Anstandslos <---- beanstandungslos

Mich interessiert, wie es sprachhistorisch zu einer Bedeutungsverschiebung und Wortneuschöpfung wie der oben genannten kommt und ob es dafür einen Fachbegriff gibt.

Wenn man sagt, jemand habe etwas anstandslos gemacht, ist ja damit nicht gemeint, jemand habe etwas unanständigerweise gemacht, sondern ohne Beanstandungen (an der Aufforderung zu der Handlung).

Ja doch eine bemerkenswerte Ungenauigkeit !

Ich vermute, dies kommt irgendwie aus einer Art Untertanensprache, weil diese Sprachkonstruktion, wenn man es sich genau anschaut, folgendes beinhaltet:

  1. Jemand wird zu etwas (möglicherweise) Unanständigem aufgefordert. 2. Er wagt es nicht, zu meutern, und führt es aus, ohne Beanstandungen zu erheben. 3. Das war doppelt unanständig, denn etwas Unanständiges wurde ausgeführt, und der Ausführende war auch unanständig gegen sich selbst. 4. Wie können entsprechende Bauchschmerzen und Zweifel in der Befehlskette verringert oder sogar eliminiert werden ? 5. Die Sache wurde „anstandslos“ ausgeführt = zwar ohne Anstand, aber auch ohne Beanstandungen; durch kreuzweise Bedeutungsverschiebung wird der unangenehme Teil des Vorganges ausgeblendet, indem er ausgesprochen wird und gleichzeitig ein anderer Inhalt hineinprojiziert wird.

Ich findet es eigentlich allerhand, dass sich soetwas in der Sprache halten kann.

Torsten

Hallo, Torsten,
ich stehe nicht an, zu versuchen, Dir Deine Frage zu beantworten.
Anstehen - ist zunächst nichts unanständiges, nur wenn wir alle anstehen, wäre es sehr unanständig, sich vorzudrängeln.
Es ist einfach eine vielleicht etwas altertümliche Wortform, aber es ist ja nicht so ungewöhnlich, dass ein Wort im Laufe der Zeit einen gewissen Bedeutungswandel durchmacht, oder es üblich wird, ein Wort nur noch in einer bestimmten (Teil-)Bedeutung anzuwenden.
Aber wenn Du das Wort anstehen mit Anstand verwendest, wird das niemand beanstanden :smile:

Grüße
Eckard.

anstandslos - gut! beanstandungslos - bitte nicht!
Lieber Torsten,

an deinen Ausführungen ist zu beanstanden, dass du bei der Analyse der Wörter nicht genau genug geguckt hast.

Darum hier die drei, wie sie vom Großen Duden definiert werden:

_an|stands|los [zu älter Anstandÿ= Einwand, Aufschub; vgl. Anstand ( 2 )]: ohne weiteres; ohne Schwierigkeiten zu machen: etw. a. bezahlen, anerkennen, umtauschen.

be|an|stan|den, (österr. auch:smile: be|an|stän|den [zu veraltet Anstand( 2 )= Einwand, Aufschub]: als mangelhaft, als nicht annehmbar bezeichnen [u. zurückweisen, nicht akzeptieren]: eine Rechnung, eine Ware b.; der TÜV hat die Bremsen beanstandet; ich habe an ihrer Arbeit nichts zu b. (zu tadeln, zu kritisieren); der Kunde hat beanstandet, dass die Ware nicht ordnungsgemäß verpackt war.

An|stand, der; -[e]s, Anstände [mhd. anstand = Waffenstillstand; Aufschub, zu: an(e)stan = zum Stehen kommen; sich gehören; 2 : zu älter Anstand = Einwand, Aufschub]:

  1. gute Sitte, schickliches Benehmen: A. haben; keinen A. besitzen; das erfordert der A., ist gegen allen A.; etw. mit A. hinter sich bringen.
  2. (südd., österr.) Schwierigkeit, Ärger: Anstände bei der Zollkontrolle; es hat keinen A. gegeben; *[keinen] A. an etw. nehmen ([keinen] Anstoß nehmen, sich [nicht] an etw. stoßen): die Nachbarn haben an dem nächtlichen Lärm A. genommen.
  3. (Jägerspr.) Ansitz (1).

© Duden - Deutsches Universalwörterbuch 2001_

Aus deinen Ausführungen entnehme ich, dass du die unterschiedliche Bedeutung von Anstand 1 und 2 nicht berücksichtigst und Anstand nur als den allgemein akzeptierten und anerkannten und geforderten, sittlich korrekten Verhaltensregeln entsprechend kennst und die zweite, zugegebenermaßen schon veraltende und, glaubt man dem Duden, fast nur noch in Süddeutschland allgemein bekannte Bedeutung unterschlägst.

