Anfängerfrage: Hermeneutik und Empirik

Hallo Zusammen,

nachdem ich meine Klausur zum Thema „Methodik und Praxis wissenschaflicher Arbeit“ gerade erfolgreich in den Sand gesetzt habe, will ich doch noch mal ein paar Fragen zu dem Thema stellen (ich weiß, ich hätte vorher fragen sollen… :smile:.

  1. In meiner Klausur lautete eine der Fragen: „Beschreiben Sie Empirische und Hermeneutische Methoden, erklären Sie kurz die Unterschiede und geben Sie ein selbst erdachtes Beispiel“.
    Obwohl ich inzwischen Zeit hatte, über die Frage in Ruhe nachzudenken, weiß ich nicht, wie die Antwort hätte lauten können. Empirik (Empirie?) und Hermeneutik sind doch Methoden?!? Was wären dann hermeneutische Methoden? Mir kommt das so vor, als würde man mich fragen, welche Torten man aus Schwarzwälder-Kirsch-Torte machen kann.

  2. Im meinem Script wird Hermeneutik als „… die Methode des Auslegens und Deutens von Dokumenten, Schriften, Sprach- und Kunstwerken; …“ beschrieben. Desweiteren brächte Hermeneutik „Durch Deduktion (also durch Herleiten) gewonnene Erkenntnisse.
    Ich verstehe nicht, warum Hermeneutik deduktiv sein soll. Wenn der Ausgangspunkt z.B. Dokumente sind, geht man dann nicht von einem Einzelfall aus und zieht darüber hinausgehende Schlüsse?

Ratlose Grüße
Yasmin

Hallo Yasmin,

Was wären dann hermeneutische Methoden?

hermeneutische Methoden gehen von Bedeutungen von Begriffen aus, während empirische Methoden eben den Erfahrungsaspekt höher bewerten. Bei den einen richtet sich im Konfliktfall alles nach den Absichten, bei den anderen nach den Ergebnissen - einfach gesagt.

Ich verstehe nicht, warum Hermeneutik deduktiv sein soll. Wenn
der Ausgangspunkt z.B. Dokumente sind, geht man dann nicht von
einem Einzelfall aus und zieht darüber hinausgehende Schlüsse?

Eben. Deduktiv bedeutet „vom Allgemeinen zum Besonderen“. Wenn die empirischen Ergebnisse den Dokumenten widersprechen, neigt der Hermeneutiker dazu, die empirischen Ergebnisse für falsch zu halten.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo Thomas,

hermeneutische Methoden gehen von Bedeutungen von Begriffen
aus, während empirische Methoden eben den Erfahrungsaspekt
höher bewerten. Bei den einen richtet sich im Konfliktfall
alles nach den Absichten, bei den anderen nach den Ergebnissen

  • einfach gesagt.

Das stellt mir die gleiche Frage mit anderen Worten. Was wäre eine hermeneutische Methode? Könnte eine empirische Methode vielleicht ein qualitatives Interview sein?

Ich verstehe nicht, warum Hermeneutik deduktiv sein soll.

Eben. Deduktiv bedeutet „vom Allgemeinen zum Besonderen“. Wenn
die empirischen Ergebnisse den Dokumenten widersprechen, neigt
der Hermeneutiker dazu, die empirischen Ergebnisse für falsch
zu halten.

Das verstehe ich ehrlich gesagt nicht ganz. Der Hermeneutiker zieht nicht allgemeinen Schlüsse aus dem Besonderen, sondern setzt es in Relation zum Allgemeinen? Ist der Ausgangspunkt nicht trotzdem das Besondere und das Vorgehen daher induktiv?

Schöne Grüße
Yasmin *immernochgrübelnd*

Hallo Yasmin,

Das stellt mir die gleiche Frage mit anderen Worten.

ein Beispiel: Wenn man etwa die Wirksamkeit der Psychoanalyse prüfen will, also nachschauen möchte, ob die Psychoanalyse die Ursache für die Heilung des Patienten ist, dann würde etwa im Falle eines therapeutischen Misserfolges der Empiriker sagen, dass dieser Misserfolg ein Indiz dafür ist, dass die Methode generell nicht funktioniert, wohingegen der Hermeneutiker eher geneigt sein würde, zu fragen, ob nicht vielleicht die angewendete Methodik zwar generell wirksam sei, hier in diesem Fall aber versagt hat, weil die Umstände das nicht zuließen, also weil vielleicht der Patient zuviel schon über Psychoanalyse gelesen hat oder weil der Therapeut nicht richtig gearbeitet hat.

