Anklage bei Notwehr?

Hallo,

fern sei es von mir aus einem Roman rechtswissenschaftliche Grundsätze ableiten zu wollen.
Aber nach der Lektüre von Donna Leons „Schöner Schein“ hätte ich mal eine Frage.

[spoiler - wer den Roman nicht kennt und ihn eventuell noch lesen möchte, sollte hier aufhören]

Eine Frau erschiesst in [angeblicher] Notwehr einen Mann. Der Kommissar ist Zeuge. Man hat Verständnis für die Frau, allerdings ist die Sachlage der akuten Notwehr zumindest zweifelhaft.

Es wird von seiten der Questura ein Bericht so verfasst, dass gegen die Frau keine Anklage erhoben wird. Die Polizei sieht die Lage der Notwehr als gegeben und damit kommt es nicht zu einem Prozess.

Ich kann mir das in Deutschland nicht vorstellen. Erst im Prozess kann doch entschieden werden, ob Notwehr gegeben war bzw. ob die Notwehr angemessen war. (In diesem Fall: die Frau schiesst aus nächster Nähe zweimal auf den angeblichen Angreifer, der die Hand zum Schlag erhoben hat, und als er auf dem Boden liegt und zumindest schwer verletzt ist, wenn nicht schon tot, schießt sie ihm noch einmal ins Gesicht - laut Aussage ihres Mannes, der gar nciht anwesend war, soll das Opfer versucht haben, sie am Knöchel zu packen.) Aber selbst bei einer eindeutigeren Notwehrsituation muss es doch in Deutschland zwingend zu einem Prozess kommen. - Sehe ich das richtig?

Die zweite Frage betrifft das italienische Recht, falls sich damit jemand auskennen sollte. Ist es dort möglich, dass bei einem Todesfall durch Schussverletzung überhaupt kein Prozess stattfinden muss? Ist die Staatsanwaltschaft so frei in ihren Aktionen, dass sie das selbstständig entscheiden können?

Wie gesagt, es ist eine Frage, die sich aus einem Roman ergibt. Wie weit die Autorin sich tatsächlich in der italienischen Strafverfolgung und Gerichtsbarkeit auskennt, kann ich nicht beurteilen.

Grüße
Siboniwe

Ich kann leider nicht mehr editieren.

Eigentlich ist die Frage viel kürzer zu stellen:

Muss in Deutschland (bzw. Italien, das ist die 2. Frage) bei einem Fall von Notwehr zwingend Anklage erhoben werden und ein Gericht die Entscheidung treffen, ob die Notwehr gerechtfertigt und verhältnismäßig war, oder kann eine Staatsanwaltschaft selbstständig entscheiden, dass keine Anklage erhoben wird. Ganz generell und speziell bei einer Notwehr „mit Todesfolge“.

Danke.
Grüße
Siboniwe

Für Deutschland ist die Sache ganz einfach zu beantworten: Die Staatsanwaltschaft ist Herrin des Verfahrens. D.h. sie alleine entscheidet, ob sie eine Sache an das Gericht mit Antrag auf Eröffnung des Hauptverfahrens abgibt oder nicht. Und wenn für die StA die Sache eindeutig ist, dann war es dass (es sei denn, es kommt das Opfer oder dessen Rechtsnachfolger daher, und nutzt alle gegebenen Rechtsmittel hier doch noch zur Anklageerhebung zu kommen, Stichworte: Ermittlungs- und Klageerzwingungsverfahren).

BTW: Im Ermittlungsverfahren wird die Polizei als Hilfsorgan der StA tätig, hat insoweit also keine eigenen Kompetenzen. Insoweit immer etwas befremdlich, wenn sich die Polizei in einer Art und Weise äußert, als habe sie hier final etwas zu bestimmen oder zu entscheiden.

