicherlich eher ein
Einsehen als es bei den meisten Finanzbeamten der Fall ist.

Übrigens sitzen beim Finanzamt in den leitenden Positionen auch Volljuristen.

Danke,
Raúl

hallo raul,

habe hier nur ein paar urteils-az. habe nur die leitsätze gelesen, vielleicht findest du den volltext und es passt?

BFH, Urteil vom 15.11.1988 - II R 241/84 in BStBl. II 1989, 370

… mehr hab ich in der schnelle auch nicht.

tschöö:

showbee

schlichte Änderung
Hi,

man sollte die Hoffnung auf das Gute im Menschen und etwas Verstand bei Finanzbeamten nicht gleich sinken lassen…

Zunächst mal ist festzustellen, dass der Antrag auf schlichte Änderung nicht als Einspruch zu behandeln ist. Entsprechend ist keine Verböserung und Gesamtfallaufrollung möglich.

Aber bei der Änderung nach § 172 AO können die §§ 177, 351 AO zu einer Gegenrechnung in der Höhe der Änderung führen.

Das Finanzamt hat sich sehr ungeschickt angestellt. Entweder hätte sie auf den § 177 AO verweisen müssen oder eleganter gleich dieses Zusatzthema ermitteln und entscheiden sollen.

Es sollte jetzt ein Einspruch gegen den Änderungsbescheid eingelegt werden, der sich gegen die Aufnahme des § 165 Vermerk wendet und zwar weil es eine unzulässige Verböserung ist. Kommen die nicht auf § 177 AO würde ich im zweiten Schreiben darauf hinweisen.

Ergebnis: In Höhe der Berichtigung nach § 172 AO kann gegengerechnet werden, wenn dies materiell-rechtlich begründet ist, so dass sich im schlechtesten Fall die ursprünglich festgesetzte Steuer ergibt.

Fundstellen dazu: AO Handbuch vor § 172 (S.277) sowie zu § 172 TZ Nr 2 = nur soweit änderbar, wie beantragt, jedoch Gegenrechnung § 172

Viel Erfolg
C.

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Hallo Cirwalda,

Aber bei der Änderung nach § 172 AO können die §§ 177, 351 AO
zu einer Gegenrechnung in der Höhe der Änderung führen.

Hast Du eine Idee, wie man einen Vorläufigkeitsvermerk, hinter dem noch kein konkreter Betrag steht, gem. § 177 AO gegenrechnet?

Das Finanzamt hat sich sehr ungeschickt angestellt. Entweder
hätte sie auf den § 177 AO verweisen müssen

„SIE“???

Es sollte jetzt ein Einspruch gegen den Änderungsbescheid
eingelegt werden, der sich gegen die Aufnahme des § 165
Vermerk wendet

Hat das Finanzamt nach Einlegung des Einspruchs nicht wieder die Möglichkeit, den Fall neu aufzurollen? § 351 AO („soweit die Änderung reicht“) gilt doch nur für den Steuerzahler.

und zwar weil es eine unzulässige Verböserung ist.

Hast Du Fundstellen, woraus hervorgeht, daß der nachträgliche Vorläufigkeitsvermerk als verbösernder Umstand angesehen wird? Zum VdN hat der BFH ja solches bestätigt.

Ergebnis: In Höhe der Berichtigung nach § 172 AO kann
gegengerechnet werden, wenn dies materiell-rechtlich begründet
ist, so dass sich im schlechtesten Fall die ursprünglich
festgesetzte Steuer ergibt.

Wenn ich Dich richtig verstehe, muß es sich dann aber um eine konkrete Änderung mit Betrag und nicht lediglich um einen Vorläufigkeitsvermerk handeln, oder?

Viel Erfolg

Schaun mer mal.

Vielen Dank und schöne Grüße,
Raulito

Hallo,

Aber bei der Änderung nach § 172 AO können die §§ 177, 351 AO
zu einer Gegenrechnung in der Höhe der Änderung führen.

Hast Du eine Idee, wie man einen Vorläufigkeitsvermerk, hinter
dem noch kein konkreter Betrag steht, gem. § 177 AO
gegenrechnet?

