Analyse eines Briefes von Büchner

Büchner schrieb 1835 einen Brief an seine Familie, in dem er sich zu den Aufgaben und Pflichten eines Dichters äußert.
Er hat Dantons Tod demnach als Geschichtsdrama geschrieben und wollte die Menschen in die Realität versetzen ohne zu idealisieren.

Doch in wie weit kann ich diesen Brief mit Dantons Tod oder mit Schiller, der idealisierte und eine Botschaft vermitteln wollte, in Verbindung setzen?

Es wäre nett, wenn mir dazu jemand was sagen könnte.

Dann noch eine Frage zu der Argumentationsstruktur:
Meiner Meinung nach ist sie dialektisch aufgebaut, stimmt das?

An die Familie

Straßburg, 28. Juli 1835.
[…] Über mein Drama muß ich einige Worte sagen: erst muß ich bemerken, daß die Erlaubnis, einige Änderungen machen zu dürfen, allzusehr benutzt worden ist. Fast auf jeder Seite weggelassen, zugesetzt, und fast immer auf die dem Ganzen nachteiligste Weise. Manchmal ist der Sinn ganz entstellt oder ganz und gar weg, und fast platter Unsinn steht an der Stelle. Außerdem wimmelt das Buch von den abscheulichsten Druckfehlern. Man hatte mir keinen Korrekturbogen zugeschickt. Der Titel ist abgeschmackt, und mein Name steht darauf, was ich ausdrücklich verboten hatte; er steht außerdem nicht auf dem Titel meines Manuskripts. Außerdem hat mir der Korrektor einige Gemeinheiten in den Mund gelegt, die ich in meinem Leben nicht gesagt haben würde. Gutzkows glänzende Kritiken habe ich gelesen und zu meiner Freude dabei bemerkt, daß ich keine Anlagen zur Eitelkeit habe. Was übrigens die sogenannte Unsittlichkeit meines Buchs angeht, so habe ich Folgendes zu antworten: der Dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein Geschichtsschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar, statt eine trockene Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit hinein versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu kommen. Sein Buch darf weder sittlicher noch unsittlicher sein, als die Geschichte selbst; aber die Geschichte ist vom lieben Herrgott nicht zu einer Lektüre für junge Frauenzimmer geschaffen worden, und da ist es mir auch nicht übel zu nehmen, wenn mein Drama ebensowenig dazu geeignet ist. Ich kann doch aus meinem Danton und den Banditen der Revolution nicht Tugendhelden machen! Wenn ich ihre Liederlichkeit schildern wollte, so mußte ich sie eben liederlich sein, wenn ich ihre Gottlosigkeit zeigen wollte, so mußte ich sie eben wie Atheisten sprechen lassen. Wenn einige unanständige Ausdrücke vorkommen, so denke man an die weltbekannte, obszöne Sprache der damaligen Zeit, wozu das, was ich meine Leute sagen lasse, nur ein schwacher Abriß ist. Man könnte mir nur noch vorwerfen, daß ich einen solchen Stoff gewählt hätte. Aber der Entwurf ist längst widerlegt. Wollte man ihn gelten lassen, so müßten die größten Meisterwerke der Poesie verworfen werden.]

Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindert und schafft Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute mögen dann darus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum vorgeht. Wenn man so wollte, dürfte man keine Geschichte studieren, weil sehr viele unmoralische Dinge darin erzählt werden, müßte mit verbundenen Augen über die Gasse gehen, weil man sonst Unanständigkeiten sehen könnte, und müßte über einen Gott Zeter schreien, der eine Welt erschaffen, worauf so viele Liederlichkeiten vorfallen. Wenn man mir übrigens noch sagen wollte, der Dichter müsse die Welt nicht zeigen wie sie ist, sondern wie sie sein solle, so antworte ich, daß ich es nicht besser machen will, als der liebe Gott, der die Welt gewiß gemacht hat, wie sie sein soll.

[Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt. Mit einem Wort, ich halte viel auf Goethe oder Shakespeare, aber sehr wenig auf Schiller. Daß übrigens noch die ungünstigsten Kritiken erscheinen werden, versteht sich von selbst; denn die Regierungen müssen doch durch ihre bezahlten Schreiber beweisen lassen, daß ihre Gegner Dummköpfe oder unsittliche Menschen sind. Ich halte übrigens mein Werk keineswegs für vollkommen, und werde jede wahrhaft ästhetische Kritik mit Dank annehmen. - Habt ihr von dem gewaltigen Blitzstrahl gehört, der vor einigen Tagen das Münster getroffen hat? Nie habe ich einen solchen Feuerglanz gesehen und einen solchen Schlag gehört, ich war einige Augenblicke wie betäubt. Der Schade ist der größte seit Wächtersgedenken. Die Steine wurden mit ungeheurer Gewalt zerschmettert und weit weg geschleudert; auf hundert Schritt im Umkreis wurden die Dächer der benachbarten Häuser von den herabfallenden Steinen durchgeschlagen. - Es sind wieder drei Flüchtlinge hier eingetroffen. Nievergelder ist darunter; es sind in Gießen neuerdings zwei Studenten verhaftet worden. Ich bin äußerst vorsichtig. Wir wissen hier von Niemand, der auf der Grenze verhaftet worden sei. Die Geschichte muß ein Märchen sein. […]

Hallo birko

Doch in wie weit kann ich diesen Brief mit Dantons Tod oder
mit Schiller, der idealisierte und eine Botschaft vermitteln
wollte, in Verbindung setzen?

nun, in diesem Brief umreisst Büchner das Programm, das ‚Dantons Tod‘ zugrunde liegt und setzt sich gleichzeitig von dem ‚Übervater‘ (was das historische Drama angeht) Schiller deutlich ab. Vgl. insbesondere diese Passagen:

der Dramatische Dichter ist in meinen Augen nichts, als ein
Geschichtsschreiber, steht aber über Letzterem dadurch, daß er uns
die Geschichte zum zweiten Mal erschafft und uns gleich unmittelbar,
statt eine trockene Erzählung zu geben, in das Leben einer Zeit
hinein versetzt, uns statt Charakteristiken Charaktere, und statt
Beschreibungen Gestalten gibt. Seine höchste Aufgabe ist, der
Geschichte, wie sie sich wirklich begeben, so nahe als möglich zu
kommen.

[…]

Der Dichter ist kein Lehrer der Moral, er erfindert und schafft
Gestalten, er macht vergangene Zeiten wieder aufleben, und die Leute
mögen dann darus lernen, so gut, wie aus dem Studium der Geschichte
und der Beobachtung dessen, was im menschlichen Leben um sie herum
vorgeht

[…]

Was noch die sogenannten Idealdichter anbetrifft, so finde ich, daß
sie fast nichts als Marionetten mit himmelblauen Nasen und
affektiertem Pathos, aber nicht Menschen von Fleisch und Blut gegeben
haben, deren Leid und Freude mich mitempfinden macht, und deren Tun
und Handeln mir Abscheu oder Bewunderung einflößt.

mit diesen fast willkürlich herausgegriffenen Passagen aus Schillers programmatischer Rede ‚Die Schaubühne als eine moralische Anstalt betrachtet‘ (deren Pathos und heute reichlich übertrieben anmutet):