In der Praxis ist es so, dass die Möglichkeiten der StA weit über das ja/nein einer Anklageerhebung hinaus gehen. So werden ganz viele einfache und kleine Verfahren in Deutschland durch Strafbefehle der StA mit nur rein formaler Einschaltung des Gerichts erledigt, oder die StA nutzt Einstellungsmöglichkeiten in Verbindung mit Auflagen, …

Das passiert ja regelmässig bei Schüssen von Polizisten wo grundsätzlich seitens der StA gegen die Beamten ermittelt wird, denn es kann ja nicht automatisch „Polizist schiesst = Notwehr“ gelten. Kommt die StA zu dem Schluss dass es Notwehr/Nothilfe war stellt sie das Verfahren ein und es gibt auch keine Anklage. Siehe hier. Das passiert dann auch bei Privatpersonen.

Aber es gibt auch den anderen Fall wo die StA Anklage erhebt und der Richter anders entscheidet: http://www.faz.net/aktuell/gesellschaft/kriminalitaet/freispruch-im-prozess-um-leiche-in-hamburger-lokal-14414305.html

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Danke für eure Antworten. Strafbefehle etc. kenne ich natürlich, ich hatte nur nicht gedacht, dass das soweit geht, dass ein Todesfall so behandelt werden kann (natürlich nicht mit Strafbefehl, sondern mit Nicht-Klageerhebung).

Natürlich ist das im geschilderten Fall schon irgendwie seltsam, weil die Sache zwar moralisch nachvollziehbar, aber juristisch meiner Meinung nicht eindeutig ist. Aber deswegen ist es ja auch ein Roman.

Viele Grüße
Siboniwe

Mal aus der Praxis: Immer wenn im Totenschein keine eindeutige Todesursache angegeben werden kann (ungeklärt), bzw. es sich um eine „nicht natürliche“ Todesursache handelt sind Polizei und Staatsanwaltschaft im Rahmen eines Todesermittlungsverfahrens einzuschalten. D.h. es landen ganz viele Todesfälle bei der Staatsanwaltschaft. Diese ist dann dafür zuständig festzustellen, ob es Anzeichen für ein Fremdverschulden gibt, welches dann ggf. zu einem Verfahren gegen den noch zu findenden Täter führen könnte. Gibt es diese Anhaltspunkte nicht, wird die Leiche freigegeben, und alles nimmt seinen normalen Gang.

Da die Sache so einfach natürlich oft nicht ist, kommt dann in vielen Fällen die große Stunde der Gerichtsmedizin. Sieht auch diese keinen Anlass für ein Fremdverschulden, wird das Verfahren dann ebenfalls eingestellt, und nimmt die Sache ihren normalen Lauf. Nur wenn ein hinreichender Verdacht auf Fremdverschulden besteht, begibt man sich auf die Suche nach einem potentiellen Täter, gegen denn dann weiter ermittelt wird. Aber auch dabei kann eben herauskommen, dass es da zwar eine Ursächlichkeit für den Tod gibt, diese aber eben gerade nicht strafrechtlich relevant sein muss. D.h. von den ganz vielen Fällen der Todesermittlung führt nur ein Bruchteil zu einem gerichtlichen Strafverfahren.

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Ja klar, aber bei einem nicht nur sprichwörtlich „rauchenden Colt“ … :smile:

Die Autorin hat da aber die Leser vielleicht ganz bewusst auf diese Fährte gelockt - denn ein Thema, das diesen Roman durchzieht, ist die Korruption des italienischen Staates bzw. seiner verschiedenen Ausführungsorgane. So dass man am Ende abwägen muss, ob die Vertuschung von Brunetti (denn das ist es zumindest teilweise) aus nachvollziehbaren Motiven und die größere Vertuschung Pattas (aus angreifbareren Motiven) vergleichbar mit Vertuschung und Einflussnahmen auf höherer Ebene ist. Als Romanthema ist das gelungen - allerdings fände ich es schlecht geschrieben, wenn diese Möglichkeit der Einflussnahme im realen Leben nicht existieren würde. Was du ja widerlegt hast, somit bin ich - als Leserin - zufrieden. Als reale Person bleibt natürlich der nagende Zweifel, dass wir eben nicht alle gleich sind und Gerechtigkeit nicht für alle zu erreichen ist.

Grüße
Siboniwe