Formulierungsvorschlag: Dieser Bescheid ergeht hinsichtlich … vorläufig nach § 165 AO, soweit die Änderung in diesem Bescheid reicht (§ 177 AO).
Aber anwenden würde ich das nicht, sondern lieber die Entscheidung über den Änderungsantrag verzögern bis beides klar ist.

Das Finanzamt hat sich sehr ungeschickt angestellt. Entweder
hätte sie auf den § 177 AO verweisen müssen

„SIE“???

:wink: Schreibfehler: entweder hätten sie auf den (so ein Bescheid wird in der Regel von mehreren, also Sachbearbeiter und Sachgebietsleiter gefertigt, an die dachte ich)

Es sollte jetzt ein Einspruch gegen den Änderungsbescheid
eingelegt werden, der sich gegen die Aufnahme des § 165
Vermerk wendet

Hat das Finanzamt nach Einlegung des Einspruchs nicht wieder
die Möglichkeit, den Fall neu aufzurollen? § 351 AO („soweit
die Änderung reicht“) gilt doch nur für den Steuerzahler.

Der erste Bescheid ist formell und materiell bestandskräftig geworden. Er ist nur noch änderbar bezüglich des Antrags auf Änderung nach § 172 AO. Die formelle Bestandskraft tritt ein, wenn der erste Bescheid nicht mit Einspruch angefochten wird. Die materielle Bestandskraft sagt, dass das Finanzamt mit dem Inhalt des Bescheids leben muss, den sie verschickt hat und nur noch mit dem Korrekturrecht ändern kann. Das gilt ab Bekanntgabe des Bescheids, nicht erst einen Monat später. Deshalb auch die Spielchen mit Infobrief, das der Bescheid nicht gewollt ist, aber über Zentralversand verschickt wird.

und zwar weil es eine unzulässige Verböserung ist.

Hast Du Fundstellen, woraus hervorgeht, daß der nachträgliche
Vorläufigkeitsvermerk als verbösernder Umstand angesehen wird?
Zum VdN hat der BFH ja solches bestätigt.

Erstens ist das analog zu diesem Urteil. Zweitens müsste ich mal suchen, ob es explizit ein Urteil zu § 165 gibt (frühestens Montag) und dann entspricht es auch der Logik: der Bescheid ist erheblich schlechter als ohne Vorläufigkeit, also liegt Beschwer vor. Schlichte Änderung geht nur soweit der Antrag geht (Ausnahme Gegenrechnung).

Ergebnis: In Höhe der Berichtigung nach § 172 AO kann
gegengerechnet werden, wenn dies materiell-rechtlich begründet
ist, so dass sich im schlechtesten Fall die ursprünglich
festgesetzte Steuer ergibt.

Wenn ich Dich richtig verstehe, muß es sich dann aber um eine
konkrete Änderung mit Betrag und nicht lediglich um einen
Vorläufigkeitsvermerk handeln, oder?

Das Finanzamt kann die volle Höhe verweigern, m.E. auch mit Vorläufigkeitsvermerk.
Beispiel: es soll ein Vorläufigkeitsvermerk aufgenommen werden, da der Ausgang eines Zivilrechtsstreits abgewartet werden soll. Sowas würde ich mit obiger Formulierung als vorläufig erklärbar halten.

Es besteht aber keine Gefahr, dass das Finanzamt eine höhere Steuer als im ersten Bescheid festsetzen kann, solange sie keine andere Korrekturvorschrift findet, da materielle Bestandskraft eingetreten ist.

So long
Cirwalda

Hallo,

noch eine Nachfrage.

Der erste Bescheid ist formell und materiell bestandskräftig
geworden. Er ist nur noch änderbar bezüglich des Antrags auf
Änderung nach § 172 AO. Die formelle Bestandskraft tritt ein,
wenn der erste Bescheid nicht mit Einspruch angefochten wird.
Die materielle Bestandskraft sagt, dass das Finanzamt mit dem
Inhalt des Bescheids leben muss, den sie verschickt hat und
nur noch mit dem Korrekturrecht ändern kann.