„Die Gerichtsbarkeit der Bühne fängt an, wo das Gebiet der weltlichen Gerichte sich endigt. Wenn die Gerechtigkeit für Gold verblindet und im Solde der Laster schwelgt, wenn die Frevel der Mächtigen ihrer Ohnmacht spotten und Menschenfurcht den Arm der Obrigkeit bindet, übernimmt die Schaubühne Schwert und Wage und reißt die Laster vor einen schrecklichen Richterstuhl. Das ganze Reich der Phantasie und Geschichte, Vergangenheit und Zukunft stehen ihrem Wink zu Gebot. Kühne Verbrecher, die längst schon im Staub vermodern, werden durch den allmächtigen Ruf der Dichtkunst jetzt vorgeladen und wiederholen zum schauervollen Unterricht der Nachwelt ein schändliches Leben. Ohnmächtig, gleich den Schatten in einem Hohlspiegel, wandeln die Schrecken ihres Jahrhunderts vor unsern Augen vorbei, und mit wollüstigem Entsetzen verfluchen wir ihr Gedächtniß. Wenn keine Moral mehr gelehrt wird, keine Religion mehr Glauben findet, wenn kein Gesetz mehr vorhanden ist, wird uns Medea noch anschauern, wenn sie die Treppen des Palastes herunter wankt und der Kindermord jetzt geschehen ist. Heilsame Schauer werden die Menschheit ergreifen, und in der Stille wird jeder sein gutes Gewissen preisen, wenn Lady Macbeth, eine schreckliche Nachtwandlerin, ihre Hände wäscht und alle Wohlgerüche Arabiens herbeiruft, den häßlichen Mordgeruch zu vertilgen. So gewiß sichtbare Darstellung mächtiger wirkt, als todter Buchstabe und kalte Erzählung, so gewiß wirkt die Schaubühne tiefer und dauernder als Moral und Gesetze.
[…]
Die Schaubühne ist der gemeinschaftliche Kanal, in welchen von dem denkenden, bessern Theile des Volks das Licht der Weisheit herunterströmt und von da aus in milderen Strahlen durch den ganzen Staat sich verbreitet. Richtigere Begriffe, geläuterte Grundsätze, reinere Gefühle fließen von hier durch alle Adern des Volks; der Nebel der Barbarei, des finstern Aberglaubens verschwindet, die Nacht weicht dem siegenden Licht.“

Natürlich will auch Büchner „eine Botschaft vermitteln“, doch er wählt dazu andere Mittel. Sein ‚Danton‘ ist - modern ausgedrückt - ein ‚Dokudrama‘, sein Anliegen ist das ‚Lernen aus der Geschichte‘. Für Schiller als Dramatiker (er war ja auch Historiker) ist das Historische hingegen nur Stoff, den er bewusst frei gestaltet. Nach dramatischen Kriterien, nicht nach Kriterien historischer Genauigkeit. Sein Anliegen ist nicht, zu schildern ‚wie es war‘, das geschichtliche Geschehen auf der Bühne zu vergegenwärtigen, sondern wirklich ‚klassisch‘ im Sinne von Aristoteles’ Poetik:

„Die Tragödie ist Nachahmung einer guten und in sich geschlossenen Handlung von bestimmter Größe, in anziehend geformter Sprache, wobei diese formenden Mittel in den einzelnen Abschnitten je verschieden angewandt werden. Nachahmung von Handelnden und nicht durch Bericht, die Mitleid und Furcht hervorruft und hierdurch eine Reinigung von derartigen Erregungszuständen bewirkt.“

(Anmerkung „Mitleid und Furcht“ ist nicht ganz korrekt übersetzt, aber wohl die Lesart, auf die Schiller sich stützte)

Der geschichtliche Vorwurf lieferte Schiller also den passenden Rahmen für die „Handlung von bestimmter Größe“, für das Genie des Dichters, das das Publikum aufrühren und moralisch bessern sollte. Wobei allein die ‚Größe der Handlung‘ für Schiller auch eine wichtige Inspirationsquelle war, ein kreativer Anreiz. Büchner war da bescheidener - er wollte das Publikum nicht bessern, sondern belehren und strebte daher Realitätsnähe an, verweigerte sich idealischer Überhöhung. Ob das Publikum daraus moralische Lehren ziehen wollte, sollte ihm selbst überlassen bleiben.

Freundliche Grüße,
Ralf