Könnte eine empirische Methode
vielleicht ein qualitatives Interview sein?

Nein, eher nicht, denn qualitative Methoden sind eher im hermeneutischen Umfeld zu finden, wohingegen empirische Methoden häufig quantitativ vorgehen.

Das verstehe ich ehrlich gesagt nicht ganz. Der Hermeneutiker
zieht nicht allgemeinen Schlüsse aus dem Besonderen, sondern
setzt es in Relation zum Allgemeinen? Ist der Ausgangspunkt
nicht trotzdem das Besondere und das Vorgehen daher induktiv?

Im Falle des obigen Beispiels ist es so, dass der Hermeneutiker sagen würde, dass die allgemeine Wirksamkeit der Methode in diesem besonderen Fall nicht zur Geltung gekommen sei, weil die Nebenbedingungen die Wirksamkeit nicht zuließen, die Methode selbst aber allgemein schon wirksam sei. Die allgemeine Wirksamkeit wird also nicht in Frage gestellt. Der Empiriker hingegen schaut sich an, wieviele Fälle geklappt haben und wieviele nicht, und sagt dann, dass die Häufigkeit der Wirksamkeit ein Indiz für die generelle oder eben fehlende Wirksamkeit ist. Er schließt also von den besonderen Einzelfällen auf die allgemeine Wirksamkeit bzw. allgemein fehlende Wirksamkeit. Der Hermeneutiker hingegen stellt die allgemeine Wirksamkeit nicht in Frage, sondern sucht nach Gründen, die sie in den Einzelfällen verhindert haben.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

2 Like

Hallo Yasmin,

Empirik (Empirie?) und Hermeneutik sind doch
Methoden?!?

empirische Forschung und Hermeneutik sind Forschungsparadigmen, innerhalb derer man sich verschiedener Methoden bedienen kann.

Was wären dann hermeneutische Methoden?

Forschungsmethoden innerhalb des hermeneutischen Paradigmas. Hermeneutischen Methoden sind qualitative Forschungsmethoden, aber nicht alle qualitativen Methoden sind hermeneutische Methoden. Hermeneutische Methoden stellen sozusagen eine Teilmenge der qualitativen Methoden dar.

Ein Lesetipp dazu:

http://www.tu-dresden.de/phfikw/semapp/ws03.v.do/v11…

Hier werden auf 12 Seiten qualitative Forschungsmethoden und auch hermeneutische angesprochen.

Außerdem kannst Du zu einzelnen qualitativen Forschungsmethoden einiges im Buch von Bortz und Döring (Forschungsmethoden und Evaluation) lesen.

Mir kommt
das so vor, als würde man mich fragen, welche Torten man aus
Schwarzwälder-Kirsch-Torte machen kann.

Eher geht die Frage dahin, welche Backwerkzeuge es in der Konditorei „Empirie“ und der Konditorei „Hermeneutik“ gibt. In der Hermeneutik kann man z.B. zwischen Objektiver Hermeneutik und Sozialwissenschaftlicher Hermeneutik unterscheiden, die unterschiedliche Ziele verfolgen und unterschiedliche Vorgehensweisen verwenden.

Ich verstehe nicht, warum Hermeneutik deduktiv sein soll. Wenn
der Ausgangspunkt z.B. Dokumente sind, geht man dann nicht von
einem Einzelfall aus und zieht darüber hinausgehende Schlüsse?

Ja, die Hermeneutik geht vom einzelnen Fall aus und betreibt Fallanalysen. Aus diesen können dann - nach hermeneutischer Auffassung - weitergehende Schlußfolgerungen gezogen werden. „Deduktiv“ arbeitet sie in dem Sinn, daß beim Herangehen explizit oder implizit eine theoretische Sichtweise besteht und angewendet wird. Psychoanalytiker z.B. benutzen beim Deuten von literarischen Texten in der Regel ihre psychoanalytische Theorie und deuten die Texte vor diesem Hintergrund. Ein Paradebeispiel für psychoanalytische Textinterpretation ist Freuds Analyse von Jensens „Gradiva“ (Freud, S. Der Wahn und die Träume in W. Jensens Gradiva).