Ich habe weder in der AO noch im Anwendungserlaß eine Regelung gefunden, die besagt, daß das Finanzamt bei Einlegung eines Einspruchs nur beim Erstbescheid eine Gesamtaufrollung vornehmen darf und bei Änderungsbescheiden nur „soweit die Änderung reicht“. M.E. kann das Finanzamt auch beim 10. Berichtigungsbescheid noch eine Gesamtaufrollung vornehmen und Verböserung androhen, da es ja immer nur auf den Tenor (die festgesetzte Steuer) und nicht auf die einzelnen Besteuerungsgrundlagen ankommt.

Mit welcher Rechtsvorschrift begründest Du, daß das Finanzamt bei einem einmal rechtskräftig gewordenen Bescheid keine Gesamtaufrollung mehr vornehmen darf, wenn ein späterer Berichtigungsbescheid angefochten wird?

Gruß,
Raúl

Hallo,

zunächst ein Nachtrag
Tippke/Kruse definiert Verböserung als jegliche Änderung zum Nachteil (zu § 367 TZ 23) und Klein Orlopp verweist auf BStBl 75 II 592 sowie EFG 89 S. 352 und EFG 92 S.644

noch eine Nachfrage.

Der erste Bescheid ist formell und materiell bestandskräftig
geworden. Er ist nur noch änderbar bezüglich des Antrags auf
Änderung nach § 172 AO. Die formelle Bestandskraft tritt ein,
wenn der erste Bescheid nicht mit Einspruch angefochten wird.
Die materielle Bestandskraft sagt, dass das Finanzamt mit dem
Inhalt des Bescheids leben muss, den sie verschickt hat und
nur noch mit dem Korrekturrecht ändern kann.

Ich habe weder in der AO noch im Anwendungserlaß eine Regelung
gefunden, die besagt, daß das Finanzamt bei Einlegung eines
Einspruchs nur beim Erstbescheid eine Gesamtaufrollung
vornehmen darf und bei Änderungsbescheiden nur „soweit die
Änderung reicht“. M.E. kann das Finanzamt auch beim 10.
Berichtigungsbescheid noch eine Gesamtaufrollung vornehmen und
Verböserung androhen, da es ja immer nur auf den Tenor (die
festgesetzte Steuer) und nicht auf die einzelnen
Besteuerungsgrundlagen ankommt.

Mit welcher Rechtsvorschrift begründest Du, daß das Finanzamt
bei einem einmal rechtskräftig gewordenen Bescheid keine
Gesamtaufrollung mehr vornehmen darf, wenn ein späterer
Berichtigungsbescheid angefochten wird?

mit § 351 Abs. 1 AO
http://www.steuernetz.de/gesetze/ao04/p351.html

Man muss zwei Fallkonstellationen sauber trennen:

  1. Legt jemand einen Einspruch ein, dann wird der Fall in vollem Umfang geprüft. Eine Verböserung ist nach ausdrücklichem Verböserungshinweis möglich. Ergeht z.B. nach einem Einspruch ein Teilabhilfebescheid oder ein Verböserungsbescheid und dieser wird wieder mit Einspruch angefochten, so haben wir eine Kette von Bescheid + Einspruch, so dass der zweite Bescheid wieder in vollem Umfang überprüft werden kann. (In der Praxis wird die Verböserung meist gleich mit der Einspruchsentscheidung verbunden. Zwingend ist dies aber nicht.)

2.Etwas ganz anderen liegt vor, sobald ein Bescheid nicht mit Einspruch angefochten wurde und dadurch formell bestandskräftig wurde. Wird dieser dann geändert, so wird ein unanfechtbarer Bescheid geändert und § 351 Abs. 1 bestimmt, dass nur soweit die Änderung reicht, angefochten werden kann. Thematisch ist das Finanzamt tatsächlich nicht gebunden, aber der Höhe nach.

Man muss also immer die Kette von Bescheiden dahingehend untersuchen, ob einer bestandskräftig geworden ist. Mit einem Zeitdiagramm auf einer Linie mit allen Daten, die hintereinander passiert sind, merkt man es am besten.