Wenn ich etwas anstandslos oder beanstandungslos

– zu diesem Wort ist zu bemerken, dass es im Großen Duden nicht angeführt ist, was darauf deutet, dass es sich hierbei um eine regionale oder milieuspezifische, vielleicht gar individuelle Formbildung handelt; um eine dieser unnötig aufbauschenden Wortschöpfungen, mit denen manche „Schön“- und Vielschreiber und typische Schreibtischtäter in Ämtern und Behörden glauben, die deutsche Sprache beglücken zu müssen,

  • tue, so ist an die zweite Bedeutung: Einwand, Widerstand zu denken. Und da sollte man sich davor hüten, die Bedeutung von Anstand 1 dem Anstand 2 unterzuschieben.

Beide Wörter bestehen selbstständig nebeneinander und habe ihre eigene Genese.

Der Anstand 1 im sittlich-moralischen Sinn hat sich aus der ganz konkreten Bedeutung: „das steht dir gut an“ in der Bedeutung, „das (Kleidungsstück) steht dir gut, passt dir gut“ entwickelt, indem man es auch auf menschliche Verhaltensweisen übertragen hat.

Anstand 2 als Einwand, Widerstand hat sich aus dem Verb „anstehen“ in der Bedeutung „zum Stehen kommen, warten, zögern“ entwickelt.

Vielleicht helfen diese Erklärungen, dein Unbehagen an den von dir beanstandeten „Ungenauigkeiten“ der deutschen Sprache zu lindern.

Gruß Fritz

Also, ich weigere mich strikt, den großen oder kleinen Duden als letzte Autorität in Sachen Sprachdiskussion anzuerkennen. Dort ist ja nur aufgelistet, was üblich ist und die Duden-Redaktion passiert hat.

Außerdem ist das Phänomen der Sprachmanipulation garantiert älter als der älteste Duden. Es ist durchaus möglich, daß sich ein und dasselbe Wort in verschiedenen Regionen zunächst mit unterschiedlichen Bedeutungen gebildet und sich eine Bedeutungsüberlagerung erst später daraus ergeben hat.

Ich würde das Problem der Bedeutungsüberlagerung nicht unterschätzen, denn die Sprache stellt ja sozialkybernetisch gesehen sozusagen ein wichtiges Koordinierungsprogramm dar.

Durch Sprachverschiebung können andere Realitäten geschaffen werden. Wirklich schlimm, wenn es dafür kein Bewußtsein gibt ! Auf die Anforderungen der heutigen Zeit bezogen, meines Erachtens ein ebenso großes Problem wie einst der Analphabetismus. Bestimmt haben sich damals viele Analphabeten gar nicht als solche gefühlt, weil sie in ihrer Realität eingeschlossen waren, und dennoch hat der Analphabetismus ihre Situation sehr stark bestimmt. Daß die Doppeldeutigkeit bei „anstandslos“ nicht unbedingt das treffendste Beispiel ist, gestehe ich zu.

Ein gutes Beispiel, wie ein Wort die Realität verändert, ist m.E. das Wort „flirten“. Es saugt Bedeutungen und Situationsverständnis aus zwei Richtungen ab: 1. Es ist kaum noch möglich, sich mit einem Vertreter des anderen Geschlechts einfach nur nett zu unterhalten, oder ihm mal zuzublinzeln. Nein - da hat man schon geflirtet, also fast schon gebalzt. Das kann unter Umständen mächtig Ärger geben ! 2. Wenn man sich in der entsprechenden Position befindet, kann man es sich leisten, übel herumzubalzen. Halb so schlimm, denn wer hat schon ernstlich etwas gegen einen kleinen Flirt ?

Torsten

beanstandungslos - bitte nicht!

Also, ich weigere mich strikt, den großen oder kleinen Duden
als letzte Autorität in Sachen Sprachdiskussion anzuerkennen.
Dort ist ja nur aufgelistet, was üblich ist und die
Duden-Redaktion passiert hat.

Nun, lieber Torsten,

auch ich halte den Duden nicht für eine Bibel. Ich vertraue ihm aber doch weithin. Und was ich da zitiert habe, habe ich auch in zwei Etymologiewörterbüchern nachgesehen.

Außerdem ist das Phänomen der Sprachmanipulation garantiert
älter als der älteste Duden. Es ist durchaus möglich, daß sich
ein und dasselbe Wort in verschiedenen Regionen zunächst mit
unterschiedlichen Bedeutungen gebildet und sich eine
Bedeutungsüberlagerung erst später daraus ergeben hat.

Das mag sein, wenn du aber damit „beanstandungslos“ für die deutsche Sprache „retten“ willst, so suche dies Wort in einem Wörterbuch.
Ich tats bisher vergebens.

Fritz