Beste Grüße,

Oliver Walter

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Doppelt gerne Hermeneutiker!
Hallo Yasmin, hallo Thomas
Offenbar bin ich eher Hermeneutiker :smile:
Wenn wir wissen, wie ein Großteil der Statistiken und empirischen Ergebnisse zustandekommen, dann bin ich DOPPELT gern Hermeneutiker!
Gruss, Branden

Hermeneutiker UND Empiriker!
Habs mir nochmal überlegt: In meinem Beruf ist beides etwa gleichermaßen wichtig. Einserseits lernen wir am Einzelfall, an der langen Beschäftigung mit einem Patienten viel, andererseits auch durch den Vergelich, weil wir doch bestimmte Symptome immer wieder mit bestimmten Persönlichkeitsentwicklungen vergesellschaftet finden.
Es wäre also -im Fall der Psychoanalyse- eine künstliche Trennung, die nicht der Wirklichkeit entspräche. Beides geht Hand in Hand, Empirie und Hermeneutik.
Gruss, Branden

Hallo Branden,

Es wäre also -im Fall der Psychoanalyse- eine künstliche
Trennung, die nicht der Wirklichkeit entspräche. Beides geht
Hand in Hand, Empirie und Hermeneutik.

ja, das sehe ich auch so, aber das ist bei methodischen Einstufungen eigentlich immer der Fall, denn methodische Begriffe trennen immer einen Gesichtspunkt von der Realität ab, abstrahieren also.

Es ist immer die Frage, welchen Gesichtspunkt man unter welcher Absicht bevorzugt. Und jede Sichtweise hat ihre Grenze in der gegensätzlichen.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Da sind wir uns einig :smile: owT
!

Hoi,

allgemeine Wirksamkeit wird also nicht in Frage gestellt. Der
Empiriker hingegen schaut sich an, wieviele Fälle geklappt
haben und wieviele nicht, und sagt dann, dass die Häufigkeit
der Wirksamkeit ein Indiz für die generelle oder eben fehlende
Wirksamkeit ist. Er schließt also von den besonderen
Einzelfällen auf die allgemeine Wirksamkeit bzw. allgemein
fehlende Wirksamkeit. Der Hermeneutiker hingegen stellt die
Thomas Miller

Ich verstehe deine Schlussfolgerung hier nicht wirklich, wenn ein Empiriker von einer Häufigkeit von Ereignissen auf die Wirksamkeit schliesst, schliesst er doch vom Allgemeinen auf das Einzelne und nicht, wie du sagst umgekehrt, oder habe ich hier etwas missverstanden ?

cu Ado-

Hallo,

wenn ein Empiriker von einer Häufigkeit von Ereignissen auf die
Wirksamkeit schliesst, schliesst er doch vom Allgemeinen auf
das Einzelne und nicht, wie du sagst umgekehrt,

Empiriker neigen dazu, die Fülle der einzelnen Ergebnisse für die Allgemeinheit zu halten. Das ist aber nicht der Fall, denn die einzelnen Ergebnisse sind eben zunächst einmal einzelne (!) Ergebnisse, also besondere. Von diesen besonderen Ergebnissen wird auf ein allgemeines Ergebnis geschlossen, in der Statistik etwa von der repräsentativen Stichprobe auf die Gesamtheit.

Herzliche Grüße

Thomas Miller

Hallo,

Ich verstehe deine Schlussfolgerung hier nicht wirklich, wenn
ein Empiriker von einer Häufigkeit von Ereignissen auf die
Wirksamkeit schliesst, schliesst er doch vom Allgemeinen auf
das Einzelne und nicht, wie du sagst umgekehrt, oder habe ich
hier etwas missverstanden ?

wir Empiriker schließen von Verhältnissen in einer Stichprobe, die sich aus lauter Einzelfällen zusammensetzt, auf die Verhältnisse in der Population. Das nennt man Inferenzstatistik, weil eine Schlußfolgerung aufgrund einer beobachteten Teilmenge auf die Gesamtmenge mit dem Hinweis auf Wahrscheinlichkeiten vorgenommen wird. Die Wahrscheinlichkeit, daß die Schlußfolgerung nicht zutrifft, nennt man Irrtumswahrscheinlichkeit. Das Signifikanzniveau legt fest, wie groß die Irrtumswahrscheinlichkeit maximal sein darf, damit eine Inferenz gemacht werden kann. Konventionell verwendet man Signifikanzniveaus von 5% und 1%.