  1. Im Ausgangsfall wurde kein Einspruch eingelegt, so dass der Bescheid bestandkräftig wurde. Die Änderung aufgrund des Antrags erfolgt nach § 172 Abs. 1 Nr. 2a AO und ändert einen unanfechtbaren Bescheid, somit prüfe ich § 351 bzw. gleich den gleichwirkenden § 177 AO.

  2. Sobald der Bescheid bekanntgegeben ist, kann das Finanzamt den Bescheid nur noch über das Korrekturrecht ändern, da es selbst keinen Einspruch einlegen kann. Das meinte ich mit materieller Bestandkraft.

Viele Grüße
C.

Hallo,

vielen Dank erst einmal fürs Nachschlagen und die Fundstelle. Muß aber trotzdem nochmal nachhaken.

2.Etwas ganz anderen liegt vor, sobald ein Bescheid nicht mit
Einspruch angefochten wurde und dadurch formell
bestandskräftig wurde. Wird dieser dann geändert, so wird ein
unanfechtbarer Bescheid geändert und § 351 Abs. 1 bestimmt,
dass nur soweit die Änderung reicht, angefochten werden kann.

Richtig, der Bescheid kann nur insoweit ANGEFOCHTEN werden. Somit gilt diese Regelung nur für den Steuerzahler, da das Finanzamt ja nicht anfechten kann. Deshalb frage ich mich, in welcher Rechtsvorschrift Du die Beschränkung des Finanzamts siehst, bei einem bestandskräftigen Bescheid KEINE Gesamtaufrollung mehr durchführen zu dürfen.
Für das Finanzamt gilt kein „soweit die Änderung reicht“ aus § 351 AO. Natürlich kann das Finanzamt ohne besondere Berichtigungsvorschrift den Bescheid nicht ändern aber es könnte m.E. auch bei einem Einspruch gegen einen Berichtigungsbescheid, der einen bestandskräftigen Bescheid ändert, eine Verböserung androhen, die vom Steuerbetrag her über den bestandskräftigen Erstbescheid hinausgeht. Dies verneinst Du und verweist nur auf § 351 AO, der aber nicht ans Finanzamt sondern an den Steuerzahler gerichtet ist. Wenn § 351 AO sich nur an den Steuerzahler richtet, wie dann das Finanzamt von einer Gesamtaufrollung abhalten? Wenn der Steuerzahler der Verböserung zustimmt, wird die materielle Bestandskraft durch § 172 AO durchbrochen.
Nun könnte man sagen, der Verböserung halt nicht zustimmen und den Einspruch zurücknehmen. Aber das hilft ja nix, weil dann der eigene Änderungsantrag auch für die Katz ist. Daher die ursprüngliche Frage, ob man so einen Änderungsbescheid nicht besser mit einem schlichten Änderungsantrag angreift, um die Gesamtaufrollung zu vermeiden.

Was meinst Du?

Gruß,
Raúl

Hallo,

vielen Dank erst einmal fürs Nachschlagen und die Fundstelle.

gern geschehen

Muß aber trotzdem nochmal nachhaken.

kein Problem
Dazu eine Grundsatzfrage: Kannst du AO Kommentare wie Klein-Orlopp oder Tippke Kruse einsehen bzw. hat du aus der grünen Reihe des Erich Fleischer Verlag den Band AO? Das würde es erheblich erleichtern, denn es handelt sich um Grundlagengeschichten.

es geht um § 351 Abs. 1 AO, der wie folgt lautet:
Verwaltungsakte, die unanfechtbare Verwaltungsakte ändern, können nur insoweit angegriffen werden, als die Änderung reicht, es sei denn, dass sich aus den Vorschriften über die Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten etwas anderes ergibt.

Richtig, der Bescheid kann nur insoweit ANGEFOCHTEN
werden. Somit gilt diese Regelung nur für den Steuerzahler, da
das Finanzamt ja nicht anfechten kann.

Das wirkt schon auch indirekt.

Also einige Beispiele:

  1. Der 1. Bescheid lautet über 6.000 € Einkommensteuer. Er wird nicht mit Einspruch angegriffen.

  2. Das Finanzamt erhält eine Kontrollmitteilung, dass er z.B. Zinsen nicht erklärt hat und erhöht die Steuer um 2.000 € auf 8.000 € (Korrektur als neue Tatsache § 173 AO). Der Steuerpflichtige legt Einspruch ein. Er kann dann höchstens erreichen, dass der erste Steuerbescheid (der Höhe nach) wieder in Kraft gesetzt wird.

Wir haben hier einen Einspruch, eine Gesamtaufrollung ist aber sinnlos. 3 Varianten: Bei der Gesamtfallaufrollung ergibt sich, dass insgesamt eine Steuer von 9.000 € richtig wäre. Dann bleibt es bei der Festsetzung i.H.v. 8.000 - es sei denn für die 1.000 gibt es eine Korrekturvorschrift.
Oder es ergibt sich, dass nur 7.000 richtig wäre - dann ist das eine Teilabhilfe, die durchgeführt wird.
Oder es ergibt sich, dass nur 5000 richtig wäre. Dann kann höchstens die durchgeführte Änderung rückgängig gemacht werden, so dass 6000 festzusetzen sind.
Nur bei der ersten Variante wäre es die befürchtete „Gesamtfallaufrollung“ und die führt zu keiner Änderung, wenn dafür nicht eine separate Änderungsvorschrift eingreift.
Das alles ist Auswirkung der materiellen Bestandskraft und dass da nichts mehr geändert werden kann - außer mit den Korrekturvorschriften.

Natürlich kann das Finanzamt ohne besondere
Berichtigungsvorschrift den Bescheid nicht ändern aber es
könnte m.E. auch bei einem Einspruch gegen einen
Berichtigungsbescheid, der einen bestandskräftigen Bescheid
ändert, eine Verböserung androhen, die vom Steuerbetrag her
über den bestandskräftigen Erstbescheid hinausgeht.

Schau mal bei § 172 AO mit folgendem Text:
Ein Steuerbescheid darf, soweit er nicht vorläufig oder unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangen ist, nur aufgehoben oder geändert werden,
und § 367 Abs. 2 AO mit folgendem Text:
Die Finanzbehörde, die über den Einspruch entscheidet, hat die Sache in vollem Umfang erneut zu prüfen. Der Verwaltungsakt kann auch zum Nachteil des Einspruchsführers geändert werden, wenn dieser auf die Möglichkeit einer verbösernden Entscheidung unter Angabe von Gründen hingewiesen und ihm Gelegenheit gegeben worden ist, sich hierzu zu äußern

Bei einem Einspruch gegen den Erstbescheid ist dieser in vollem Umfang änderbar und das Finanzamt braucht nicht das Korrekturrecht zu bemühen, um die angedrohte Verböserung durchzuführen. Ist der erste Bescheid nicht angefochten worden, geht es um die Änderung eines unanfechtbaren Bescheids und die Finanzbehörde muss das Korrekturrecht beachten. § 367 Abs. 2 AO ist keine eigenständige Korrekturvorschrift oder eine Anleitung zur „Rache“, wenn Einspruch eingelegt wurde :wink:

Wenn §
351 AO sich nur an den Steuerzahler richtet, wie dann das
Finanzamt von einer Gesamtaufrollung abhalten?

gut, du hast recht, eine Gesamtaufrollung ist möglich, nur die Verböserung ist dann nicht durchführbar (siehe Variante 1)

Wenn der
Steuerzahler der Verböserung zustimmt, wird die materielle
Bestandskraft durch § 172 AO durchbrochen.

so viel Verstand wird er doch haben, nicht zuzustimmen

Nun könnte man sagen, der Verböserung halt nicht zustimmen und
den Einspruch zurücknehmen. Aber das hilft ja nix, weil dann
der eigene Änderungsantrag auch für die Katz ist.