Das heißt: Wenn ich mich für die mittleren Unterschiede von Jungen und Mädchen in der Mathematikleistung interessiere und ich einen Mittelwertsunterschied in der Stichprobe finde, in der ich Leistungswerte gemessen habe, dann gehe ich nur dann von einem Unterschied in der mittleren Mathematikleistung in der Population aus, wenn die Wahrscheinlichkeit, daß ich mich irre, wenn ich einen Unterschied annehme, aber in Wirklichkeit keiner vorhanden ist, maximal 5% oder 1% beträgt.

Das Problem, das es mit diesem Verfahren gibt, ist die Anwendung inferenzstatistisch gewonnener Befunde auf den Einzelfall. Manche meinen, daß die Aussagen über die Population (die Gesamtgruppe) für die einzelne Person nicht zutreffen und daß der Rückschluß von den Verhältnissen in der Population auf die Verhältnisse im Einzelfall nicht zulässig ist. Diese Position ist nicht vollkommen abwegig, sie ist jedoch sehr einseitig, wenn man sie so herausstellt, wie es von manchen getan wird. Selbst wenn man unzulässigerweise unter Statistik nur das von mir beschriebene Verfahren verstünde und z.B. die auch statistisch arbeitende Individualdiagnostik und Einzelfallforschung ignorieren würde, ist die Position, wie sie hier im Forum von bestimmter Seite verfochten wird, nicht haltbar.

Grüße,

Oliver Walter

3 Like

Ich möchte klarstellen …
Hallo Oliver,

Manche meinen, daß die Aussagen über die
Population (die Gesamtgruppe) für die einzelne Person nicht
zutreffen und daß der Rückschluß von den Verhältnissen in der
Population auf die Verhältnisse im Einzelfall nicht zulässig
ist. Diese Position ist nicht vollkommen abwegig, sie ist
jedoch sehr einseitig, wenn man sie so herausstellt, wie es
von manchen getan wird.

ich möchte zur Erklärung hinzufügen, dass du vermutlich mich hier meinst, aber gleichzeitig klarstellen, dass ich mich falsch verstanden fühle. Insbesondere was du hier schreibst:

Selbst wenn man unzulässigerweise
unter Statistik nur das von mir beschriebene Verfahren
verstünde und z.B. die auch statistisch arbeitende
Individualdiagnostik und Einzelfallforschung ignorieren würde,
ist die Position, wie sie hier im Forum von bestimmter Seite
verfochten wird, nicht haltbar.

scheint mir richtig zu sein und daher nicht auf meine Position zuzutreffen. Ich finde es eigentlich nett, dass du mich schonen möchtest, indem du mich hier nicht nennst, aber das tut der Sache nicht gut, glaube ich. Insbesondere möchte ich betonen, dass ich nie Individualdiagnostik und Einzelfallforschung ignoriert, sondern vielmehr gerade gefordert habe.

Ich möchte daher noch einmal deutlich sagen, dass ich Statistik als Methode keineswegs ablehne, sondern dass ich nur meine, dass es bestimmte axiologische Konsensvorstellungen (Werte) geben kann, die in solche Statistiken auch unbewusst hineingeraten können, indem sie vorausgesetzt bzw. nicht rechtzeitig herausgefiltert werden. Solche Fehler können sich - meiner Überzeugung nach - auch durch mehrere Untersuchungen hindurch fortpflanzen, insbesondere bei gesellschaftspolitisch (ich weiß, dass dir dieser Begriff nicht gefällt, aber ich habe keinen besseren) sensiblen Themen.

Daher glaube ich Aussagen, die aufgrund von Statistiken in solchen sensiblen Bereichen gemacht werden, auch wenn sie mehrfach vorliegen nur dann, wenn ich sie soweit möglich selbst auf ihre Stichhaltigkeit überprüft habe und überzeugend finde. Ich weiß, dass du das für naiv hältst, und damit muss ich wohl leben.

Herzliche (mit dem Wunsch nach Versöhnung verbundene) Grüße

Thomas Miller