Verböserungsandrohung bei Erstbescheid => dann kann man diese durch Rücknahme des Einspruchs verhindert, aber Vorsicht: liegen die Voraussetzungen nach einer Korrekturvorschrift vor, darf das Finanzamt trotzdem die Änderung durchführen, man hat mit der Rücknahme des Einspruchs nichts gewonnen. Ein fairer Sachbearbeiter weist in der Verböserungserläuterung darauf hin, dass er auf jeden Fall ändert, da eine Korrekturvorschrift eingreift.

weil dann
der eigene Änderungsantrag auch für die Katz ist.

Änderungsanträge im klassischen Sinne ist nicht das Begehren im Einspruchsverfahren, sondern ein Antrag einen bestandskräftigen Bescheid übers Korrekturrecht zu ändern.

Daher die
ursprüngliche Frage, ob man so einen Änderungsbescheid nicht
besser mit einem schlichten Änderungsantrag angreift, um die
Gesamtaufrollung zu vermeiden.

nee, grundsätzlich ist ein Einspruch zu empfehlen, aber Ausnahmen bestätigen auch hier die Regel

Du siehst, ich betrachte die AO als ein Steckenpferd…und scharfe Waffe…

Viele Grüße
C.

N’Abend,

danke für Deine umfangreichen Erläuterungen. Ja, ich habe Zugriff auf die von Dir zitierte Literatur und die Wirkung von § 351 AO ist mir bewußt. In meinem Posting liegt der Fall halt nicht so, daß der Steuerzahler den Bescheid anficht und durch § 351 AO eingeschränkt wird, sondern daß verhindert werden soll, daß das Finanzamt über den Steuerbetrag der Erstbescheids (durch Gesamtaufrollung) hinausgeht bzw. den Änderungsantrag (Einspruch) durch eine Verböserungsandrohung zunichte macht.

Bei einem Einspruch gegen den Erstbescheid ist dieser in
vollem Umfang änderbar und das Finanzamt braucht nicht das
Korrekturrecht zu bemühen, um die angedrohte Verböserung
durchzuführen.

Hmmm…einer Änderungsvorschrift (§ 172 AO) bedarf es da aber auch, da ja schließlich der Erstbescheid geändert werden soll.

Wenn der
Steuerzahler der Verböserung zustimmt, wird die materielle
Bestandskraft durch § 172 AO durchbrochen.

so viel Verstand wird er doch haben, nicht zuzustimmen

Manchmal bleibt ihm ja nichts anderes, um seinen ursprünglichen Antrag durch zu bekommen. Sonst ist der wegen Einspruchsrücknahme platt.

Du siehst, ich betrachte die AO als ein Steckenpferd…und
scharfe Waffe…

Wenn sie vom Finanzamt nicht richtig angewandt wird, ist sie ein Fluch und Dschungel mit viel Schreibaufwand. Wenn das Finanzamt schon im Rahmen eines schlichten Änderungsantrags eine Verböserung (zudem ohne Androhung!) unterjubelt, dann bin ich mir ziemlich sicher, sind die wenig überzeugt, wenn man auf Grundsätze des Verfahrensrecht (materielle Bestandskraft) hinweist, ohne eine konkrete Fundstelle zu nennen. Dann ist wieder Papierkram fällig, um denen die materielle Bestandskraft nahe zu bringen. Das will ich vermeiden.

Daher zweifele ich nicht an Deiner Rechtsauffassung sondern suche etwas Handfestes, das das Amt auch schnell schluckt. Deshalb war mir daran gelegen, eine Fundstelle zu haben, in der wortwörtlich steht, daß ein bestandskräftiger Bescheid nicht durch eine Verböserung ausgehebelt werden kann. Dem Amt mit Grundsätzen des Verfahrensrechts zu kommen, führt nach meinen Erfahrungen nicht zu einem kurzfristigen Erfolg, insbesondere nicht beim gemeinen Sachbearbeiter, der Verfahrensrecht nur noch vage aus der Ausbildung kennt.
Hast Du bei Tipke/Kruse und Konsorten so etwas geschrieben gelesen, daß die materielle Bestandskraft von einer Erböserung unberührt bleibt oder ist das Deine persönliche Schlußfolgerung aus dem System des Verfahrensrechts?

Danke nochmal und schönen Gruß,
Raúl